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XXI.
Zur Psychologie der Strafanzeige.

Von Staatsanwalt Dr.  Haldy in Altona.

Folgender der Praxis entnommene Fall mag dartun, mit welcher Vorsicht zuweilen Beschuldigungen aufgenommen werden müssen, auch wenn sie von gebildeten und anscheinend völlig zuverlässigen Anzeigenden erhoben werden.

Vor etwa sieben Jahren fahren mehrere Herren mit dem Nachtzug von der benachbarten Großstadt nach ihrem gemeinsamen Wohnort X. zurück. Ein Staatsanwalt, ein Rechtsanwalt, ein Brauereidirektor. Zu ihnen ins Abteil steigt ein Pfarrer, der bald in die angeregte Unterhaltung verwickelt wird. »Denken Sie sich, meine Herren,« – so erzählt plötzlich der Pfarrer – »was mir vor vierzehn Tagen in diesem Nachtzug passiert ist! Da ist in meiner Gegenwart Päderastie getrieben worden.« Und nun schildert er, ein verheirateter Mann in Amt und Würden und in den besten Jahren, wie sich der Vorfall im einzelnen zugetragen habe.

Er sei vor vierzehn Tagen mit demselben Nachtzug von der Großstadt nach seinem Heimatort zurückgefahren. In sein Abteil sei ein Mann gestiegen, anscheinend ein »Arbeiter« und nach ihm ein anderer, anscheinend ein »jüdischer Herr«. (Das Äußere beider wurde genau beschrieben.) Er selbst habe langausgestreckt gelegen und zu schlafen versucht. Nach kurzer Zeit habe der eine der beiden Hinzugekommenen, der »Arbeiter«, den Sitz des Abteils mehr herausgeschoben, dann hätten die beiden den Kragen abgelegt. Der »Arbeiter« habe sich die Hosen herabgelassen, das Hemd hinaufgezogen und mit nach oben gerichtetem entblößten Hinterteil auf den Sitz gelegt, wobei er den andern gefragt habe: »Na, wie wär's denn? Es wird gehen, vielleicht schon bis T. (die nächste Zwischenstation). Legen Sie sich nicht auch hin?« Der andere, der »jüdische Herr«, habe darauf geantwortet: »Noch nicht, vielleicht später.« Bald darauf sei die Lampe verdunkelt worden und er (der Pfarrer) habe alsdann, trotzdem er sich umgedreht habe, um nichts zu sehen, wahrgenommen, daß sich der »jüdische Herr« zu dem »Arbeiter« gelegt und, wie er aus dem Geräusch deutlich gemerkt habe, mit diesem Päderastie getrieben habe. Er habe auf diesem beischlafsähnliche Bewegungen gemacht. Es sei auch ein »Quieken« zu hören gewesen.

In X. seien beide ausgestiegen; er habe noch gesehen, wie der »jüdische Herr« dem »Arbeiter« ein Geldstück, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Zehnmarkstück, in die Hand gedrückt habe.

Die anwesenden Herren äußerten eine gewisse Verwunderung, warum er (der Pfarrer) denn nicht das anstößige Treiben verhindert oder sich doch wenigstens durch das Klosett in das Nebenabteil begeben habe. Der Pfarrer entgegnete, es sei kein Klosett im Abteil gewesen, im übrigen werde man doch nicht an seinen Worten zweifeln, er sei Pfarrer!

Nach der Beschreibung hatten die Herren in dem »jüdischen Herrn« sofort einen in X. domizilierten Referendar jüdischer Rasse erkannt, Z., der zufällig an jenem Abend gleichfalls in der Großstadt in den Zug eingestiegen war. Der Rechtsanwalt äußerte, eine solche Sache müsse verfolgt werden, worauf der Pfarrer meinte, der Staatsanwalt möge von seiner Mitteilung jeden Gebrauch machen, was er gesagt, sei Wort für Wort wahr. Als dann der Staatsanwalt zu erkennen gab, er werde die Sache wohl verfolgen müssen, äußerte der Pfarrer noch, damit wäre ihm sehr gedient.

Mittlerweile lief der Zug in X. ein. Die Herren zeigten dem Pfarrer den bewußten Referendar, der aus einem anderen Abteil ausstieg, worauf der Pfarrer ihn bestimmt als den einen der beiden Täter rekognoszierte und hinzufügte: »Ich leiste tausend Eide, das ist der Mann, der das in meiner Gegenwart verübt hat!« Die Herren stiegen aus, der Pfarrer fuhr weiter. –

Am andern Tage wurde gegen den beschuldigten Referendar Z. ein Verfahren wegen § 175 StGBs. eingeleitet.

Der Pfarrer sagte nunmehr als Zeuge vor dem Richter aus:

»... Ich hatte mich auf das Polster gelegt mit dem Kopf nach dem Eingang und den Füßen nach dem Abort. Da stiegen in ... zwei Passagiere ein. (Der Zeuge beschrieb sie genau, wie früher.) Als die beiden einstiegen, zog der kleinere, weniger gut gekleidete die blauen Vorhänge vor der Lampe zu. Er zog die Hälfte des andern Polsters aus und zwar diejenige gegenüber der Aborttür und sagte: »Wird's hier gehen? Es wird wohl gehen.« Er nahm den Kragen ab und legte sich auf die Seite auf das Polster und zwar so, daß er die Kniee stark anzog und, wie mir schien, auf der ausgezogenen Seite des Polsters blieb. Dabei spannte sich sein Hinterteil in einer mir unanständig vorkommenden Art und Weise. Ich hörte, wie der Größere davon sprach, daß der Kleinere auf der nächsten Station T. aussteigen könne. Der Kleinere sagte zum Größeren: »Schlafen Sie noch nicht? Legen Sie sich noch nicht hin?« Der Größere antwortete: »Nein, später.« Ich hatte mich, weil der Gegenstand auf der letzten Synode verhandelt wurde, – Thema: Was kann die Kirche im Kampf gegen die Unzucht tun? – mit einigen Schriften über Unzucht beschäftigt und kam auf den Verdacht, die beiden könnten widernatürliche Unzucht im Sinne haben. Ich drehte mich deshalb auf die andere Seite mit dem Gesicht nach dem Polster zu, um nichts zu sehen und habe auch nichts gesehen. Es war aber auf der gegenüberliegenden Bank viel Unruhe, ich kann aber nicht sagen, daß ich gerade Geräusche wahrgenommen habe wie von beischlafsähnlichen Stößen. Ich hatte nur den Eindruck, als ob es mit den beiden nicht richtig wäre, als ob sie widernatürliche Unzucht vorhätten und auch getrieben hätten. Ich habe nicht geschlafen, wenn ich auch ein wenig »gedusselt« habe. Ich will bemerken, daß ich vorher auf der Korpskneipe gewesen bin und dort vielleicht 6-8 Glas Bier getrunken habe. Ich war recht ermüdet und mag durch den ungewohnten Biergenuß in meiner Beobachtungsfähigkeit etwas beeinträchtigt gewesen sein, verwahre mich aber dagegen, daß dieser Umstand meine Beobachtungsfähigkeit ernstlich beeinflußt hätte. Ich habe noch niemals nach gemütlichen Zusammensein etwas zu bedauern gehabt, was unter dem Einfluß des Alkohols geschehen wäre. Ich muß allerdings zugeben, daß ich nur den Eindruck, nicht aber den klaren Beweis dafür habe daß es zwischen den beiden zu widernatürlicher Unzucht gekommen ist. Ich habe insbesondere nicht gesehen, daß einer Körperteile entblößt hätte ... In X. verließen sie das Abteil, ich richtete mich auf, sah ihnen nach und bemerkte, daß der Größere dem Kleineren etwas aus seinem Portemonnaie gab, was er ihn aber gegeben hat, weiß ich nicht ... Ich kann nicht sagen, daß ich einen bestimmten Augenblick die Empfindung gehabt hätte, daß der Akt gerade jetzt vor sich ging ... Die schlaffe Haltung des Größeren und der gewöhnliche Typus des Kleineren erweckten von Anfang an in mir den Eindruck, als ob die beiden in widernatürlicher Unzucht ihre Befriedigung suchten ...«

Der Beschuldigte Z., der den Verdacht entrüstet zurückwies, gab über die Vorgänge im Abteil an:

»... Ich stieg zusammen mit Referendar Y. in ein Abteil, in dem nur ein Herr war. Meines Wissens stand dieser, als wir hineinkamen, legte sich dann aber hin. Y. kam erst im letzten Augenblick in den Zug. Ich glaubte, er habe sich, da wir beide sehr ermüdet waren und wie gewöhnlich auf der Rückfahrt nach X. schlafen wollten, bis zuletzt nach einem leeren Abteil umgesehen, und sagte zu ihm, er solle nur hereinkommen, er könne ja in T. aussteigen und sich ein anderes suchen ... Y. machte den Vorhang von der Lampe nach unserer Seite herunter, ... zog die Hälfte des Polsters aus und legte sich hin. Ich blieb in meiner Ecke sitzen und zwar dem Fremden gegenüber. Y. hatte mir den Vorschlag gemacht, wir sollten uns, um uns ausstrecken zu können, jeder mit dem Kopf nach seinem Fenster hinlegen, so daß die Beine nebeneinander lägen. Ich lehnte dies ab ... Ich habe wahrscheinlich die ganze Fahrt hindurch gesessen, ein Bein über das andere gelegt ... Ich weiß mich zu entsinnen, daß Y. sich während der Fahrt den Kragen abgenommen hat ... Als wir in X. ausstiegen, habe ich jedenfalls das Portemonnaie vorgenommen, weil ich meine Monatskarte darin aufbewahre ...«

Y. sagte aus:

»... Ich zog das Polster auf meiner Seite aus und legte mich hin, während der Beschuldigte Z. wohl sitzen blieb. Ich zog die Beine an, um Z. nicht zu beschmutzen ... Ich hatte den Vorschlag gemacht, daß wir uns mit den Köpfen jeder nach seinem Fenster zu legen und dann lang ausstrecken sollten, so daß unsere Beine nebeneinander liegen könnten. Z. lehnte dies ab. Ich pflege bei solchen Nachtfahrten den Kragen abzubinden und werde es auch diesmal getan haben ... Beim Aussteigen werden wir wohl unsere Portemonnaies gezogen haben, da wir beide darin unsere Monatskarten zu verwahren pflegen. Gegeben hat mir Z. nichts ...«

Dies der einfache aktenmäßige Tatbestand. Daß der Pfarrer bei jener Fahrt mit den drei Herren, von denen er nur einen flüchtig kannte, genau und bestimmt so, wie eingangs berichtet, bekundet hat, wurde durch die übereinstimmenden Aussagen der Zeugen, darunter ein Staatsanwalt und ein Rechtsanwalt, erwiesen. Es muß auch angenommen werden, daß er damals nichts bewußt Unwahres behaupten, eine wissentlich falsche Beschuldigung nicht erheben wollte. Bleibt also nur die Annahme übrig, daß er seine ersten positiven Angaben soweit er sie nachher bei der richterlichen Vernehmung abschwächte oder richtig stellte, unter dem Einfluß einer gewissen unbewußten pseudologia phantastica, eines gefährlichen »amour du merveilleux« machte. Sein Verdacht im übrigen und die übereilten Schlüsse, die er aus einzelnen, an sich unverfänglichen Wahrnehmungen zog, erklären sich wohl aus Suggestionen, denen er auf Grund reger Phantasie und eingehender Beschäftigung mit den Gegenstand (Synode, Schriften), vielleicht auch mit unter dem Einfluß des Alkohols und der Müdigkeit unterlag.

Daß die Beschuldigung eines Mannes vom Stande des Zeugen und seine Schilderung eines von ihm wahrgenommenen Vorgangs derart irreführend und trüglich sein kann, scheint mir das Lehrreiche an diesem Fall aus der Praxis.


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