Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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5. Brief

Ich habe mich also nicht getäuscht, liebe Freundin, wenn ich annahm, daß Sie nach und nach Interesse für das Unbewußte bekommen würden. Daß Sie über meine Sucht zu übertreiben spotten, bin ich gewöhnt. Aber warum suchen Sie sich dazu gerade meine Entbindungswollust aus? In der Sache habe ich recht. 53 Sie haben neulich geäußert, daß Ihnen meine kleinen eingestreuten Erzählungen zusagen. »Es macht die Sache lebendig«, meinen Sie, »und man ist fast versucht, Ihnen zu glauben, wenn Sie so gediegene Tatsachen vorbringen.« Nun, ich könnte sie ja auch erfinden oder wenigstens frisieren. Das kommt innerhalb und außerhalb der Gelehrsamkeit vor. Gut, Sie sollen Ihre Geschichte haben.

Vor einigen Jahren gebar eine Frau nach längerer Unfruchtbarkeit ein Mädchen. Es war eine Steißgeburt, und die Frau wurde im Wöchnerinnenheim von einem bekannten Geburtshelfer unter Beihilfe zweier Assistenten und zweier Hebammenschwestern in der Narkose künstlich entbunden. Zwei Jahre darauf kam es zu einer zweiten Schwangerschaft, und da ich inzwischen mehr Einfluß auf die Frau gewonnen hatte, wurde verabredet, bei der Entbindung nichts ohne mein Wissen zu tun. Die Schwangerschaft verlief im Gegensatz zu der ersten ohne alle Beschwerden. Es wurde beschlossen, die Geburt zu Hause vor sich gehen zu lassen und nur eine Hebammenschwester zuzuziehen. Kurz vor der Entbindung wurde ich auf Wunsch der Hebammenschwester zu der Dame, die in einer anderen Stadt wohnte, gerufen. Das Kind läge in Steißlage, und was nun geschehen solle. Als ich hinkam, lag tatsächlich das Kind mit dem Steiß voran, die Wehen hatten noch nicht begonnen. Die Schwangere war in großer Angst und wünschte, in die Klinik geschafft zu werden. Ich habe mich zu ihr gesetzt, ein wenig in ihren mir schon ziemlich bekannten Verdrängungskomplexen geforscht und ihr schließlich in glühenden Farben – ich denke, Sie wissen, ob mir so etwas gelingt – die Lust der Entbindung geschildert. Frau X. wurde vergnügt, und ein eigentümlicher Ausdruck in den Augen sagte, daß der Funke zündete. Dann suchte ich herauszubekommen, weshalb das Kind wieder in die Steißlage gekommen war. »Dann ist die Geburt leichter«, sagte sie mir. »Der kleine Popo ist weich und erweitert den Weg sanfter und gemächlicher als der dicke, harte Kopf.« Nun habe ich ihr die Geschichte von dem dicken und dünnen, harten und schlaffen Instrument in der Scheide erzählt, ungefähr so, wie ich es Ihnen neulich beschrieb. Das machte Eindruck, aber es blieb noch ein Rest Mißvergnügen. Schließlich sagte sie, sie möchte mir ja gern glauben, aber alle andern hätten ihr so viel Schreckliches von dem Schmerz der Geburt gesagt, daß sie doch lieber narkotisiert werden möchte. Und wenn das Kind mit dem Steiß voran läge, würde sie betäubt, das wisse sie aus Erfahrung. Also sei die Steißlage doch vorzuziehen. Darauf habe ich ihr gesagt, wenn sie so dumm sei, 54 sich durchaus um das höchste Vergnügen ihres Lebens bringen zu wollen, so solle sie es nur tun. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie sich betäuben ließe, sobald sie es nicht mehr aushalten könne. Dazu sei aber die Steißlage nicht nötig. »Ich gebe Ihnen die Erlaubnis zur Narkose, auch wenn der Kopf vorliegt. Sie sollen selbst darüber entscheiden, ob narkotisiert werden soll oder nicht.« Damit bin ich abgereist, und schon am nächsten Tage erhielt ich die Nachricht, daß das Kind eine halbe Stunde nach meinem Weggehen mit dem Kopf nach unten gelegen habe. Die Entbindung ist dann glatt vor sich gegangen. Die Wöchnerin schilderte mir in einem hübschen Brief den Verlauf. »Sie haben ganz recht gehabt, Herr Doktor, es ist wirklich ein hoher Genuß gewesen. Da neben mir auf dem Tisch die Ätherflasche stand und ich die Erlaubnis zur Narkose hatte, hatte ich nicht die mindeste Angst und konnte jeden Vorgang genau beobachten und hemmungslos werten. Einen Augenblick wurde der Schmerz, der bis dahin etwas aufregend Reizvolles gehabt hatte, übergroß, und ich schrie: Äther! – setzte aber gleich hinzu: Es ist nicht mehr nötig. Das Kind schrie schon. Wenn ich etwas bedaure, ist es nur, daß mein Mann, den ich jahrelang mit meiner dummen Angst gequält habe, diesen höchsten Genuß nicht erleben kann.«

Wenn Sie skeptisch sind, können Sie das nun eine glückliche Suggestion nennen, die keine Beweiskraft hat. Mir ist das gleichgültig. Ich bin überzeugt, wenn Sie das nächste Mal ein Kind bekommen, werden Sie auch ›hemmungslos‹ beobachten, ein Vorurteil loswerden und etwas kennenlernen, wovor Dummheit Sie eingegrault hat.

Sie sind dann, liebe Freundin, zaghaft auf das heikle Thema der Selbstbefriedigung eingegangen, deuten an, wie sehr Sie dieses geheime Laster verachten, und äußern Ihre Unzufriedenheit mit meinen abscheulichen Theorien über die schuldlose Onanie der töpfchensitzenden Kinder, verstopften Menschen und Schwangeren und finden schließlich meine Ansichten über die Grundbedingungen der Mutterliebe zynisch. »Auf diese Weise kann man alles auf Selbstbefriedigung zurückführen«, sagen Sie.

Gewiß, und Sie gehen nicht fehl in der Annahme, daß ich, wenn nicht alles, so doch recht viel von der Onanie herleite. Die Art, wie ich zu dieser Ansicht gekommen bin, ist vielleicht noch interessanter als die Ansicht selbst, und deshalb will ich sie Ihnen hier mitteilen.

Ich habe in meinem Beruf und sonst auch oft Gelegenheit gehabt, bei dem Waschen kleiner Kinder zugegen zu sein; Sie werden mir 55 aus eigener Erfahrung bestätigen, daß das nicht immer ohne Heulerei vor sich geht. Aber wahrscheinlich wissen Sie nicht – es ist nicht der Mühe wert, bei kleinen Kindern solche Kleinigkeiten zu beachten –, daß dieses Heulen bei ganz bestimmten Prozeduren einsetzt und bei anderen aufhört. Das Kind, das eben noch schrie, als ihm das Gesicht gewaschen wurde – wenn Sie wissen wollen, warum es schreit, lassen Sie sich selber das Gesicht von irgendeiner lieben Person waschen, mit einem Schwamm oder Lappen, der so groß ist, daß er Ihnen gleichzeitig Mund, Nase und Augen zudeckt –, dieses Kind, sage ich, wird plötzlich still, wenn der weiche Schwamm zwischen den Beinchen hin und her geführt wird. Ja, dieses Kind bekommt sogar einen fast verzückten Ausdruck im Gesicht, und es hält ganz still. Und die Mutter, die kurz vorher noch ermahnend oder tröstend dem Kindchen über das unangenehme Waschen hinweghelfen mußte, hat auf einmal einen zarten, liebenden, fast möchte ich sagen verliebten Ton in ihrer Stimme, auch sie ist für Augenblicke in Verzückung versunken, und ihre Bewegungen sind andere, weichere, liebendere. Sie weiß nicht, daß sie dem Kinde Geschlechtslust gibt, daß sie das Kind Selbstbefriedigung lehrt, aber ihr Es fühlt es und weiß es. Die erotische Handlung erzwingt den Ausdruck des Genusses bei Kind und Mutter.

So also liegen die Dinge. Die Mutter selbst gibt ihrem Kinde Unterricht in der Onanie, sie muß es tun, denn die Natur häuft den Dreck, der abgewaschen werden will, dort an, wo die Organe der Wollust liegen; sie muß es tun, sie kann nicht anders. Und, glauben Sie mir, vieles, was unter dem Namen Reinlichkeit geht, das eifrige Benutzen des Bidets, das Waschen nach den Entleerungen, die Ausspülungen, ist nichts weiter als ein vom Unbewußten erzwungenes Wiederholen dieser genußreichen Lehrstunden bei der Mutter.

Diese kleine Beobachtung, die Sie jederzeit auf ihre Richtigkeit nachprüfen können, wirft das ganze Schreckensgebäude, das dumme Menschen um die Selbstbefriedigung errichtet haben, auf einmal um. Denn wie soll man eine Gewohnheit Laster nennen, die von der Mutter erzwungen wird? Zu deren Erlernung sich die Natur der Mutterhand bedient? Oder wie sollte es möglich sein, ein Kind zu reinigen, ohne seine Wollust zu erregen? Ist eine Notwendigkeit, der jeder Mensch vom ersten Atemzug an unterworfen ist, unnatürlich? Welche Berechtigung hat der Ausdruck »geheimes Laster« für eine Angelegenheit, deren typisches Vorbild täglich mehrmals offen und unbefangen dem Kinde von der 56 Mutter eingeprägt wird? Und wie kann man es wagen, die Onanie schädlich zu nennen, die in den Lebensplan des Menschen als etwas Selbstverständliches, Unvermeidliches aufgenommen ist? Ebensogut kann man das Gehen lasterhaft nennen, oder das Essen unnatürlich, oder behaupten, daß der Mensch, der sich die Nase schnaubt, unfehlbar daran zugrunde gehen müsse. Das unentrinnbare Muß, mit dem das Leben die Selbstbefriedigung dadurch erzwingt, daß es den Schmutz und Gestank des Kots und Urins an den Ort des Geschlechtsgenusses legte, beweist, das die Gottheit diesen verworfenen Akt angeblichen Lasters zu bestimmten Zwecken dem Menschen als Schicksal mitgegeben hat. Und wenn Sie Lust dazu haben, will ich Ihnen gelegentlich ein paar dieser Zwecke nennen, Ihnen zeigen, daß allerdings unsere Menschenwelt, unsere Kultur zum großen Teil auf der Selbstbefriedigung aufgebaut ist.

Wie ist es nun gekommen, werden Sie fragen, daß diese natürliche und notwendige Verrichtung in den Ruf gekommen ist, ein schmachvolles, für Gesundheit und Geisteskraft gleich gefährliches Laster zu sein, ein Ruf, der überall gilt. Sie tun besser, sich um eine Antwort an gelehrtere Leute zu wenden, aber einiges kann ich Ihnen mitteilen. Zunächst stimmt es nicht, daß man allgemein von der Schädlichkeit der Onanie überzeugt ist. Ich weiß mit exotischen Sitten aus eigener Erfahrung nicht Bescheid, habe aber allerlei gelesen, was mir eine andere Meinung gegeben hat. Und dann ist mir bei Spaziergängen aufgefallen, daß hie und da ein Bauernbursch hinter dem Pflug stand und ganz ehrlich und allein seiner Lust frönte, und bei Landmädchen kann man es auch sehen, wenn man nicht durch das Kindheitsverbot für diese Dinge blind gemacht worden und blind geblieben ist; solch ein Verlust wirkt unter Umständen lange Jahre, vielleicht ein Leben lang, und mitunter ist es spaßhaft zu beobachten, was alles die Menschen nicht sehen, weil Mama es verboten hat. – Sie brauchen aber nicht erst zu den Bauern zu gehen. Ihre eigenen Erinnerungen werden Ihnen genug erzählen. Oder wird die Onanie dadurch unschädlich, daß der Geliebte, der Ehemann an den reizbaren, ihm so befreundeten Plätzen spielt? Es ist gar nicht nötig, an die tausend Möglichkeiten der versteckten, schuldlosen Onanie zu denken, an das Reiten, Schaukeln, Tanzen, an das Stuhlverhalten; der Liebkosungen, deren tieferer Sinn die Selbstbefriedigung ist, gibt es auch so genug.

Das ist nicht Onanie, meinen Sie. Vielleicht nicht, vielleicht doch, es kommt darauf an, wie man es auffaßt. Nach meiner Meinung ist 57 es kein großer Unterschied, ob die eigene oder die fremde Hand zärtlich ist, ja, am Ende braucht es keine Hand zu sein, auch der Gedanke reicht aus und vor allem der Traum. Da haben Sie ihn wieder, diesen unangenehmen Deuter versteckter Geheimnisse. Nein, liebe Freundin, wenn Sie wüßten, was alles unsereiner – und mindestens mit dem Schein des Rechtes – zur Onanie rechnet, Sie würden wirklich nicht mehr von ihrer Schädlichkeit sprechen.

Haben Sie denn schon einmal jemanden kennengelernt, dem sie geschadet hat? Die Onanie selbst, nicht die Angst vor den Folgen, denn die ist wahrlich schlimm. Und gerade weil sie so schlimm ist, sollten sich wenigstens ein paar Menschen davon freimachen. Nochmals, haben Sie schon jemanden gesehen? Und wie denken Sie sich die Sache? Ist es das bißchen Samen, der beim Manne verlorengeht, oder gar die Feuchtigkeit beim Weibe? Das glauben Sie wohl selbst nicht, wenigstens nicht mehr, wenn Sie eins der auf Universitäten gangbaren Lehrbücher der Physiologie aufgeschlagen und da nachgelesen haben. Die Natur hat reichlich, unerschöpflich für Vorrat gesorgt, und – außerdem – der Mißbrauch verbietet sich von selbst; beim Knaben und Mann wird die Erholung durch das Aussetzen der Erektion und Ejakulation erzwungen, und beim Weibe tritt auch ein Überdruß ein, der ein paar Tage oder Stunden dauert; mit dem Geschlechtssinn ist es wie mit dem Essen. Ebensowenig wie sich jemand den Bauch durch vieles Essen sprengt, ebensowenig erschöpft jemand seine Geschlechtskraft durch Onanie. Wohlverstanden, durch Onanie; ich spreche nicht von der Onanieangst, die ist etwas anderes, die untergräbt die Gesundheit, und deshalb liegt mir daran zu zeigen, was für Verbrecher die Leute sind, die von dem geheimen Laster reden, die die Menschen einängstigen. Da alle Menschen, bewußt oder unbewußt, Onanie treiben und auch die unbewußte Befriedigung als solche empfinden, ist es ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit, ein ungeheures Verbrechen. Und eine Narrheit, genauso närrisch, als wenn man aus der Tatsache des aufrechten Ganges gesundheitsschädliche Folgen ableitete.

Nein, der Substanzverlust ist es nicht, sagen Sie. Ja, aber viele Menschen glauben das, glauben selbst jetzt noch, daß die Samenflüssigkeit aus dem Rückgrat käme und das Rückenmark durch den berüchtigten Mißbrauch ausgedörrt würde, ja, daß schließlich auch das Gehirn austrockne und die Menschen verblödeten.

Auch die Bezeichnung Onanie deutet darauf hin, daß der Gedanke des Samenverlustes für die Menschen das Erschreckende ist. 58 Kennen Sie die Geschichte von Onan? Sie hat eigentlich nichts mit Selbstbefriedigung zu tun. Bei den Juden war es Gesetz, daß der Schwager, falls sein Bruder kinderlos gestorben, mit dessen Witwe Beilager hielt; das Kind, das so entstand, galt als Nachkömmling des Toten. Ein nicht ganz dummes Gesetz, das auf die Erhaltung der Traditionen ging, auf das Weiterbestehen des Stammes, wenn auch der Weg uns Modernen ein wenig sonderbar vorkommt. Unsere Vorfahren haben ähnlich gedacht, noch aus der Zeit kurz vor der Reformation bestand in Verden eine ähnliche Verordnung. Nun, also Onan kam in diese Lage durch den Tod seines Bruders, da er aber seine Schwägerin nicht leiden konnte, ließ er den Samen statt in ihren Leib auf die Erde fallen, und für diese Gesetzesübertretung strafte ihn Jehova mit dem Tode. Das Unbewußte der Masse hat aus dieser Erzählung nur das Auf-den-Boden-Spritzen des Samens herausgenommen und jede ähnliche Handlung mit dem Namen Onanie gebrandmarkt, wobei denn wohl der Gedanke an den Tod durch Selbstbefriedigung den Ausschlag gab.

Gut, daß Sie es nicht glauben. Aber die Phantasie der wollüstigen Vorstellungen, die sind das Schlimme. Ach, liebste Freundin, haben Sie denn in der Umarmung keine wollüstigen Vorstellungen? Und vorher auch nicht? Vielleicht jagen Sie sie fort, verdrängen Sie sie, wie der Kunstausdruck lautet; ich komme gelegentlich auf den Begriff des Verdrängens zu sprechen. Aber da sind die Vorstellungen doch; sie kommen und müssen kommen, weil Sie Mensch sind und nicht einfach die Mitte Ihres Körpers ausschalten können. Mir fällt bei solchen Leuten, die nie wollüstige Gedanken zu haben glauben, immer eine Art Menschen ein, die die Reinlichkeit so weit treiben, daß sie sich nicht nur waschen, sondern auch täglich den Darm ausspülen. Harmlose Leutchen, nicht? Sie denken gar nicht daran, daß oberhalb des Stückchens Darm, das sie mit Wasser reinigen, noch ein stubenlanges Stück ist, das ebenso dreckig ist. Und um es gleich zu sagen, ihre Klistiere machen sie, ohne es zu wissen, weil es symbolische Begattungsakte sind; die Reinlichkeitssucht ist nur der Vorwand, mit dem das Unbewußte das Bewußte betrügt, die Lüge, die ermöglicht, dem Verbot der Mutter buchstäblich treu zu sein. Genau so ist es mit den Verdrängungen der erotischen Phantasien. Gehen Sie tiefer auf den Menschen ein, kommt die Erotik in jeder Form hervor.

Haben Sie schon einmal ein zartes, ätherisches, völlig unschuldiges Mädchen geisteskrank werden sehen? Nein? Schade, Sie würden von dem Glauben an das, was die Menschheit rein nennt, 59 für Lebenszeit kuriert sein und diese Reinheit und Unschuld mit dem ehrlichen Worte Heuchelei bezeichnen. Darin liegt kein Vorwurf. Das Es braucht auch die Heuchelei zu seinen Zwecken, und gerade bei dieser verpönten und doch so oft geübten Gewohnheit liegt der Zweck nicht tief verborgen.

Vielleicht kommen wir der Frage, warum die Onanie das Entsetzen von Eltern, Lehrern und sonstigen aus ihrer Stellung heraus autoritativen Leuten erregt, näher, wenn wir uns die Geschichte dieses Entsetzens ansehen. Ich bin nicht sehr belesen, aber mir ist es so vorgekommen, als ob erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Geschrei gegen die Onanie losgegangen sei. In dem Briefwechsel zwischen Lavater und Goethe sprechen die beiden von geistiger Onanie noch so harmlos, als ob sie sich von irgendeinem Spaziergang etwas erzählten. Nun ist das auch die Zeit, in der man anfing, sich mit den Geisteskranken zu beschäftigen, und Geisteskranke, vor allem Blödsinnige, sind sehr eifrige Freunde der Selbstbefriedigung. Es wäre wohl denkbar, daß man Ursache und Wirkung verwechselt hat, daß man glaubte: Weil der Blödsinnige onaniert, ist er durch Onanie blödsinnig geworden.

Aber letzten Endes werden wir doch wohl den Grund für den merkwürdigen Abscheu des Menschen gegen etwas, wozu er durch seine Mutter vom ersten Lebenstage an abgerichtet wird, anderswo suchen müssen. Darf ich die Antwort verschieben? Ich habe vorher noch so viel zu sagen, und der Brief ist ohnehin lang genug geworden. In aller Kürze möchte ich nur noch auf eine seltsame Verdrehung der Tatsachen aufmerksam machen, die selbst bei sonst überlegenden Menschen sich findet. Man nennt die Selbstbefriedigung einen Ersatz für den ›normalen‹ Geschlechtsakt. Ach, was ließe sich alles über dieses Wort ›normaler‹ Geschlechtsakt sagen. Aber ich habe es hier mit dem Ersatz zu tun. Wie mögen die Menschen auf solch einen Unsinn kommen? Die Selbstbefriedigung geht in dieser oder jener Form durch das ganze Leben mit dem Menschen mit; die sogenannte normale Geschlechtstätigkeit tritt aber erst in einem bestimmten Alter auf und verschwindet oft zu einer Zeit, wo die Onanie von neuem die kindliche Form des bewußten Spielens an den Geschlechtsteilen annimmt. Wie kann man einen Vorgang als Ersatz für einen andern auffassen, der erst fünfzehn bis zwanzig Jahre später beginnt? Viel eher lohnte es sich, einmal festzustellen, wie oft der normale Geschlechtsakt eine reine bewußte Selbstbefriedigung ist, bei der Scheide und Glied des andern nur ein ebensolches Werkzeug des Reibens ist wie Hand und Finger. Ich bin dabei zu 60 merkwürdigen Resultaten gekommen und zweifle nicht daran, daß es Ihnen auch so gehen wird, wenn Sie der Sache nachgehen.

Nun, und die Mutterliebe? Was hat die mit all dem zu tun? Doch wohl einiges. Ich deutete schon darauf hin, daß die Mutter seltsam sich verändert, wenn sie ihr Kind an den Geschlechtsteilen reinigt. Sie ist sich dessen nicht bewußt, aber gerade die gemeinsam genossene unbewußte Lust bindet am stärksten, und einem Kinde Lust zu geben, in welcher Form es auch sei, weckt in dem Erwachsenen Liebe. Noch eher als zwischen Liebenden ist im Verhältnis von Mutter und Kind Geben mitunter seliger als Nehmen.

Ich habe nun noch über den Einfluß der Selbstbefriedigung einen Punkt nachzutragen, dessen Erörterung bei Ihnen Kopfschütteln hervorrufen wird. Ich kann ihn Ihnen aber nicht ersparen, er ist wichtig und gibt wieder eine Möglichkeit, in das Dunkel des Unbewußten hineinzublicken. Das Es, das Unbewußte, denkt symbolisch, und unter anderen hat es ein Symbol, demzufolge es Kind und Geschlechtsteil identifiziert, gleichbedeutend braucht. Der weibliche Geschlechtsteil ist ihm das kleine Ding, das Mädchen, Töchterchen oder Schwesterchen, die kleine Freundin, der männliche das kleine Männchen, das Jungchen, das Söhnchen, Brüderchen. Das klingt absonderlich, ist aber so. Und nun bitte ich Sie, sich einmal ohne alberne Prüderie und falsche Scham klarzumachen, wie sehr ein jeder Mensch seinen Geschlechtsteil liebt, lieben muß, weil er ihm letzten Endes alle Lust und alles Leben verdankt. Sie können sich diese Liebe nicht groß genug vorstellen, und diese große Liebe überträgt das Es – das Übertragen ist auch eine seiner Eigentümlichkeiten – auf das Kind, es verwechselt sozusagen Geschlechtsteil und Kind. Ein gut Teil der Mutterliebe zum Kind stammt aus der Liebe, die die Mutter für ihren Geschlechtsteil hat, und aus Onanie-Erinnerungen.

War es sehr arg? Ich habe für heute nur noch eine Kleinigkeit zu sagen, die vielleicht ein wenig erklärt, warum das Weib im allgemeinen mehr kinderlieb ist als der Mann. Erinnern Sie sich an das, was ich von dem Reiben der Geschlechtsteile beim Waschen erzählte, und wie ich den daraus entstehenden Genuß unter Benutzung des unbewußten Symbolisierens in Zusammenhang mit der Liebe zum Kinde brachte? Können Sie sich vorstellen, daß die Reibung des Waschens dem kleinen Knaben so viel Freude gibt wie dem kleinen Mädchen? Ich nicht.

Ich bin Ihr ganz ergebener

Patrik Troll 61

 


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