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XX.
Über die Wassermannsche Luesreaktion und ihre forensische Bedeutung.

(Aus der Reihe von Vorträgen, veranstaltet vom Ausschuß der lokalen Vereinigung für das ärztliche Fortbildungswesen im Regierungsbezirk Oppeln [W.-S. 1911/12]). Von Dr.  Otto Leers, Kgl. Gerichtsarzt in Gleiwitz.

I.

M. H. Die Wassermannsche Reaktion beruht bekanntlich auf der sinnfälligen Erscheinung der Hämolyse, auf dem Austritt des Blutfarbstoffes aus den roten Blutkörperchen. Wenn durch irgendwelche Einflüsse das Blutkörperchen zerstört, seine Membran, sein Stroma durchlässig wird, so geht der Blutfarbstoff in das Serum über, die deckfarbene Blutlösung wird lackfarben. Außer dem bekanntesten Stoff, dem destillierten Wasser, besitzen zahlreiche chemische Substanzen und Gifte, sowie auch Bakterien, die Eigenschaft, zu hämolysieren. Nicht nur das Normalserum vieler Tierarten hat hämolytische Wirkung auf die roten Blutkörperchen anderer Arten, sondern es lassen sich auch künstlich durch Immunisierung von Tieren Hämolysine erzeugen.

Belfanti und Carbone waren die Ersten, die 1898 durch Injektion fremden Tierblutes ein hämolysierendes Immunserum vom Pferd erhielten, welches für die zur Immunisierung benutzte Blutart (Kaninchen) spezifisch war, nur die Blutkörperchen von Kaninchen löste.

Bordet vom Pasteurschen Institut und Ehrlich stellten dann 1899 fest, daß die Wirkung der Immunhämolysine auf zwei verschiedenen Komponenten beruhe, die sie Komplement und Ambozeptor nannten. Beide müssen wir uns als chemische Kräfte vorstellen. Ersteres, das Komplement, ist auch in jedem Normalserum vorhanden und thermolabil, d. h. durch halbstündiges Erwärmen auf 55° zu zerstören; der Ambozeptor jedoch, der nach der Ehrlichschen Seitenkettentheorie von den Zellen in die Blutbahn abgestoßene Immunkörper, ist nur im Immunserum enthalten, ist thermostabil und überdauert die Erwärmung. Durch die Zerstörung des Komplementes geht das hämolytische Immunserum aus dem aktiven in den inaktiven Zustand über, ein Beweis, daß das Komplement die hämolysierende chemische Kraft ist. Durch Zusatz von komplementhaltigem Normalserum kann es jedoch wieder reaktiviert werden, so daß es wieder hämolytisch wirkt. Dem Ambozeptor dagegen fällt bei dem Vorgang der Hämolyse nur die Rolle des Zwischenkörpers, der Substance sensibilisatrice zu, eines Zwischengliedes zwischen Blutkörperchen und Komplement (Alexin), welches letzterem erst die Möglichkeit gibt, die Auflösung des Blutkörperchens zu bewirken. Demgemäß hat der Ambozeptor eine cytophile Gruppe, an die sich das Blutkörperchen – und zwar schon in der Kälte – festsetzt, und eine komplementophile Gruppe für das Komplement, die dieses aber erst bei Bruttemperatur, bei 37°, in Beschlag nimmt.

Diese theoretischen Erörterungen mußte ich vorausschicken, denn sie bilden die Grundlage für den Komplementbindungsversuch bei der Wassermannschen Reaktion.

Ich gehe jetzt zu dieser selbst über, darf auch diese historisch entwickeln.

Aus Versuchen von Bordet und Gengou 1902 und von Moreschi 1905 hatte sich das Gesetz ergeben, daß das Eiweißantigen einer Tierart durch Vermittelung seines spezifischen Antikörpers, des Ambozeptors, die, Fähigkeit erhält, beliebiges Komplement an sich zu reißen, zu binden; daß dagegen, wenn der Ambozeptor nicht spezifisch, der Eiweißart nicht homolog ist, die Verankerung der drei Körper oder Kräfte ausbleibt, das Komplement also freibleibt.

Ob das Komplement gebunden oder freigeblieben war, ließ sich erweisen durch Zusatz eines hämolytischen Systems, bestehend aus Blutkörperchen und dem auf sie hämolytisch wirkenden Ambozeptor. Lösten sich die Blutkörperchen auf, wurde die Mischung lackfarben, so war das Komplement freigeblieben und mit dem hämolytischen System Verbindung eingegangen; das Antigen war dem Antikörper nicht homolog. Blieb die Auflösung der Blutkörperchen aus, blieb die Mischung deckfarben, so war das Komplement gebunden worden an Antikörper und Antigen; Antikörper und Antigen waren gleichartig, homolog.

Diese Komplementbindung hat uns nicht nur durch Neißer und Sachs 1905 eine Methode der forensischen Blutdifferenzierung gebracht, sie ist auch die Grundlage der Serodiagnose der Lues, die Wassermann 1906 auf den Plan brachte.

Das Antigen ist hier bakterielles Eiweiß; da es nicht aus Reinkulturen des Syphiliserregers zu erhalten war, extrahierte Wassermann es aus sicher luetischen Organen, die erfahrungsgemäß reichlich Spirochäten enthalten, aus Primäraffekten, Papeln, Lebern hereditär-luetischer Föten oder Kinder. In diesen konnte reichlich bakterielles Antigen vermutet werden. Der zugehörige spezifische Antikörper aber kreist nach der Ehrlichschen Seitenkettentheorie als von den Zellen abgestoßener Ambozeptor in dem Blute des infizierten Patienten. Das hämolytische System bilden Hammelblutkörperchen mit dem auf sie hämolytisch wirkenden Ambozeptor – durch Injektion von Hammelblut vom Kaninchen gewonnen. Das Komplement liefert das Meerschweinchenserum, welches besonders reich an diesem Stoff ist.

So war die ursprüngliche Versuchsanordnung Wassermanns, und die Reaktion galt ihm als eine Antigen-Antikörperbindung im Sinne der biologischen Immunitätsreaktionen. Das schien um so wahrscheinlicher, als dabei auch Eiweißfällung, Präzipitation eintritt, wie mit dem Ultramikroskop und auch makroskopisch durch eine besondere Versuchsanordnung von Bruck bewiesen werden konnte. Somit wäre also die Reaktion wie alle Immunitätsreaktionen als der sichtbare Ausdruck einer Reaktion des Organismus gegenüber den zur Resorption gelangten Stoffwechselprodukten (Endotoxinen) der Spirochäten aufzufassen.

Nun wissen wir aber heute aus zahlreichen Versuchen, daß nicht nur luetischer Organextrakt, sondern auch der Extrakt aus normalen menschlichen und tierischen Organen und Tumoren, ja, daß sogar Lipoidlösungen – Lezithin, ölsaures Natron, gallensaure Salze, Cholestearin, Vaselin – in derselben Weise mit luetischen Seren reagieren und Komplement verankern, wenn auch nicht mit der Sicherheit und Stärke wie der luetische Leberextrakt. Es ist daher die Frage, ob nicht Bindungen physikalisch-chemischer Natur nach Art der Kolloidreaktionen bei der Wassermannschen Luesreaktion mit im Spiele sind.

Wahrscheinlich – man neigt heute dieser Ansicht zu – gehen beide Arten von Bindungen, die biologische und die physikalisch-chemische, bei der Wassermannschen Reaktion Hand in Hand und nebeneinanderher. Und das Antigen ist nicht nur eine spezifische vom Syphiliserreger abstammende Substanz, sondern, zum Teil wenigstens, auch eine bisher nicht genau erforschte – wahrscheinlich lipoide – alkohollösliche Substanz, welch letztere unter dem Einfluß des Syphiliserregers im infizierten Organismus eine Steigerung erfährt, die aber auch schon im normalen Organismus vorhanden ist und auch für sich allein schon zur Antigen-Antikörperbindung mit syphilitischem Serum geeignet ist.

Wie dem auch sei und wiewohl wir heute noch nicht zu einer einheitlichen und befriedigenden Erklärung des Wesens der Wassermannschen Reaktion gelangt sind, die ursprüngliche Versuchsanordnung Wassermanns mit luetischem Extrakt übertrifft an Zuverlässigkeit alle Ersatzmittel und sie bleibt für uns die maßgebende. Ob dabei der Leberauszug ein wässeriger oder alkoholischer ist, ist nach meinen Erfahrungen völlig gleichgültig. Der wässerige trübt sich beim Stehen bald, ohne daß er dadurch an Brauchbarkeit einbüßt. Man darf ihn nur nicht aufrütteln. Der alkoholische ist einfacher herzustellen, zeigt diese Veränderung nicht, soll nach einigen an spezifischer Wirkung noch überlegen sein und wird daher jetzt fast allgemein als Stammlösung bevorzugt. Bei ihm muß aber die Verdünnung mit Kochsalzlösung sehr sorgfältig, rasch und gleichmäßig hergestellt werden, sonst erhält man eine trübe, milchige Emulsion, die schon an und für sich hemmend wirken kann.

Auf die Anstellung der Reaktion, auf die verschiedenen Modifikationen und Surrogate, die vorgeschlagen worden sind, um die Wassermannsche Reaktion zu vereinfachen, will ich hier nicht näher eingehen. Man glaubte, auf den Hammelblutambozeptor verzichten zu können, weil dieser schon im Patientenserum vorhanden sei (Bauer, Tschernogubow); man schaltete das Komplement des Meerschweinchens aus, da genügend Komplement in jedem menschlichen Normalserum vorhanden sei (Stern); man begnügte sich mit dem menschlichen hämolytischen Ambozeptor und dem menschlichen Komplement (Hecht). Keine von diesen Methoden konnte die ursprüngliche Wassermannsche ersetzen und hat sich Bürgerrecht erworben. Besondere Vorsicht ist geboten gegenüber der Verwendung des jetzt vielfach von Apotheken und Drogenhandlungen auf Papier angetrockneten Komplements und Ambozeptors, da deren Wirksamkeit nicht immer außer Frage steht.

Ganz gleichgültig dagegen ist, ob man 5 ccm oder 1 ccm oder noch weniger ansetzt, wenn nur alle Komponenten in entsprechender genau austitrierter Menge in dem Gemisch enthalten sind.

II.

Die Bedeutung der Wassermannschen Reaktion hängt so sehr von der Spezifität der Reaktion ab, daß wir uns hiermit etwas eingehender beschäftigen müssen.

Daß ein positiver Ausfall der Reaktion bei sicher Syphilitischen so gut wie regelmäßig zu erwarten ist, wird fast allgemein bestätigt. Bei manifester Lues reagierten nach der bisherigen Statistik über 95 Proz. der Fälle positiv. Nur 59mal fand umgekehrt Bruck unter 5028 Kontrolluntersuchungen eine positive Reaktion, ohne daß klinisch oder anamnestisch Anhaltspunkte für Lues vorlagen. Was diese sogen. Fehlreaktionen betrifft, so ist zu bedenken, daß die Wassermannsche Reaktion doch in erster Linie eine biologische Reaktion ist, und daß sie also, abgesehen von den Schwierigkeiten, die komplizierte Versuchsanordnung in tausenden von Versuchen exakt gleich zu gestalten, wie alle biologischen Methoden mit einem gewissen Prozentsatz von Fehlerquellen arbeitet, die wir nicht in jedem Falle befriedigend zu erklären vermögen.

Wir sehen aber dasselbe auch bei anderen Reaktionen, die trotzdem das Vertrauen des Arztes genießen, z. B. bei der Widalschen Typhusreaktion, bei der Pirquetschen kutanen Tuberkulinreaktion. Auch diese können ausbleiben, obwohl Typhus bezw. Tuberkulose klinisch festgestellt ist.

Weniger bestimmt können wir die Frage beantworten, ob die Wassermannsche Reaktion spezifisch für Lues ist, ausschließlich bei ihr vorkommt, oder ob nicht auch Gesunde oder mit anderen Krankheiten behaftete Personen die Reaktion geben können. Eine biologische Spezifität im Sinne der Immunitätsforschung ist zwar, wie ich schon sagte, sicher nicht vorhanden, trotzdem kann die Reaktion als in hohem Maße charakteristisch für Syphilis bezw. die von ihr ätiologisch abhängigen Krankheiten angesehen werden.

Bei Gesunden, die niemals eine syphilitische Infektion nachweislich durchgemacht haben, erhält man mit verschwindenden Ausnahmen stets einen negativen Ausfall der Reaktion. Wo keine klinischen Anzeichen von Lues sich finden, die Anamnese nichts davon meldet und trotzdem die Reaktion positiv ausfällt, handelt es sich in 80-90 Proz. der Fälle um eine latente Lues der sekundären oder tertiären Periode – oder aber um Krankheiten, bei denen nach unseren heutigen Erfahrungen die Syphilis ätiologisch eine so große Rolle spielt, daß wir sie unbedenklich als Nachkrankheiten der Lues bezeichnen können: Paralyse, Tabes, Arteriosklerose mit Klappenfehlern und Aneurysmen, Keratitis parenchymatosa u. a. m.

Der positive Ausfall einer regelrecht angestellten Wassermannschen Reaktion darf also wohl heute, wenn sie komplette Hemmung ergibt, als ein sicheres Zeichen dafür angesehen werden, daß die betreffende Person einmal in ihrem Leben syphilitisch infiziert gewesen ist.

Nur ein kleiner Rest von positiven Ausfällen bleibt einer Anzahl von Erkrankungen vorbehalten, die nichts mit Syphilis zu tun haben, nämlich Tropenkrankheiten, wie die Framboësie, Beriberi, Filariasis. Für die tropische Framboësie ist es übrigens noch zweifelhaft, ob sie nicht doch eine durch Rasseneigentümlichkeiten modifizierte Form der syphilitischen Hautaffektionen ist.

Ferner Trypanosomenkrankheiten, Rekurrenzerkrankungen, Malaria in frischen Fällen, Lepra und Lyssa, Scharlach, aber nur im Beginn der Erkrankung, Typhus, Tuberkulose und Lupus erythematodes discoides, Pneumonie, Sepsis, Diabetes, Nerven- und Geisteskrankheiten auf nicht luetischer Basis (Epilepsie, multiple Sklerose) und endlich Tumoren und den durch sie verursachten Kachexien (Carcinom).

Endlich wäre noch zu erwähnen, daß auch das Blut Chloroformierter und gewisser Tierarten, z. B. Kaninchenblut, eine positive Reaktion zeigen kann. Dagegen hat sich die Behauptung, daß das Blut Nichtsyphilitischer im Verdauungszustande positiv reagiere, nicht bestätigt.

Man sieht also jedenfalls eine ganze Reihe von nichtsyphilitischen Krankheiten mit gelegentlichem positiven Ausschlag, die der Praktiker kennen muß.

Und doch ist ihre Gefahr nicht groß, denn bei fast allen läßt sich unschwer und einwandfrei die klinische Diagnose stellen, lassen sich Irrtümer dadurch ausschließen.

Lediglich die Tumoren und der Diabetes machen der Differentialdiagnose zuweilen Schwierigkeiten; vor allem läßt sich freilich nicht immer mit Bestimmtheit ausschließen, daß nicht doch einmal eine luetische Infektion stattgefunden und den positiven Wassermann bei diesen Krankheiten verursacht. Alter und Beruf sprechen manchmal dafür.

Auch hier ist wieder der Mangel einheitlicher Versuchsanordnungen und einheitlicher Reagentien sehr zu beklagen, und es machen sich Stimmen geltend, daß alle diese Angaben vorläufig mit Vorsicht aufzunehmen und zu bewerten sind, da sie wahrscheinlich zum Teil nur den Mängeln Ausdruck geben, die durch das Abweichen von der klassischen Technik Wassermanns bedingt sind.

Die Wassermannsche Reaktion ist keine Organdiagnose, sondern eine konstitutionelle; sie sagt uns nur, daß der Körper zu irgend einer Zeit Syphilis ererbt oder erworben hat und von diesem Virus noch beherbergt, nicht aber wann, wo und ob überhaupt dadurch ein Organ noch erkrankt ist.

Sie gestattet auch keinen sicheren Schluß auf das jeweilige Stadium, in dem sich die Syphilisinfektion befindet, obwohl gewisse Wechselbeziehungen zwischen dem Ausfall der Reaktion und den klinischen Stadien der Lues nicht zu leugnen sind.

So ist eine positive Reaktion gewöhnlich nicht vor der 4. Woche nach der Infektion, also vor völliger Durchseuchung des Körpers mit dem Virus zu erwarten. In der 4.-6. Woche reagiert nur ein Teil (etwa 30 Proz.) positiv. Dann aber, nach der 6. Woche, steigt die positive Kurve rapid an auf 90-95 Proz. und erreicht ihren Gipfel im manifesten Sekundärstadium mit 95-99 Proz. positiven Reaktionen. Das tertiäre Stadium zeigt einen Abfall auf 70-80 Proz. der Fälle, das quartäre Stadium, eine Bezeichnung, die bekanntlich Erb und Wassermann für die Tabes und Paralyse eingeführt haben und deren volle Berechtigung die Wassermannsche Reaktion beweist, hat noch durchschnittlich 70-75 Proz. positive Reaktionen. Und es ist für die Differentialdiagnose von Wert, daß sie sich serodiagnostisch vom Hirntumor abgrenzen lassen. Bei der Paralyse finden sich im Blute und im Liquor spinalis Hemmungskörper, bei der Tabes im Blute, während sie im Liquor fehlen können, beim nichtsyphilitischen Hirntumor gibt sowohl Blutserum wie Liquor eine negative Reaktion.

Je nachdem die Wassermannsche Reaktion im Blute und im Liquor oder nur in ersterem positiv ausfällt, ist sie also verschieden zu bewerten. Wertvoller in differentialdiagnostischer Bedeutung ist zweifellos die Liquor-Reaktion. Ihr positiver Ausfall ist ziemlich beweisend für, ihr negativer spricht sehr gegen Paralyse. Andererseits ist bei raumbeengenden Prozessen in der Schädelhöhle, die den Verdacht auf Lues oder Metalues aufsteigen lassen, eine positive Blutreaktion eine starke Stütze dieses Verdachts, auch wenn der Liquor negativ reagiert.

Bei Lues cerebrospinalis findet sich auffallend selten eine positive Liquorreaktion, selten auch bei den chronisch verlaufenden syphilitischen Nerven- und Gehirnkrankheiten. Es ist anzunehmen, daß bei dem chronischen oder remittierenden Verlauf des Leidens die spezifisch bindenden Körper zeitweise oder dauernd aus der Spinalflüssigkeit verschwinden oder so sehr an Konzentration einbüßen, daß sie sich dem Nachweis mit der Methode in der ursprünglichen Anordnung entziehen. Ein Beweis dafür ist die Möglichkeit der »höheren Auswertung des Antikörpers«, also des Blutserums oder des Liquors, die Hauptmann und Zeißl in derselben Weise bei der Anstellung der Wassermannschen Reaktion gefunden und vorgeschlagen haben, wie ich sie bereits früher bei der biologischen Blutdifferenzierung mittelst der Präzipitinreaktion (vermehrten Antiserumzusatz bei Blutartgemischen) erprobt und angeregt habe (Bakt. Zentralblatt, 54. Bd., 1910, S. 477 und Forens. Blutuntersuchung, 1910, Jul. Springer, Berlin, Seite 153). Wenn sie – natürlich unter Anwendung der erforderlichen Kontrollen – größere Mengen des Liquors oder Blutserums zur Reaktion benutzten, so erhielten sie noch eine positive Reaktion bei syphilitischen und metasyphilitischen Patienten, deren Blut und Liquor nach der Originalmethode Wassermanns keinen positiven Ausfall mehr gegeben hatte.

Kurz, die Wassermannsche Reaktion ist für die Abtrennung der syphilogenen von den andersartigen organischen und funktionellen Störungen ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden, mehr als ein wichtiges differentialdiagnostisches Hilfsmittel ist sie allerdings nicht.

Das Latenzstadium endlich hat noch 50-60 Proz. positive Fälle. Hier, wo keine oder nicht eindeutige Symptome vorhanden sind, tritt die Wassermannsche Reaktion ganz besonders in ihre Rechte, indem sie dem Urteil des Arztes bezüglich der Prognose und der einzuschlagenden Therapie den Weg zeigen kann.

Ich habe schwere Kachexien gesehen, die auf Carcinomatose zurückgeführt worden waren, lange Zeit, bis endlich einer auf den Gedanken kam, eine Seradiagnose zu veranlassen; wo dann die Wassermannsche Reaktion positiv ausfiel und eine energische antiluetische Behandlung in kurzer Zeit das Bild änderte und, ich will nicht sagen Gesundheit, aber doch Arbeitsfähigkeit und Wohlbefinden zurückbrachte.

Natürlich braucht das nicht immer so zu sein. Die maligne Geschwulst oder Gelenkerkrankung nicht syphilitischer Ätiologie kann sich bei einem zufällig syphilitischen Individuum finden und die Reaktion weist uns auf einen falschen Weg. Die spezifische Therapie ist im Sinne des vorherrschenden Leidens zwecklos. Die Wassermannsche Reaktion gestattet eben keine Organdiagnose.

Aber das sind doch gewiß Ausnahmefälle. Gerade dem Chirurgen leistet die Reaktion sonst wertvolles zur Abgrenzung hereditär-luetischer bzw. erworbener syphilitischer Knochen- und Gelenkaffektionen von denen der tuberkulösen eitrigen Periostitis und Osteomyelitis. Dem Frauenarzt zeigt sie bei spontanen Fehlgeburten vielfach den Weg der Therapie, sie entscheidet bei der Ammenauswahl. Eine positiv reagierende Amme wird man, auch wenn sie keine manifesten Erscheinungen bietet, ablehnen müssen.

Unser Grundsatz sollte sein: für den gesunden Säugling nur eine gesunde Amme; die syphilitische Amme für den syphilitischen Säugling.

Dann werden die Syphilisübertragungen von einer Amme auf das Kind, wie sie jetzt vorkommen und öfters zu gerichtlichen Klagen führen, immer seltener werden. Allerdings kann die Amme den gleichen Schutz beanspruchen, d. h. auch jeder anzulegende Säugling müßte vorher mit der Wassermannschen Reaktion untersucht werden. Das wird freilich alles erst möglich sein und vollen Erfolg haben, wenn das Ammenvermittelungswesen, wie in Frankreich bereits, verstaatlicht wird. Denn der einzelne Arzt kann diese Forderungen gar nicht immer stellen und erst recht nicht immer durchdrücken.

Es ist auch noch von Interesse, daß die Milch luetischer Frauen kurz vor und dauernd nach der Entbindung schon mit ganz geringen Antigenmengen positiv reagieren kann, und daß diese Reaktion im Gegensatz zu der Blutreaktion durch Quecksilberbehandlung fast gar nicht beeinflußt wird.

Wie bei der Ammenauswahl wäre die Durchführung der Untersuchung mittels der Wassermannschen Reaktion auch bei der Anstellung von sogenannten Erstlingspflegerinnen, von Kindermädchen und Kinderwärterinnen, erwünscht. Auch von dieser Seite sind Ansteckungen zu befürchten und wiederholt vorgekommen, wozu die Unsitte des Küssens, des Ins Bett nehmen der Kinder nicht wenig beiträgt.

III.

In dem nunmehr folgenden dritten Teil wollen wir uns mit dem Anwendungsgebiet der Wassermannschen Reaktion in meinem Spezialfach der gerichtlichen und sozialen Medizin beschäftigen.

Gerichtsärztlich findet sie hauptsächlich Anwendung bei strafrechtlichen Entscheidungen über Körperverletzung, über kriminelle Abtreibung und Sittlichkeitsverbrechen; bei zivilrechtlichen Entscheidungen über Fragen des Ehe- und Familienrechts (Schadensersatzklagen, Ehescheidungsklagen, Alimentationsprozessen).

Wer mit übertragbarer Syphilis behaftet den Beischlaf ausübt und die Krankheit überträgt, macht sich der fahrlässigen Körperverletzung bzw. Gesundheitsbeschädigung nach § 230 StGB. schuldig. Dasselbe gilt natürlich für die Übertragung durch Küssen oder auf andere Weise.

War ihm seine Ansteckungsgefahr bekannt, so liegt der erschwerende Umstand der Körperverletzung gemäß den §§ 223, 223a StGB. vor. Das wird meistens der Fall sein, wenn es auch nicht immer nachzuweisen ist. Wie dem auch sei, die Wassermannsche Reaktion wird den Beschuldigten be- oder entlasten oder aus einer Anzahl Verdächtiger den Schuldigen herausfinden. Ob aber die Krankheit sich im übertragbaren Zustand befand, wird nicht allein ein positiver Ausfall der Wassermannschen Reaktion entscheiden; dazu bedarf es noch klinischer Beweise.

Hat jemand fahrlässig durch Unachtsamkeit seine Lues übertragen, obwohl er durch Amt, Beruf oder Gewerbe zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet war, wie es bei Ärzten, Hebammen z. B. der Fall sein kann, so erhöht dies die Schuld nach § 230 Abs. 1 StGB. Hutchinson berichtet einen solchen Fall, wo sieben kleine Kinder nach der Beschneidung mit ein und demselben Messer an Lues erkrankten.

Unter Umständen kann die Frage gestellt werden, ob Siechtum, Lähmung oder Verfall in Geistesstörung durch die Infektion vorliegt (§ 224 StGB.). Und sie wird, wenn die angesteckte Person die Infektion nicht rechtzeitig bemerkt und hat behandeln lassen, wenn sie schwere Erscheinungen der Lues bietet, nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Dresden schon bejaht werden müssen, da die Aussicht auf Heilung dann, auch bei ärztlicher Hilfe, durchaus fraglich ist. Sicher aber muß sie bejaht werden, wenn schwere Zerstörungen wichtiger Organe, Verlust des Seh- oder Hörvermögens, wenn erhebliche Entstellungen, schwere Lähmungen und geistige Störungen bei Tabes oder Paralyse u. ä. als Folge der Infektion sich eingestellt haben.

Ist die Ansteckung durch den ersten ehelichen Beischlaf erfolgt, so können die §§ 1333 und 1334 des Zivilrechts in Anwendung kommen. 1333 besagt, daß die Ehe angefochten werden kann, wenn der eine Teil sich über persönliche Eigenschaften des anderen geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden; der § 1334 benennt als Anfechtungsgrund die arglistige Täuschung über solche Umstände, die den anderen von der Ehe abgehalten hätten.

Daß eine verheimlichte oder geleugnete syphilitische Erkrankung zur Zeit der Eheschließung zu den Irrtümern gehört, welche die Einwilligung des anderen Teils zur Ehe aufheben, in diesem Sinne ist ebenfalls bereits eine Entscheidung, und zwar des Reichsgerichts, ergangen.

Unter der Annahme eines ehrlosen und unsittlichen Verhaltens des infizierenden Ehegatten kann auch der Ehescheidungsparagraph 1568 des BGB. Anwendung finden.

In allen diesen Fällen kann die Wassermannsche Reaktion zur Aufklärung der Sachlage beitragen und zur Unterlage der Entscheidung dienen.

Daß die Wassermannsche Reaktion aber auch einmal imstande ist, das drohende eheliche Zerwürfnis und die Scheidungsklage zu verhüten, die Ehegatten wieder zu versöhnen, beweist ein kürzlich von Ledermann berichteter Fall. Eine Frau hatte in dem Schreibtisch ihres Mannes alte Quecksilbersalbenrezepte gefunden und wollte auf Grund der daraus bei ihrem Gatten vermuteten Lues die Ehe anfechten. Dieser ließ sich serologisch untersuchen: die Reaktion fiel positiv aus. Nunmehr machte er schleunigst – von seinem Hausarzt gut beraten – eine Injektionskur hinter dem Rücken der Gattin durch, nach deren Beendigung die Reaktion negativ wurde. Die Bescheinigung der negativen Reaktion, die er dann der Gattin präsentierte, bewog diese zur Zurückziehung der Anfechtungsklage und zur ehelichen Versöhnung.

Eine schwerwiegende Entscheidung, vor die sich der Arzt gestellt sehen kann, ist die des Ehekonsenses bei Syphilitikern. – Liegt die Infektion jahrelang zurück, hat eine gehörige Behandlung stattgefunden, fehlen manifeste Erscheinungen und finden sich bei der Wassermannschen Reaktion keine Hemmungskörper mehr im Blute, so wird man die Heirat wohl zulassen können, wenn man auch nicht garantieren kann, daß der Kandidat nunmehr ganz gesund ist.

Finden sich aber noch Hemmungskörper, fällt die Reaktion positiv aus, so ist unbedingt Aufklärung und Warnung Pflicht. Man wird in diesem Falle zu einer – u. U. mehrfach wiederholten – energischen Behandlung raten; aber die Heirat schließlich abhängig zu machen von dem negativen Ausfall der Wassermannschen Reaktion, dürfte über das Ziel hinausgeschossen, zu viel verlangt sein. Denn einmal beweist ein negativer Ausfall der Reaktionen nicht absolut sicher die Abwesenheit von noch ansteckungsfähigem Virus im Körper, und zweitens können Personen mit positiver Wassermannscher Reaktion gesunde Kinder zeugen. Mit Aufklärung, Warnung und Kur würde man sich also begnügen können.

Als Ideal anzustreben wäre zweifellos das gesetzliche Eheverbot, wie es übrigens in Amerika, im Staate Michigan, schon besteht. Dort können Syphilitiker und Gonorrhoiker, die trotz ihrer Krankheit eine Ehe eingehen, mit Geldstrafen bis 1000 Dollar und Gefängnis bis zu 5 Jahren bestraft werden. Bei chronischer unheilbarer Syphilis käme als gesetzliche Maßregel zur Verhütung der Degeneration der Rasse durch Vererbung die Sterilisation in Frage, zuerst die von Reid Rentoul, jetzt auch von deutschen Psychiatern (Aschaffenburg, Näcke, Rüdin) lebhaft befürwortet wird.

Auch darin ist Amerika unserem mit so viel Beharrungsvermögen ausgestatteten Erdteil vorausgeeilt. Wenn wir aber für so eingreifende gesetzliche Maßregeln noch nicht reif sind, wieviel Nutzen wäre schon gestiftet, wieviel Familienunglück, wieviel degenerierte Nachkommenschaft würde schon verhütet, wenn nur erst die obligatorische Beibringung eines Gesundheitszeugnisses für die Ehekandidaten Sitte und Gesetz würde.

Vermutet ein Ehekandidat eine frische luetische Infektion bei sich, so wird man die Inkubationszeit, die ersten sechs Wochen, abwarten müssen, ehe man auf Grund der serologischen Untersuchung nach Wassermann eine Entscheidung darüber fällen kann, ob eine Infektion stattgefunden hat. Nach dieser Zeit würde die positive Reaktion Lues beweisen, die negative, besonders die einmalige negative, aber nichts besagen.

Infiziert sich der eine Teil während der Verlobungszeit, so kann der andere das Verhältnis lösen nach § 1298, 2 BGB., ohne ersatzpflichtig zu sein, da ein wichtiger Grund für den Rücktritt vorliegt. Der erstere aber ist nach § 1299 zum Schadensersatz verpflichtet.

Welche Bedeutung bei fraglicher Vaterschaft die serologische Untersuchung haben kann, haben zwei von Hochsinger in Wien kürzlich veröffentlichte Fälle gelehrt. In dem einen befand sich bei Mutter und Kind positive Reaktion, beim Ehegatten nicht; in dem anderen war die Reaktion bei der Mutter und bei dem Gatten negativ, beim Kind jedoch positiv. In beiden Fällen war ein anderer, ein Luetiker, Erzeuger des Kindes.

Bei Attentaten auf Kinder und weibliche Personen unter 16 Jahren (§§ 176, 177, 182 StGB.) ist der Nachweis der frischen geschlechtlichen Infektion des Opfers bei gleichzeitigem Bestehen einer Geschlechtskrankheit des Täters, ein gerichtsärztlich überaus wichtiger und beweisender Befund. Herrscht doch der Aberglaube, daß die Erkrankung durch den Beischlaf mit einem noch unberührten Mädchen geheilt werde.

Neben der Untersuchung auf Verletzungen, auf Spermatozoen, auf Gonokokken, auf Spirochäten in frischesten Fällen, die aber selten zur Untersuchung kommen, kann, in älteren Fällen, die serologische Untersuchung ein wichtiges Glied in der Kette der Beweise sein, die den Täter überführen.

Schwieriger wird die Entscheidung bei Vergewaltigung einer erwachsenen Person, die u. U. schon vorher syphilitisch gewesen sein kann.

Übrigens wäre auch bei kleinen Kindern an Lues congenita zu denken.

Es gibt aber, wie ich schon sagte, auch Fälle von Ansteckung, die mit dem Beischlaf nichts zu tun haben: die Übertragung z. B. beim Zusammenschlafen von Kindern oder von Erwachsenen mit Kindern, welche die Gerichte infolge Schadensersatzklagen beschäftigen können. Viele dieser Fälle klärt erst die serologische Untersuchung auf, nämlich die, wo die Übertragung im Latenzstadium erfolgt ist. Ein sehr lehrreicher Fall wird in der Gaz. hebd. berichtet. Ein hereditär luetischer Pflegling, der äußerlich keine Anzeichen von Lues bot, hatte die Pflegemutter und ihr Kind angesteckt. Beide Kinder starben, die Mutter beging Selbstmord. Der Mann, der sich an seiner Frau infiziert hatte, verklagte die Eltern des Pflegekindes auf Schadenersatz. Da die klinische Untersuchung derselben aber keine Beweise für Syphilis ergab, wurde er abgewiesen. Die serologische Untersuchung hätte den Fall zweifellos besser aufgeklärt und dem Manne zu seinem Recht verholfen.

Nicht so selten sind auch die Fälle, wo anderweitig infizierte Personen sich an einen wohlhabenden Beischläfer halten, ihn beschuldigen, um Erpressungen an ihm auszuüben. Nicht nur vom weiblichen Geschlecht werden diese Versuche gemacht, auch vom männlichen, wenn im Sinne des § 175 Verkehr stattgefunden hat.

Der fälschlich Beschuldigte wird sich gern der serologischen Untersuchung unterziehen und fällt diese negativ aus, und finden sich auch sonst keine Anzeichen der Lues, so wird das, auch wenn die negative Reaktion nur bedingten Wert hat, genügen, um den Verdacht zu entkräften.

Bei fraglich kriminellem Abort kann andererseits die positive Reaktion entlasten, indem sie die luetische Ursache beweist.

Mit der gerichtlichen Medizin eng verwandt ist die soziale und versicherungsrechtliche Medizin. Auch hier hat sich die Wassermannsche Reaktion bereits eingebürgert, z. B. bei der Untersuchung der Prostituierten, bei Entscheidungen über Rentenansprüche aus Unfällen, bei der Alters- und Invalidenversicherung, bei der Lebensversicherung.

Und sie begrenzt sich hier nicht immer auf die Untersuchung Lebender, auch an der Leiche lassen sich noch Feststellungen erhoffen, die zur Unterlage gutachtlicher Entscheidungen dienen. Allerdings muß die Blutentnahme von der Leiche so frühzeitig erfolgen können, daß nicht schon die Fäulnishämolyse sich eingestellt hat, denn mit rötlich gefärbtem Serum ist kein Versuch mehr anzustellen, und die Fäulnisveränderungen des Blutes bewirken schon an sich Hemmung.

Bei den Rentenverfahren sind die Fälle rein traumatischer Tabes oder Paralyse, seit wir die Wassermannsche Reaktion haben, sehr selten geworden; es empfiehlt sich daher in jedem solchen Falle, besonders wenn, wie gewöhnlich, die Anamnese im Stich läßt, eine Infektion geleugnet wird, die Serodiagnose, zu beantragen.

Findet sich dann eine positive Reaktion, so ist die Erkrankung, mindestens aber die Disposition zur Erkrankung, in den meisten Fällen sichergestellt und es fragt sich nur noch, inwieweit dem Unfall, dem Trauma die Rolle des auslösenden Momentens zukommt.

»Es scheint fast, als ob die auf dem Gebiete der Diagnostik so überaus bedeutungsvolle Wassermannsche Reaktion auch eine Umwälzung mit sich brächte in bezug auf die Gewährung von Unfallrenten« sagt Hoffmann (Ztschr. f. Med. Beamte, 1911, S. 637), der folgenden Fall zu begutachten hatte.

Ein Eisenbahnbremser X. erlitt 1899 einen Betriebsunfall, er wurde mit dem Kopfe gegen die Wand des Bremserhäuschens geworfen und war kurze Zeit bewußtlos. Dienstunfähig wurde er nicht, litt aber seitdem viel an Kopfschmerzen und Mattigkeit. 1903 wird bei ihm Rückenmarksschwindsucht festgestellt; er erblindet völlig und ist völlig dienst- und erwerbsunfähig und hilflos. Beweise für überstandene Syphilis ließen sich zunächst nicht erbringen; sie wurde auch geleugnet. X. erhielt daraufhin Unfallpension. 1910 wird eine Nachuntersuchung und auch die Wassermannsche Reaktion ausgeführt. Letztere fällt positiv aus und dem X. wird daraufhin die Unfallpension entzogen. X. klagte gegen ihre Entziehung gerichtlich. Das Gutachten Hoffmanns spricht sich dahin aus, daß der positive Ausfall der Wassermannschen Reaktion, eine Fehlgeburt und frühes Dahinsterben mehrerer Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit erweise, daß X. Syphilis durchgemacht habe, daß aber der Zustand der Hilflosigkeit, in welchem sich der Kläger jetzt befinde, wahrscheinlich ohne das Dazwischentreten des Betriebsunfalles nicht eingetreten wäre, daß vielmehr noch ein weiteres schädliches Agens außer der Syphilis hinzutreten mußte, um die jetzt bestehende Tabes mit ihren Folgezuständen auszulösen. Seine Dienstunfähigkeit sei durch die Verletzungen, die er sich bei dem Betriebsunfall zugezogen habe, zum mindesten wesentlich beschleunigt worden. –

Auch die Fälle traumatischer Pseudotabes und Pseudoparalyse, bei denen Hemmungskörper fehlen, können von der Serodiagnose nach Wassermann differentialdiagnostisch aufgedeckt werden.

Allgemein stimmt man darin überein, daß der positive Ausfall der Wassermannschen Reaktion von Bedeutung und von Wert für die Diagnose Lues ist, daß der negative, zumal der einmalige negative, zu keinen sicheren Schlüssen berechtigt. Die positive Reaktion, d. h. die vollständige Hemmung, spricht für aktive Lues, oder doch noch vorhandenes Luesvirus; die negative kann durch Fehlen des syphilitischen Virus, durch Heilung oder Latenz verursacht sein, schließt aber niemals bestehende und sogar aktive Lues völlig aus. Es kommen tatsächlich Fälle vor, z. B. bei syphilitischen Knochenerkrankungen, wo die Reaktion trotz nachgewiesener Lues ausbleibt. Der einmalige negative Ausfall beweist also gar nichts, der wiederholte spricht nur mit großer Wahrscheinlichkeit gegen Lues. Das ist recht bedauerlich. Es kommen oft Personen mit einer früheren Infektion, die seitdem durch Jahre gesund gewesen sind, vor Abschluß der Ehe oder eines Lebensversicherungsvertrages, um sich untersuchen zu lassen; auch zahlreiche Syphilophoben, Hypochonder und Neurastheniker wollen ihr Gewissen entlasten und Ruhe haben. Wir untersuchen sie einmal, mehrmals serodiagnostisch, finden stets eine negative Reaktion und es gehört aller ärztliche Takt dazu, ihnen zu sagen, daß wir die Hoffnungen, die sie in die Untersuchung gesetzt haben, nicht voll erfüllen können, daß nur eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß ihre Lues ausgeheilt ist. Prognostisch ist die Wassermannsche Reaktion also nur mit Vorsicht zu verwerten. Während der spezifischen Behandlung zu untersuchen, hat keinen Zweck, da hier infolge mehr oder weniger starker Einwirkung der Gegenmittel häufige Schwankungen des Ausfalles beobachtet werden. Auch kurz nach Beendigung einer Kur soll man nicht untersuchen. Mindestens drei Wochen sollten abgewartet werden.

Der Einfluß der spezifischen Therapie auf den Ausfall der Reaktion ist jedoch unverkennbar und unbestritten. Die Zahl der positiven Reaktionen ist um so geringer, je energischer behandelt wurde. Wahrscheinlich beruht diese Erscheinung auf der direkten Schädigung des syphilitischen Virus durch die spezifische Therapie, sei es mit Quecksilber oder Jod oder Salvarsan, und den dadurch verursachten Fortfall der hemmenden Stoffwechselprodukte des Virus.

Ich stehe aber nicht auf dem Standpunkt, und ich glaube, die Herren Spezialkollegen werden ihn teilen, daß nun jeder positiv reagierende Fall unter allen Umständen behandelt werden muß, bis er negativ reagiert, weil ihm sonst vielleicht die Gefahr einer zukünftigen Tabes oder Paralyse droht.

Die spezifische Therapie wird in erster Linie durch die klinische Untersuchung geleitet; so war es früher, so wird es auch heute noch sein müssen.

Auf Grund des negativen Ausfalls der Wassermannschen Reaktion eine klinisch erforderlich scheinende spezifische Kur zu unterlassen, würde indes m. E. einen Kunstfehler bedeuten.

Es ist also klar, daß der Wert der Wassermannschen Reaktion durchaus kein universeller ist, daß sie noch manche Lücken offen läßt, auf manche Fragen auch keine bestimmte Antwort gibt. Unbestritten dagegen bleibt ihr diagnostischer, ihr differentialdiagnostischer Wert, besonders im Latenzstadium der Lues und auf diesem Gebiet ist sie, wie allen anderen Disziplinen, auch der gerichtlichen und sozialen Medizin, in der Hand des mit ihr vertrauten Arztes ein wertvolles, unentbehrliches Hilfsmittel geworden.


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