Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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33. Brief

Das war ein erlösendes Wort: »Ich habe es satt, Ihre Briefe zu lesen«, schreiben Sie, und ich füge hinzu: »Ich habe es satt, sie zu schreiben.« Leider sprechen Sie noch den Wunsch aus – und Ihr Wunsch ist mir Befehl –, ich solle kurz und bündig sagen, was ich mir unter dem Wort ›Es‹ vorstelle. Ich kann es nicht besser 259 ausdrücken, als ich es schon früher getan habe: »Das Es lebt den Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank werden läßt, kurz, die ihn lebt.«

Aber mit solcher Definition ist Ihnen nicht geholfen. Ich will daher zu meinem bewährten Mittel greifen und Ihnen Geschichten erzählen. Sie müssen dabei nur bedenken, daß meine Erzählungen aus weitläufigen Zusammenhängen herausgenommen sind, daß es Zwischenfälle langwieriger Behandlungen sind. Sonst kommen Sie gar auf die Idee, daß ich mich für einen Wunderdoktor halte. Davon ist keine Rede: Im Gegenteil, je länger ich Menschen behandle, um so fester wurzelt sich in mir die Überzeugung, daß der Arzt verschwindend wenig zur Heilung seiner Kranken tun kann, daß der Kranke sich selbst heilt und daß der Arzt, auch der Analytiker, nur die eine Aufgabe hat zu erraten, welche List das Es des Kranken im Augenblick gebraucht, um krank bleiben zu können.

Es ist nämlich ein Irrtum anzunehmen, daß der Kranke zum Arzt kommt, um sich helfen zu lassen. Nur ein Teil seines Es ist willig zur Gesundheit, ein andrer aber will krank bleiben und lauert während der ganzen Zeit auf eine Gelegenheit, um sich vom Arzte schädigen zu lassen. Der Satz, daß die vornehmste Regel in der Behandlung ist, ›nicht zu schaden‹, hat sich mir mit den Jahren immer tiefer eingeprägt, ja, ich bin geneigt zu glauben, daß in Wahrheit jeder Todesfall während einer Behandlung, jede Verschlimmerung des Zustandes auf einen Fehler des Arztes zurückzuführen ist, zu dem er sich durch die Bosheit des kranken Es verleiten läßt. Ach, es ist nichts Göttliches in unserm Tun, und der Wunsch, wie Gott zu sein, der uns ja letzten Endes dazu treibt, Arzt zu sein, rächt sich an uns wie an unsern paradiesischen Voreltern. Strafe, Fluch und Tod ziehen in seinem Gefolge.

Hier ist ein jüngst erlebtes Beispiel dafür, welche Stellung das tief verborgene Es eines Kranken gegen mich hatte, während sein bewußtes Ich bewundernd und dankbar auf mich blickte. Es sind zwei Träume einer Nacht, die des Lehrreichen genug enthalten. Zunächst sagte der Kranke, daß er vom ersten Traum nichts mehr wisse. Da er aber längere Zeit bei diesem vergessenen Traum blieb, ließ sich annehmen, daß in ihm der Schlüssel des Rätsels stecke. Ich habe eine lange Zeit geduldig gewartet, um zu sehen, ob nicht doch irgendwelche Erinnerung komme. Aber sie kam nicht, und 260 schließlich forderte ich den Kranken auf, irgendein beliebiges Wort zu sagen. Solch ein kleiner Kunstgriff lohnt sich manchmal. Ich habe zum Beispiel einmal erlebt, daß bei einer ähnlichen Situation das Wort ›Amsterdam‹ genannt wurde und daß um dieses eine Wort sich ungefähr ein Jahr lang eine erfolgreiche, erstaunlich erfolgreiche Behandlung drehte. Dieser Kranke nun nannte das Wort ›Haus‹ und erzählte mir, daß er am vorhergehenden Tage sich mein Sanatorium von außen angesehen habe, daß ein gänzlich unmotivierter Turm da sei, eine Brücke als Notbehelf angebracht sei, weil das Haus an einem falschen Platz stehe und daß es ein häßliches Dach habe. Ich kann nicht bestreiten – und da Sie das Haus kennen, werden Sie mir beistimmen –, der Mann hatte recht. Und doch bezog sich seine Betrachtung auf ganz andere Dinge, auf viel wichtigere, auf Dinge, die für ihn und für meine Behandlung entscheidend waren. Das lehrte der zweite Traum. Der Kranke erzählte: »Es ist ein ganz dummer Traum«, und dabei lachte er. »Ich wollte einen Besuch in einem Hause machen, das einem Schuster gehörte. Vor dem Hause rauften sich zwei Knaben, der eine lief heulend weg. Der Schuster hieß Akeley. Kein Mensch war zu sehen, allmählich kamen einige Dienstboten, aber der Schuster, dem ich Visite machen wollte, ließ sich nicht sehen. Dagegen erschien nach einiger Zeit ein alter Freund meiner Mutter, sonderbarerweise mit einem schwarzbehaarten Kopfe, während er in Wirklichkeit vollständig kahl ist.« Hätte der Kranke beim Erzählen nicht gelacht, hätte er nicht vorher den Tadel gegen das Äußere meines Sanatoriums vorgebracht, vielleicht hätte ich Wochen zubringen können, ehe die Deutung gekommen wäre. So aber ging es rasch. Das Wort ›Akeley‹ gab die erste Aufklärung. Es war aus einem kürzlich erschienenen Werk von Arno Holz genommen, das den Titel ›Die Blechschmiede‹ führt. Es sei höchst geistreicher, erotischer Blödsinn.

Der Hohn gegen meine Person lag auf der Hand, da der Kranke kurz vorher meinen vom gemeinsamen Freunde Groddeck herausgegebenen ›Seelensucher‹ gelesen hatte. Das also war die ›Blechschmiede‹, der Schuster Akeley war ich, das Schusterhaus mein Sanatorium. Das ging auch daraus hervor, daß der Kranke tatsächlich bei seiner Ankunft im Sanatorium eine ganze Weile im Korridor hat stehen müssen, ehe jemand ihm sein Zimmer anwies. Mich selbst hat er erst am nächsten Tage gesehen. Dergleichen 261 Beurteilung des behandelnden Arztes ist in jedem Kranken und immer da, und die Konstanz des abfälligen, nur verdrängten Urteils beweist, daß wir es verdienen. Ich würde den Traum nicht erzählt haben, wenn in ihm nicht auch der Grund angegeben wäre, warum der Kranke mich verachtet. Statt des Schusters erscheint im Traum ein alter Freund seiner verstorbenen Mutter, der seltsamerweise schwarzes Haar hat. Dieser Freund der Mutter stellt den Vater dar, der schwarz behaart ist, weil er ebenfalls tot ist. Der Haß gilt also nicht mir, sondern zunächst diesem Freunde der Mutter und hinter dem dem eigenen Vater. Es ist eine Verdichtung dreier Personen, die deutlich zeigt, welches gerüttelte Maß von Widerstand mein Patient auf mich übertragen hat. Aber der Freund der Mutter ist auch der Kranke selber, der sich eines üppigen, schwarzen Haarwuchses erfreut. Sein Unbewußtes erzählt ihm im Traum, wie ganz anders es sein würde, wenn anstelle des Schusters Troll er selbst die Behandlung leitete. Er hat so unrecht nicht, der Kranke weiß immer besser als der Arzt, was ihm frommt; nur leider vermag er sein Wissen nicht zu denken, sondern nur in Traum, Bewegung, Kleidung, Wesen, Krankheitssymptom auszudrücken, kurz in einer Sprache, die er selbst nicht versteht. Und freilich erzählt diese Identifizierung seiner selbst mit dem Freunde der Mutter und mit dem Vater mehr, als der Kranke ahnte. In ihr steckt der Inzestwunsch, der Wunsch der Kindheit, jedes Kindes Wunsch, Geliebter der Mutter zu sein. Und nun kommt eine seltsame Wendung. Mit einem heiteren, gar nicht spöttischen Lächeln sagt der Kranke: »Der Freund der Mutter hieß Lameer, er war Flame, sein Name hat nichts mit ›la mère‹, die Mutter, zu tun.«

Wirklich nicht? Ich glaube doch. Und das ist tröstlich für die Behandlung; denn wenn der Kranke mich nicht nur mit dem Freund und Gatten der Mutter identifiziert, sondern mit der Mutter selbst, so hat er auch das Gefühl für sie auf mich übertragen, ein Gefühl, das sich seit seinem sechsten Jahr nicht mehr wesentlich geändert haben kann, da damals seine Mutter starb. Vielleicht ist das günstig, vorausgesetzt, daß seine Einstellung zur Mutter gut war, daß er von ihr Hilfe empfing. Aber wer kann das wissen? Es kann auch sein, daß er auch sie mehr haßte als liebte.

Da muß ich auf den Beginn des Traumes zurückgreifen, auf die beiden raufenden Knaben vor dem Schusterhause. Sie sind leicht zu deuten. Sie stellen dasselbe in zwei verschiedenen Zeitfolgen dar, der eine den Phallus im Zustand der Erektion, der zweite, der weinend davonrennt, das Glied im Zustand der Ejakulation. Hinter 262 dieser ersten Deutung steckt die zweite, nach der der eine Knabe der Träumer, der zweite Weinende der Bruder des Träumers ist, den er aus der Gunst der Eltern vertrieben hat. Und als dritte tiefstgelegene Deutung ist der eine Knabe der Träumer selbst, der den andern, seinen Penis, masturbiert. Diese Selbstbefriedigung findet vor dem Hause des Schusters statt, die erotischen Phantasien des Träumers gelten aber, wie der weitere Verlauf des Traumes zeigt, nicht nur dem Schuster, sondern dem Freund der Mutter, das ist der Vater und hinter ihm, wohl versteckt, der Mutter selbst, Lameer.

Ich erzähle Ihnen den Traum, weil in ihm der Träumer die Angriffspunkte der Behandlung mitteilt, ohne es selbst zu wissen. Zunächst verkündet er dem aufmerksamen Zuhörer, längst, ehe der Kranke es selbst klar weiß, daß ein starker Widerstand gegen den Arzt vorhanden ist, daß also wieder einmal der Punkt erreicht ist, der für die Behandlung, ich möchte sagen einzig und allein in Frage kommt. Denn im bewußten oder unbewußten Erkennen und Beseitigen des Widerstandes besteht im wesentlichen die Tätigkeit des Arztes, die um so ersprießlicher sein wird, je klarer der Arzt die Situation erblickt. Weiterhin erzählt der Traum, von wo der Widerstand übertragen worden ist. Er stammt aus der feindseligen Einstellung zum Freunde und Gatten der geliebten Mutter und weiter vorher noch aus dem Rivalitätsstreit der beiden Brüder vor dem Eingang zur Mutter, die hinter mehreren Verschleierungen versteckt doch deutlich die eigentliche Besitzerin des Hauses, des Sanatoriums, in dem man gesundet, des Mutterschoßes, in den man eintritt, ist. Schließlich verrät der Kranke auch noch die Komplexe, um die es sich bei ihm handelt, den des Ödipus und den der Onanie.

Da haben Sie eine Probe von der Art, wie sich das Unbewußte, das Verdrängte verständlich zu machen sucht. Aber ich trage Eulen nach Athen: Denn Sie schreiben mir ja, daß Sie Freuds ›Traumdeutung‹ gelesen haben. Lesen Sie sie noch einmal und noch mehrere Male; Sie werden belohnt werden, wie Sie es selbst nicht ahnen. Jedenfalls ist es überflüssig, daß ich mich weiter auf ein Gebiet begebe, das der Meister selbst und mit ihm Tausende seiner Gefolgschaft in immer neuen Schilderungen jedem, der es betreten will, dargestellt haben. Auch die folgende kleine Erzählung bewegt sich in Bahnen, die Ihnen bekannt sind oder bekannt sein sollten.

Es handelt sich um ein kleines Mädchen von acht Jahren, das sich seit einiger Zeit vor der Schule fürchtet, während es früher gern 263 dorthin ging. Das Rechnen und das Stricken machen ihr Pein. Ich fragte sie, welche Ziffer ihr die unangenehmste sei, und sie nannte sofort die Zwei. Sie mußte eine Zwei hinmalen und sagte dann: »Das Häkchen unten ist unbequem; wenn ich schnell schreibe, lasse ich es weg.« Ich fragte nun, was ihr zu diesem Häkchen einfalle, und ohne Besinnen erwiderte sie: »Ein Fleischhaken«, »für Schinken und Wurst«, fügte sie hinzu, und als ob sie den Eindruck dieser seltsamen Antwort verwischen oder sie erläutern müsse, fügte sie rasch hinzu: »Beim Stricken lasse ich Maschen fallen und dann entsteht ein Loch.« Wenn Sie von diesem Zusatz »es entsteht ein Loch« ausgehen, begreifen Sie, daß der Fleischhaken ein Haken aus Fleisch ist, daß also das Kind eine Zeit durchmacht, in der es sich gründlich mit der Tatsache der beiden Geschlechter auseinanderzusetzen versucht. Und in sehr gedrängter Form gibt sie durch Angst und Fehlhandlung des Häkchenweglassens und des Maschenfallens ihre Theorie kund, daß das Weib, die Zwei in der Familie, keinen Fleischhaken besitzt, ihn vielmehr durch allzu schnelles Schreiben, Onanieren, verloren hat, daß durch die rasche Bewegung der Stricknadeln, ihr Hinein und Hinaus das große Loch entsteht, aus dem das früh lüsterne Mädchen ihr Wässerlein sprudelt, während der Knabe den Strahl aus der engen Öffnung des Penis spritzt. Das ist wahrlich ein schweres Problem für ein Kleinmädchengehirn, und es ist kein Wunder, daß Rechnen und Stricken nicht flecken will. Am nächsten Tage demonstriert das Kind dann weiter seine Kenntnisse, die diesmal tröstlich genug sind. Sie klagt, daß sie beim Stuhlgang schreckliche Schmerzen habe, betont also, daß das Mädchen als Ersatz für das genommene Häkchen Kinder gebären kann, wenn auch mit Schmerzen. Und wiederum in dem dunklen Drang, sich deutlicher zu erklären, beginnt sie zum Staunen der Mutter, die ihr Kind unwissend glaubte, zu erzählen, wie sie dabei gewesen sei, als ein Kalb aus dem Bauche einer Kuh geholt wurde und wie drei niedliche Kätzchen von der Katzenmutter geboren wurden. Es ist drollig zu hören, wie es aus der Seele des Kindes hervorsprudelt, wenn die Schicht über dem Verdrängten irgendwo leckgeworden ist.

In derlei symbolischen Handlungen oder Fehlleistungen äußert sich das Unbewußte gar oft. So traf ich neulich einen meiner Kranken – er gehörte zu den sogenannten Homosexuellen – verstimmt an, weil er seinen Klemmer zerbrochen hatte, ohne den er seines Lebens nicht froh sein könne. Er war ihm in dem Moment von der Nase gefallen, als er von einem Tisch eine Vase fortnehmen wollte. Als ich ihn nach anderen Gegenständen auf dem Tisch 264 fragte, gab er mir die Fotografie seines Freundes an, die noch dort liege. Tatsächlich fand sie sich unter einem Haufen von Kissen und Decken vergraben, mit der Rückseite nach oben, so daß man das Bild nicht sehen konnte. Es stellte sich heraus, daß der Freund ihm mit einem Mädchen untreu geworden war. Da es nicht in seiner Macht stand, den Knaben von dem Mädchen fernzuhalten, wollte er wenigstens beide symbolisch trennen und nahm die Vase, die das Mädchen darstellte, weg. Dem folgte darauf automatisch das Umdrehen der Fotografie auf die Bildseite, das Zudecken mit den Kissen und das Zerbrechen des Klemmers. In die Sprache des Bewußten übersetzt heißt das: »Ich will den Treulosen nicht mehr sehen. Seine Rückseite bleibt mir doch immer, denn die weiß ein Mädchen nicht zu schätzen. So möge denn die Fotografie verkehrt liegen.« »Es ist doch sicherer, auch die Rückseite zu schützen. Decken wir sie mit Kissen zu.« »Das ist gut, nun sehe ich nichts mehr von ihm, zumal wenn ich noch eine Decke drauftue.« »Es genügt nicht: Ich leide zu sehr. Am besten ist, ich mache mich blind. Dann brauche ich seinen Treubruch nicht zu bemerken und kann ihn liebbehalten.« Und damit zerbricht der Arme seinen Klemmer.

Das Unbewußte experimentiert seltsam mit den Augen. Es schaltet Eindrücke auf der Netzhaut aus dem Bewußtsein aus, wenn sie unerträglich sind. Eines Tages forderte ich eine meiner Kranken auf, die Gegenstände auf ihrem Schreibtisch genau zu betrachten und sie sich zu merken. Als ich sie dann aufforderte, mir zu sagen, was auf dem Tische stand, zählte sie alles auf, bis auf die Fotografien ihrer beiden Söhne, die sie trotz mehrfachem Hinweis, daß sie zwei Dinge unterschlage, nicht nannte. Als ich sie fragte, warum sie die beiden Bilder fortlasse, war sie verwundert: »Ich habe sie nicht gesehen«, sagte sie, »und das ist um so auffallender, als ich sie täglich und auch heute selbst abstaube. Aber freilich, Sie sehen ja, die armen Jungen stecken in der Uniform. Der eine ist schon gefallen, der andere ist mitten in den Kämpfen vor Warschau. Wozu sollte ich mein Leid, wenn ich es unterdrücken kann, durch meine Augen wecken?«

Ein anderer klagte darüber, ihm sei plötzlich schwarz vor den Augen geworden: das geschehe häufig. Ich bat ihn, sich in Gedanken nochmals an den Platz zu stellen, wo ihn der schwarze Nebel überfallen hatte, und mir zu sagen, was er sehe. »Steine«, sagte er. »Ich ging eine Treppe hinauf, und es waren die steinernen Stufen, die ich sah.« Damit war wenig anzufangen. Aber da ich hartnäckig dabei blieb, daß der Anblick der Steine seinen Schwindel verursacht habe, versprach er, darauf zu achten. Tatsächlich kam er am 265 nächsten Tage damit hervor, daß er bei einem neuen Anfall wiederum Steine gesehen habe. Die Sache sei vielleicht doch nicht ganz von der Hand zu weisen, denn er wisse jetzt, daß er die ersten Beschwerden ähnlicher Art in Ostende gehabt habe, das ihm stets wie eine trostlose Anhäufung von Steinen und viel zu vielen kaltherzigen Menschen vorgekommen sei. Als ich fragte, was denn eine solche Anhäufung von Steinen und Menschen bedeute,. sagte er mir: »einen Kirchhof«. Da ich wußte, daß er in Belgien erzogen war, machte ich den Versuch, ihn auf den Gleichlaut ›pierre‹ und ›Pière‹ hinzuweisen. Er erklärte aber, daß weder ein Peter noch ein Pière je eine Rolle in seinem Leben gespielt hätten. Am nächsten Tage kam er von selber auf die Sache zu sprechen. Ich könne doch wohl recht haben. Sein Elternhaus, in dem er schon mit sechs Jahren seine Mutter verlor und das kurz nach ihrem Tode verkauft wurde, weil der Vater nach Ostende übersiedelte, lag in der Rue St. Pière, und wenn auch die Mutter nicht auf dem Kirchhof St. Pière begraben sei, so habe doch seinem Kinderzimmerfenster gegenüber der riesige Steinhaufen der Kirche St. Pière gelegen. Er sei oft genug mit seiner Mutter in dieser Kirche gewesen, und die Steinmassen des Inneren mitsamt dem Gedränge der Andächtigen habe ihn stets verwirrt. Zu dem Wort ›Ostende‹ fiel ihm dann ›Rußland‹ ein, das Land des Rußes, das schwarze Land, das Land des Todes. Seit jenem Tage des Bewußtwerdens verdrängter Komplexe ist ihm nicht mehr schwarz vor den Augen geworden, dagegen hat sein Es eine andere Maßregel der Verdrängung nicht aufgehoben. Der Kranke, der von seiner Mutter streng katholisch erzogen war, hatte den Glauben unter dem Druck des Verdrängungswunsches aufgegeben: Er ist aber trotz der Aufhebung der Verdrängung nicht wieder zur Kirche zurückgekehrt.

Besinnen Sie sich auf Frau von Wessels? Wie kinderlieb sie ist und wie sie unter der Tatsache leidet, keine eigenen Kinder zu haben? Eines Tages saß ich mit ihr am Waldrand: Die Unterhaltung schleppte seit einiger Zeit und stockte schließlich ganz. Plötzlich sagte sie: »Was ist das mit mir? Von allem, was rechts von mir ist, sehe ich nicht das geringste, während links alles klar und deutlich ist.« Ich fragte sie, wie lange das Phänomen schon dauere, und sie erwiderte: »Schon vorhin im Walde habe ich es bemerkt.« Ich bat sie, mir irgendeine Stelle unseres Spazierganges zu nennen, und sie gab eine Wegkreuzung an, die wir passiert hatten. »Was war an dieser Stelle rechts von Ihnen?« fuhr ich fort. »Dort ging die Dame mit ihrem kleinen Knaben an uns vorüber. Übrigens sehe ich jetzt alles wieder deutlich.« Und nun erinnerte sie sich lachend, 266 wie sie mich den ganzen Weg vor der Kreuzung mit der Phantasie unterhalten hatte, daß sie ein kleines Häuschen fern von allen Menschen mit Hühnern und Enten und allerlei Getier hätte und dort mit ihrem Söhnchen hauste, während der Vater nur ab und zu auf einen Tag zu Besuch käme. »Wenn ich nicht längst wüßte, daß Sie recht haben mit Ihrer Behauptung, alle Krankheiten seien Schöpfungen des Es, zu irgendwelchen erkennbaren Zwecken, würde ich mich jetzt davon überzeugt haben. Denn meine halbseitige Blindheit kann nur dadurch hervorgerufen worden sein, daß ich den Anblick jener Mutter mit ihrem Söhnchen nicht ertragen konnte.«

Hysterisch? Gewiß, kein Arzt und kein Gebildeter wird mit der Diagnose zögern. Aber wir beide, Sie und ich, haben gelernt, auf die Bezeichnung ›Hysterie‹ zu pfeifen, kennen beide Frau von Wessels und können höchstens aus Ehrfurcht vor der bebrillten Gelehrsamkeit zugeben, daß diese Frau für eine halbe Stunde hysterisch wurde. Aber was sollen wir uns mit solch erzdummem und teuflischem Wort wie Hysterie noch weiter befassen? Lassen Sie sich lieber erzählen, was einige Jahre später geschah.

Eines Abends traf ich Frau von Wessels nach dem Theater. Sie sagte mir, daß sie hergekommen sei, um vielleicht einen alten Bekannten zu treffen, dessen Namen sie vor einigen Stunden im Fremdenblatt gelesen habe. Mir fiel auf, daß ihr linkes oberes Augenlid stark gerötet und geschwollen war. Sie hatte es selbst noch nicht bemerkt, zog ihren Taschenspiegel hervor, besah sich das Auge und sagte: »Es würde mich nicht wundern, wenn das Es mich wieder einmal mit einer halben Blindheit narren wollte.« Dann fing sie wieder an, von dem unvermuteten Eintreffen des früheren Freundes zu erzählen, unterbrach sich jedoch plötzlich mit den Worten: »Jetzt weiß ich, woher das dicke Auge kommt. Es ist entstanden, als ich den Namen meines Anbeters in der Fremdenliste las.« Und nun berichtete sie, wie sie mit diesem Herrn während der langen Todeskrankheit ihres ersten Mannes kokettiert habe. Sie erzählte allerlei Einzelheiten aus jener Zeit und vertiefte sich immer mehr in die Idee, daß ihr Auge dick geworden sei, damit sie den beschämenden Namen nicht zu sehen brauche, akzeptierte auch meinen Gegenvorschlag, daß ihr Es sie noch nachträglich an dem Gliede strafe, mit dem sie gesündigt habe. Der Erfolg schien uns recht zu geben, denn als die Freundin wegging, war die Geschwulst verschwunden. Am nächsten Tage hatte sie einen heftigen Streit mit ihrem zweiten Mann wegen ihrer Stieftochter. Beim Nachmittagstee war ich zugegen und bemerkte, wie 267 sie die ganze Zeit über von der links sitzenden Stieftochter das Gesicht wegdrehte und wie langsam das Augenlid wieder anschwoll. Ich sprach später mit ihr darüber, und sie gab an, daß sie, die Kinderlose, den Anblick der Stieftochter nicht ertragen habe und wahrscheinlich deshalb das dicke Auge wieder bekommen habe. Das gab ihr einen neuen Gedanken ein, den sie eine Zeitlang verfolgte. Möglicherweise sei die Stieftochter auch gestern die Ursache der Lidschwellung gewesen. Bald darauf kam sie jedoch auf ihren alten Gedanken zurück, daß es der Name ihres alten Courmachers in der Fremdenliste gewesen sein müsse. »In ein paar Tagen«, sagte sie, »jährt sich der Todestag meines ersten Mannes. Ich habe seit Jahren beobachtet, daß ich um diese Zeit stets irgendwie krank und elend werde, und ich glaube, daß ich den Streit mit Karl – das ist der Name des Herrn von Wessels – herbeigeführt habe, um einen Grund zum Weinen um meinen ersten Mann zu haben. Das ist mir um so wahrscheinlicher, als mir eben einfällt, daß ich vorgestern, also schon am Tag vor der Anschwellung, im Krankenhaus dabei war, wie ein Nierenkranker mit dem charakteristischen, urämischen Geruch, den auch mein Mann hatte, sich mit dem Spatel den Belag von der Zunge schabte, genau wie mein verstorbener Mann. Am selben Abend habe ich beim Anblick von Meerrettichsauce Übelkeit bekommen, die sofort verschwand, als ich mir die Ähnlichkeit der Sauce mit dem Zungenbelag klarmachte. Der Anblick der Stieftochter war mir unerträglich, weil sie mir die Tatsache des Treubruches gegen meinen ersten Mann durch ihr Dasein vor Augen führte. Denn Sie können sich denken, daß ich in jener Trauerzeit tausend Schwüre getan habe, nie wieder zu heiraten.« Wiederum war die Anschwellung des Auges während der Unterhaltung verschwunden.

Damit war die Entzündung des Augenlides endgültig erledigt. Statt dessen erschien jedoch am folgenden Tage Frau von Wessels mit einer halbzolldicken Oberlippe. Gerade über dem Zipfel der Lippe dicht am Rand hatte sich ein feuerroter Fleck gebildet, so daß das Lippenrot fast um das Doppelte breiter zu sein schien. Halb lachend, halb zornig gab sie mir einen Brief, den eine entfernte Bekannte an eine ihrer Freundinnen geschrieben hatte und den ihr diese Freundin voller Empörung zugeschickt hatte, wie es Freundinnen zu tun pflegen. In diesem Brief stand neben allerlei anderen Liebenswürdigkeiten zu lesen, daß Frau von Wessels mit ihrer, jedem Auge sofort erkennbaren groben Sinnlichkeit eine echte Hexe sei. »Schauen Sie meinen Mund an«, sagte sie spöttisch, »kann es einen besseren Beweis für meine grob sinnliche Natur 268 geben, als diese schwellenden, grellroten Lippen? Fräulein H. hat ganz recht, mich eine Hexe zu nennen, und ich konnte sie nicht Lügen strafen.« Die Sache interessierte mich aus verschiedenen Gründen, von denen ich Ihnen den einen nachher mitteilen werde, und ich verwendete einige Tage lang viel Zeit auf eine gründliche Analyse, deren Resultat ich Ihnen kurz mitteilen will.

Die Sache drehte sich weder um den Tod ihres Mannes noch um die Stieftochter noch um den alten Anbeter, sondern der Angelpunkt war eben jenes Fräulein H., deren Brief ihr die dicke Lippe verschafft hatte. Diese, mit Frau von Wessels seit alters her verfeindete Dame – nennen wir sie Paula – war an demselben Abend – Freitag, dem 16. August, – im Theater gewesen, an dem die Lidschwellung des linken Auges zum ersten Male aufgetreten war, und zwar hatte sie links von Frau von Wessels gesessen. Genau acht Tage vorher, am Freitag, dem 9. August, war Frau von Wessels ebenfalls im Theater gewesen – wie Sie wissen, ist dieser mehrfache Besuch des Theaters etwas Unerhörtes bei ihr. – Ihr zweiter Mann war mit ihr gewesen, und links von ihr hatte dieselbe Paula ihren Platz, von der sie wußte, daß sie – vergeblich Herrn von Wessels nachgestellt hatte. Frau von Wessels hatte an jenem ersten Freitag – dem 9. August – den haßerfüllten Blick aus den auffallenden grauen Augen Paulas aufgefangen, die unter Umständen einen eigentümlich harten und stechenden Ausdruck haben. Dieselben grauen Augen hat die Frau jenes Nierenkranken, mit dessen Zungenbelag sie die Übelkeit am Donnerstag, dem 15., abends, in Zusammenhang brachte. Bei dem Besuch dieses Kranken, der mit seinem Uringeruch sie an den Tod des ersten Mannes erinnerte, war seine Frau mit den grauen Augen zugegen gewesen. Der Name dieser Frau ist Anna, Anna ist aber auch der Name der ältesten Schwester von Frau von Wessels, unter der sie als Kind über alle Maßen gelitten hat. Und diese Schwester Anna hat dieselben harten, stechenden Augen wie Paula. Und nun kommt das Seltsame: Frau von Wessels Schwester Anna hat am 21. August Geburtstag. Am 15. August hat Frau von Wessels den Kalender angesehen und beschlossen zu schreiben, am 16. hat sie schreiben wollen, ist aber statt dessen ins Theater gegangen, um ein Ballett, das heißt schöne Beine zu sehen, am 17. hat sie wiederum den Geburtstagsbrief aufgeschoben und erst am 18., dem Tag der dicken Lippe, gratuliert, und schließlich am 21., dem Geburtstag selbst, ist die Lippengeschwulst rasch verschwunden, und die bis dahin stockende Analyse floß plötzlich in raschem Lauf, und eine Menge wirrer Verknäuelungen lösten sich.

269 Frau von Wessels erzählte mir: »Als ich etwa mit vierzehn Jahren Näheres über die Schwangerschaft erfuhr, habe ich den Geburtstag meiner damals rechtschaffen gehaßten Schwester Anna mit dem Hochzeitstage meiner Eltern verglichen und bin zu dem Resultat gekommen, daß sie schon vor der Hochzeit entstanden sein müßte. Daraus zog ich zwei Schlüsse: Einmal daß meine Schwester nicht echtbürtig sei – das erscheint in meiner sonst gar nicht vorhandenen Abneigung gegen meine Stieftochter am 17. August wieder, denn diese Stieftochter stammt nicht von mir, ist also nicht echtbürtig, sondern vorehelich – und dann, daß meine damals ebenso rechtschaffen gehaßte Mutter eine grob sinnliche Frau sei, eine Annahme, zu der ich mich zu jener Zeit um so mehr berechtigt glaubte, weil meine Mutter ein halbes Jahr vorher – also in meinem 14. Lebensjahr – noch ein Kind bekommen hatte. Sie als Analytiker wissen ja, was für Neid sich bei so späten Schwangerschaften in dem Herzen der älteren Tochter ansammelt. Ich habe stets dieses Nachrechnen der Schwangerschaftsdaten meiner Schwester Anna für die erbärmlichste Handlung meines Lebens gehalten, und auch jetzt wird mir das Geständnis schwer. Wie Sie an meiner Lippe gesehen haben, bestrafe ich mich für die Schandtat gegen meine Mutter damit, daß ich meine eigene Sinnlichkeit vor aller Welt offenbare, nachdem einmal der Vorwurf von Fräulein Paula erhoben worden ist. Nun weiter: Ich weiß, daß meine Schwester Anna darauf rechnet, in meinem Geburtstagsbrief für den Oktober hierher eingeladen zu werden. Ich will sie aber nicht hier haben, obwohl ich meine Abneigung dagegen als schlecht empfinde. Der Mund, der diese Einladung nicht aussprechen will, muß bestraft werden. Dieser selbe Mund muß aber auch dafür bestraft werden, daß ich ihn zur Zeit jenes Nachrechnens des Hochzeits- und Geburtsdatums einen frevelhaften Schwur tun ließ, ich wolle niemals ein Kind gebären. Dieser Schwur fiel in den Augenblick, wo ich zufällig das Schreien einer Kreißenden mit anhörte. Die Verbindung mit meinem Munde ist durch eine meiner Bekannten gegeben, die nach langer, langer Kinderlosigkeit schwanger geworden ist und deren früher zusammengekniffene Lippen jetzt voll und rot sind. Ich habe diese Bekannte am 15. August gesehen und eingehend mit ihr über das kommende Kind gesprochen. Soviel kann ich zur Erklärung der Mundanschwellung angeben.

Was das Auge betrifft, so ist das sehr einfach. Ich habe von den zahlreichen Schwangerschaften meiner Mutter nicht eine einzige erkannt, auch die des jüngsten Kindes nicht, obwohl ich schon 270 dreizehn Jahre alt war und sehr gut wußte, wie die Kinder auf die Welt kommen. Der Versuch also, mich gegen Schwangerschaft blind zu machen, ist sehr alt, und daß ich jetzt gelegentlich zu dem bewährten Mittel greife, mein gutes linkes Auge – das rechte ist ziemlich unbrauchbar – auszuschalten, wenn der Schwangerschaftskomplex meiner Mutter an mich herantritt, wundert mich nicht. Es sind da aber noch andere Dinge. So weiß ich zum Beispiel jetzt, daß mich bei dem Besuch des Nierenkranken nicht der Uringeruch störte, sondern der nach Kot, das heißt, hinter der Erinnerung an den Tod meines Mannes versteckt sich die tief beschämende an einen Augenblick, wo meine Mutter mir die Backe streichelte und ich, statt mich der Zärtlichkeit zu freuen, dieser liebenden Hand einen Kotgeruch andichtete, mit andern Worten ihr Gewohnheiten unterschob, denen ich als Kind selber gefrönt haben muß. Ich überlasse es Ihrem Scharfsinn, ob Meerrettich irgend etwas mit meiner Mutter zu tun hat.«

»Von dieser Erlaubnis mache ich Gebrauch. ›Meer‹ scheint mir mit ›mère‹ zusammenzuhängen, und der Rettich ist ein bekanntes Mannessymbol. Der Spruch: Einen Rettich in den After stecken, führt zu dem Klosettgeruch.«

»Der Geruchseindruck führt mich nun wieder auf des Nierenkranken Frau, auf ihre grauen Augen, auf die harten Augen von Paula und auf die meiner Schwester Anna zurück. Die Angst vor Paula, die ich ganz gewiß habe, beruht auf diesen Augen, die eben Annas gefürchtete Augen sind. Wenn ich aber gesagt habe, daß ich meine Schwester Anna haßte, so muß ich diese Aussage einschränken. Etwas liebte ich an ihr über alle Maßen, das waren ihre Beine und ihre Unterhosen. Ich besitze noch jetzt eine ganze Sammlung von Annabeinen in Spitzenhöschen, die ich in meiner Schulzeit an den Rand meiner Hefte gezeichnet habe. Ihre Beine sind jedenfalls bei meiner Vorliebe für das Ballett stark beteiligt, und Sie wissen, daß ich am 16. im Theater war, um schöne Beine zu sehen. Und da ist gleich eine weitere Verbindung, die in die fernsten Fernen meiner Kindheit führt, von wo dann kein weiterer Weg mehr ist außer dem der Phantasie. Die Angst vor harten Augen geht nämlich auf meine Großmutter zurück, die ich entsetzlich fürchtete. Das erste, was sie tat, wenn wir zu ihr kamen, war, daß sie uns die Röckchen hochhob, um zu sehen, ob wir reine Hosen anhätten. Ich begriff schon damals, daß sich dieses Manöver nicht gegen mich, sondern gegen meine Mutter richtete, und wegen ihrer Feindschaft gegen Mutter war mir die Alte in der Seele zuwider. Trotzdem halte ich es für möglich, daß dieses Untersuchen der Hosen für mich 271 lustvoll war. Aber bedenken Sie, den Vorwurf des Schmutzes, den ich der Alten so schwer anrechnete, erhob ich später selbst gegen meine Mutter bei Gelegenheit des Backenstreichelns. Das ist schlimm.

Und noch etwas anderes. Eine Tante von mir wurde – in meiner frühesten Kindheit hörte ich davon – von meinen Großeltern verstoßen, weil sie vor der Hochzeit von ihrem Verlobten schwanger wurde. Wieder derselbe Tadel, den ich gegen die Mutter vorgebracht hatte. Die Großmutter war für mich die Hexe schlechthin. Und von diesem Wort ›Hexe‹ geht nun wieder ein Weg zu Paula und den Erscheinungen der letzten Tage. Es war mir bekannt, daß Paula, deren Gehirn mit allerlei okkulten Phantasien spielt, mir telepathische Kräfte zuschrieb und mich Hexe nannte. Denselben Ausdruck habe ich oft für die Mutter meiner Stieftochter verwandt, die ich freilich nur vom Ansehen oder besser vom Sehen und Hören kannte. Als ich ihre Stimme zum ersten Male hörte, durchfuhr mich ein Eises-Schrecken, ich fühlte, daß in dieser Stimme etwas Gräßliches aus meiner Kindheit war. Und als ich die Frau dann sah, fiel mir sofort auf, daß sie meiner Schwester Anna harte Augen hatte, und nun wußte ich auch, daß ihre Stimme die der Großmutter, der Hexe war. Die merkwürdige Abneigung des 17., meine Stieftochter anzusehen, hing damit zusammen, daß ich ihre Mutter mit meiner Großmutter und meiner Schwester und meiner Gegnerin Paula identifizierte, daß sie also die schwersten, am tiefsten verdrängten Erinnerungen wachrief. Soweit ich die Sache verstehe, muß ich also die Ursachen für die Vorgänge an Auge und Lippe in Konflikten mit meiner Großmutter, Mutter und ältesten Schwester suchen, die durch das Geburtstagsdatum und die Begegnung mit Paula aus ihrem Verdrängungsschlaf wachgerufen wurden, während die jährlich hervorgeholte Trauer um meinen ersten Mann ein Versuch ist, diese unbequemen Komplexe zuzudecken. Die Erschwerung des Sehens durch die Lidgeschwulst ist derselbe Versuch zu verdrängen in anderer Form, im Krankheitssymptom. ›Ich will nicht sehen‹, und folgerichtig kommt dann, als das Sehen der Komplexe infolge der Häufung der Phänomene nicht mehr zu verhindern ist, der Wunsch, wenigstens nicht davon zu sprechen, was sich in der Schwellung der Lippe und der damit verbundenen Unbequemlichkeit im Sprechen äußert. Beides sind zugleich auch Strafen für das Sehen nach schönen Beinen und das Verschwören jeder Schwangerschaft.«

Ich lasse es dahingestellt, liebe Freundin, ob Frau von Wessels mit 272 ihren Betrachtungen recht hat. Sicher hat sie noch eine Menge Material unterschlagen und von dem, was sie gab, kaum die Hälfte gedeutet. Ich erzähle Ihnen die Geschichte, weil hier eine nicht dumme Frau in anschaulicher Weise erzählend schildert, wie ich mir die Äußerungsform des Es durch das Krankheitssymptom denke. Ich habe aber, wie ich schon vorhin andeutete, noch einen andern Grund gehabt, diese Dinge so breit zu berichten. Zu jener Zeit, als Frau von Wessels ihre Augen- und Lippenerlebnisse hatte und mir vom Geruch der Urämischen sprach, befand sich in meiner Anstalt ebenfalls ein Nierenkranker, der diesen charakteristischen Geruch hatte. Ich bekam ihn in den letzten Stadien in Behandlung und übernahm es, sein Sterben zu beobachten und zu erleichtern, weil seine Mundform mit ihren scharf zusammengepreßten, dünnen Lippen mir eine Bestätigung meiner Annahme zu sein schien, daß das Es durch das Zurückhalten der Uringifte dasselbe aussagt wie durch die zugekniffene Form des Mundes. Für mich bedeutet die Urämie den tödlich gefährlichen Kampf des verdrängten Willens gegen das immer wieder emporstrebende Verdrängte, gegen starke aus frühester Kindheit herrührende und in tiefsten Schichten der Konstitution liegende und wirkende Urinabsonderungskomplexe. Der Fall hat meine phantastischen unwissenschaftlichen Forschungen, für die ich durch mein eigenes Nierenleiden einen persönlichen Antrieb habe, nicht wesentlich gefördert. Ich müßte mich denn entschließen, einige seltsame Erscheinungen im Verlauf dieser Tragödie mit dem Versuch, das Es zu deuten, in Verbindung zu bringen. Da müßte ich erwähnen, daß bei dem Kranken schon nach den ersten Tagen der Analyse die jahrzehntealte Verstopfung in Diarrhoe umschlug, deren Gestank unsagbar greulich war. Man könnte, wenn man genügend närrisch ist, den höhnischen Ruf des Es daraus heraus lesen: »Ich will wohl den körperlichen Dreck hergeben, den ich sonst zurückhielt, den seelischen aber gebe ich nicht her.« Man könnte das Erbrechen ähnlich deuten – allerdings pflegt das ja bei Urämie aufzutreten, ebenso wie die Durchfälle –, während man andererseits mit einigem Wagemut sagen könnte, der urämische Krampfanfall – und schließlich das Sterben – sind Zwangsmittel des verdrängenden Es, um das Bewußtwerden der Komplexe zu verhindern. Schließlich ließe sich auch eine merkwürdige, von mir sonst nicht beobachtete wassersüchtige Verdickung der Lippen, durch die der Mund all seine Verkniffenheit verlor, als spöttisches Zugeständnis des Es deuten, das dem Munde die Freiheit wiederzugeben scheint, 273 während es ihm in Wahrheit durch das Ödem das Sprechen verbietet. Aber das alles sind Gedankenspiele, die ich mir leiste, für die ich aber nicht die geringste tatsächliche Gewähr habe.

Dafür habe ich aber während jener Tage etwas Komisches erlebt, was ich kraft meiner Eigenschaft als persönlich Erlebender mit ziemlicher Gewißheit deute. In den Tagen, in denen ich mich infolge des Lippenabenteuers ernsthaft mit Frau von Wessels Analyse beschäftigte, traten die ersten urämischen Krämpfe bei meinem Kranken auf. Ich blieb über Nacht im Sanatorium und nahm, da es kalt war, eine heiße Gummiflasche mit ins Bett. Vor dem Einschlafen schnitt ich mit einem spitzen Papiermesser eine Nummer der psychoanalytischen Zeitschrift Freuds auf und blätterte darin. Unter anderm fand ich darin die Anzeige, daß Felix Deutsch in Wien einen Vortrag über Psychoanalyse und organische Krankheiten gehalten hatte, ein Thema, das ich, wie Sie wissen, seit langem in mir wälze und das ich unserm gemeinsamen Freunde Groddeck zur Bearbeitung überlassen habe. Ich legte Zeitschrift und Papiermesser unter mein Kopfkissen und fing an, ein wenig über diesen Gegenstand zu phantasieren, wobei ich denn bald bei meinem Urämischen und meiner Deutung der Harnverhaltung als Verdrängungszeichen landete. Ich schlief darüber ein, wachte aber gegen Morgen mit einem seltsamen Gefühl der Nässe auf, so daß ich glaubte, ins Bett gepinkelt zu haben. Tatsächlich hatte ich im Schlaf mit dem Papiermesser die Gummiflasche angestochen, so daß das Wasser im kleinen Sprudel hervorquoll. – Nun, die folgende Nacht blieb ich wieder in der Anstalt, und weil ich gern nasche, hatte ich mir dieses Mal ein paar Stück Schokolade mitgenommen, wie ich es öfter tue. Was denken Sie, was passiert? Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind mein Hemd und mein Bettlaken über und über mit Schokolade beschmiert. Es hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit Aa, und ich war so beschämt, daß ich sofort die Bezüge des Bettes eigenhändig abnahm, damit das Dienstmädchen nicht denken sollte, ich hätte ein großes Geschäft ins Bett gemacht. Gerade diese seltsame Idee jedoch, das Bett abzuziehen, weil sonst der Verdacht kommen könnte, ich hätte meine Notdurft darin verrichtet, brachte mich darauf, mich ein wenig zu analysieren. Da fiel mir denn ein, daß ich schon bei dem Wärmflaschenabenteuer empfunden hatte, es ließe sich als Bettnässen deuten. Und da ich so ganz und gar mit dem Gedanken bei dem Urämischen gewesen war, so erklärte ich mir die Sache so: »Dein Es sagt dir, du brauchst, obwohl deine Nieren nicht sauber 274 sind, keine Sorge zu haben, daß du je Urämie bekommst: du siehst ja, wie leicht du Urin und Dreck von dir gibst, du hältst nicht zurück, verdrängst nicht, bist wie ein Säugling, schuldlos und offen mit Herz und Bauch.« Wenn ich nicht wüßte, wie listig das Es ist, hätte ich mich wohl damit begnügt. Aber so gab ich mich nicht damit zufrieden, und auf einmal schoß mir der Name Felix durch den Kopf; Felix, so hieß der Herr, der über Psychoanalyse und organische Krankheiten gesprochen hatte. Felix Schwarz hieß aber auch ein Schulfreund, und dieser Schulfreund war an Urämie im Gefolge von Scharlach zugrunde gegangen. Schwarz, das ist der Tod. Und in ›Felix‹ steckt das Glück, und die Verbindung von ›Felix‹ und ›Schwarz‹, von Glück und Tod kann nur der Augenblick der höchsten Geschlechtslust, verbunden mit der Angst vor Todesstrafe, sein, mit andern Worten, es ist der Onaniekomplex, dieser uralte Komplex, der immer wieder unterirdisch sich regt, wenn ich an meine Nierenkrankheit denke. – Damit schien mir die Deutung, die ich den beiden Unfällen gegeben hatte, nun bestätigt zu sein. Mein Es sagte damit: »Sei ehrlich, verdränge nicht und dir wird nichts geschehen.« Zwei Stunden später wurde ich eines Besseren belehrt. Denn als ich an das Bett meines Urämiekranken trat, traf mich plötzlich der Gedanke: Der sieht aus wie dein Bruder Wolf. Noch nie hatte ich die Ähnlichkeit bemerkt, aber jetzt sah ich sie deutlich. Und dunkel erhob sich vor mir die Frage: Was hat dein Bruder Wolf oder das Wort ›Wolf‹ mit deinen Verdrängungen zu tun? Immer wieder taucht es auf, so viele Analysen du auch angestellt hast, und nie findest du die Lösung. Auch die, die dir jetzt durch den Kopf schießt, ist nicht die letzte, tiefste.

Trotzdem will ich sie Ihnen nicht unterschlagen. Als ich ganz kleines Kind war – doch schon alt genug, um Erinnerungen zu bewahren –, lief ich mir oft die Kerbe zwischen den Popobäckchen wund, bekam also einen Wolf. Ich ging dann zur Mutter, und sie strich mir Salbe in die Kerbe. Das hat mir gewiß einen Anstoß zur späteren Onanie gegeben, war gewiß schon eine Form kindlicher Onanie, bei der ich in halbbewußter, fuchsschlauer List zur bösen Tat die Hand der Mutter benutzte, wohl in Erinnerung an die Wonnen, die jeder Säugling durch die Reinlichkeitssorge der Kinderpflegerin empfängt. Und als ich so weit mit dem Analysespiel war, fiel mir noch ein, daß ich am Tage vorher mir wirklich beim Radeln einen ›Wolf‹ zwischen den Schenkeln angeradelt hatte. »Das ist also der Wolf, den du so lange suchtest«, jubelte es in mir, und ich war freudig und half dem Weibe meines Kranken über eine schwere Stunde hinweg. Aber als ich zur Tür hinaustrat, wußte 275 ich: Auch das ist die Lösung nicht! Du verdrängst, und wenn dir dein Es und deine Freunde noch so sehr die Offenheit nachrühmen, du bist doch genau wie andere. Und anständig ist nur der, der ist wie jener Zöllner: »Gott sei mir gnädig.« Aber finden Sie nicht, daß selbst dies letzte, gerade dies letzte, pharisäisch ist?

Adjö, Liebe. Ich bin Ihr

Patrik

 


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