Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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8. Brief

Liebe Freundin, ich habe nicht daran gezweifelt, daß Sie mir in vielem recht geben würden, ja, ich bin so kühn, anzunehmen, daß Sie mir nach und nach, wenn nicht in allen Einzelheiten, doch in den Hauptsachen beistimmen werden. Vorläufig spotten Sie ja noch, sind der Meinung, drei Viertel meiner Behauptungen entspringe meinem Widerspruchsgeist, und von dem Rest sei mindestens die Hälfte darauf berechnet, meine sadistische Seele zu retten. »Um Ihnen Glauben zu schenken«, schreiben Sie, »müßte man die Überzeugung aufgeben, daß es unnatürliche Laster gibt und daß, was wir Perversionen zu nennen gewöhnt sind, Selbstbefriedigung, Homosexualität, Sadismus, Sodomie und wie diese Dinge alle heißen mögen, selbstverständliche Neigungen des Menschen, Allgemeingut unsrer Seele sind.«

Haben wir uns nicht schon einmal über das Wort ›unnatürlich‹ unterhalten? Für mich ist es der Ausdruck menschlichen Größenwahns, der sich selber als Herrn der Natur empfinden möchte. Man teilt die Welt in zwei Teile; was dem Menschen jeweilig paßt, ist ihm natürlich, was ihm zuwider ist, nennt er unnatürlich. Haben Sie schon einmal irgend etwas gesehen, was außerhalb der Natur liegt? Denn das bedeutet doch das Wort unnatürlich. Ich und die Natur, so denkt der Mensch, und es wird ihm bei dieser angemaßten Gottähnlichkeit nicht einmal bange. Nein, liebe Spötterin, was ist, ist natürlich, wenn es Ihnen auch noch so regelwidrig vorkommt, noch so sehr gegen die Naturgesetze verstößt. 80 Diese Naturgesetze sind Schöpfungen des Menschen, das sollte man nicht vergessen, und wenn etwas nicht damit übereinstimmt, so ist das der Beweis, daß das Naturgesetz falsch ist. Streichen Sie die Bezeichnung ›unnatürlich‹ aus Ihren Sprachgewohnheiten; Sie werden dann eine Dummheit weniger sagen.

Und nun die Perversionen. Ein von mir hochverehrter Forscher hat nachgewiesen, daß das Kind alle nur denkbaren perversen Neigungen hat; er sagt, das Kind ist multipel pervers. Gehen Sie einen Schritt weiter und sagen Sie, jeder Mensch ist multipel pervers, jeder Mensch hat jede perverse Neigung in sich, so haben Sie meine Ansicht. Aber dann ist es unnötig und unpraktisch, den Ausdruck pervers weiter zu gebrauchen, weil dadurch der Eindruck geweckt wird, als ob diese jedem Menschen eigentümlichen, unveräußerlichen und lebenslänglichen Neigungen etwas Ausnahmsweises, Sonderbares, Auffallendes wären. Wenn Sie durchaus schimpfen wollen, gebrauchen Sie doch das Wort Laster oder Schweinerei oder was Ihnen sonst zur Verfügung steht. Netter wäre es schon, Sie strebten dem Satz nach: »Nichts Menschliches sei uns fremd«, ein Ideal, das wir freilich nie erreichen, das aber berechtigt ist und dem unsereiner als Arzt mit Haut und Haaren sich verpflichtet fühlt. Wir werden noch öfter über diese Neigungen, die Sie pervers nennen und die ich bei jedem Menschen voraussetze, sprechen müssen, auch über die Gründe, warum der Mensch in diesen Dingen so gegen sich selbst lügt.

Einen schönen Triumph haben Sie mir gegönnt, auf den ich stolz bin. Neulich haben Sie mich noch ruchlos gescholten, weil ich vom Haß der Mutter gegen ihr Kind gesprochen habe, und heute erzählen Sie mir – man merkt Ihnen Genugtuung dabei an – von der jungen Frau Dahlmann, die bittere Tränen vergießt, weil schon das erste Unwohlsein nach der Hochzeitsreise ausbleibt. Wie anschaulich Sie beschreiben können! Ich sah förmlich die verbissene Wut, mit der die kleine Weltdame ihr Korsett anlegt und aus allen Kräften zuschnürt, um das junge Leben zu ersticken. Es ist ja auch traurig, wenn man sich die ganze Brautzeit hindurch auf den Moment gefreut hat, wo man als Gattin des Vorsitzenden an dem Arm dieses Eintagskönigs in den Ballsaal eintritt, mit der Aussicht, am nächsten Tage vom Kopf bis zu Füßen als die reizende Frau Dahlmann beschrieben zu werden, es ist traurig, daß einem ein Tröpfchen Samen alles zerstört, einen zur unförmigen Masse verwandelt.

81 Finden Sie es schlimm, daß die menschliche Eitelkeit und Vergnügungssucht so groß sind? Daß ein kleiner Mordversuch eines Tanzvergnügens halber in Szene gesetzt wird? Denken Sie sich diese beiden mächtigen Hebel der Kultur weg, was würde aus Ihnen werden? In kurzer Zeit wären Sie verlaust und verwanzt, bald würden Sie das Fleisch mit den Fingern und Zähnen zerreißen und die Rüben, die Sie aus der Erde zerren, roh verschlingen, Ihre Hände würden Sie nicht mehr waschen und als Taschentuch Finger oder Zunge gebrauchen. Glauben Sie mir, meine Ansicht, daß auf dem Hang zur Selbstbefriedigung – denn in deren Dienst stehen Schönheitssinn und Reinlichkeit – die Welt ruht, ist nicht so dumm, wie Sie annehmen.

Mir ist die Abneigung der Mutter gegen ihr Kind sehr begreiflich. Daß es für die Frau heutzutage nicht angenehm ist, ein Kind zu erwarten, habe ich neulich wieder erlebt. Ich war in der Stadt, und etwa zwanzig Schritte vor mir ging eine hochschwangere Frau des Mittelstandes; zwei Schulmädchen, 12- bis 13jährig mochten sie sein, begegneten ihr, musterten sie scharf, und kaum waren sie an ihr vorüber, so sagte die eine höhere Tochter zur anderen und kicherte das charakteristische alberne Backfischlachen: »Hast du gesehen? Den dicken Bauch? Die kriegt ein Kind.« Und die andere erwiderte: »Ach laß doch die Schweinereien, ich mag nichts davon wissen.« Die Frau mußte die Worte gehört haben, sie drehte sich um, als ob sie etwas sagen wollte, ging dann aber stumm weiter. Wenige Minuten später – die Straße war einsam – kam ein Holzfuhrwerk angefahren. Der Fuhrknecht grinste das Weibchen an und rief ihr zu: »Sie laufen wohl Parade, um zu zeigen, daß der Mann noch bei Ihnen liegt.« Es wird den Frauen nicht leicht gemacht, das ist sicher. Der Ruhm großer Fruchtbarkeit, der früher der kinderreichen Frau die Mühen zu tragen half, gilt nichts mehr. Im Gegenteil, das Mädchen wächst in der Angst vor dem Kinde auf. Recht betrachtet, besteht die Erziehung unsrer Töchter darin, daß wir sie vor zwei Dingen zu hüten suchen, vor der geschlechtlichen Ansteckung und vor dem unehelichen Kinde, und wir wissen zu diesem Zwecke nichts anderes zu tun, als ihnen die Geschlechtsliebe an sich als Sünde darzustellen und die Entbindung als große Gefahr. Es gibt Leute, die allen Ernstes die Todesaussichten der Geburt in Vergleich mit denen der Weltkriegsschlachten setzen. Das ist eine der Wahnsinnsäußerungen unsrer von Gewissensangst schwer belasteten Zeit, die sich immer tiefer in die Schuld der Heuchelei verstrickt, der Heuchelei auf dem lebenschaffenden Gebiet, und deshalb immer rascher zugrunde geht.

82 Der Wunsch des Mädchens nach dem Kinde entsteht in einer Heftigkeit, die nur wenige wahrnehmen, schon zu einer Zeit, wo es zwischen ehelich und unehelich noch nicht unterscheidet, und die versteckten halben Andeutungen der Erwachsenen, die sich gegen das uneheliche Kind richten, werden auf das Kind überhaupt bezogen, vielleicht nicht von dem Verstande, aber sicher von dem, was unterhalb des Verstandes liegt. Aber das sind ja Dinge, denen sich abhelfen ließe, denen tatsächlich dieses und jenes Volk, diese und jene Zeit abzuhelfen sucht. Jedoch im Wesen des Weibes, des Menschen liegen Gründe zum Kinderhaß, die unabänderlich sind. Zunächst raubt das Kind dem Weibe einen Teil der Schönheit, nicht nur während der Schwangerschaft; es bleibt auch nachher vieles zerstört, was nie wieder gutzumachen ist. Eine Narbe im Gesicht kann die Schönheit der Züge noch mehr hervorheben, und ich könnte mir denken, daß Ihre Schwester Ihnen im tiefsten Grunde für die interessante Wunde am Auge dankbar gewesen ist. Aber hängende Brüste und ein welker Leib gelten als häßlich, und eine Kultur muß auf den Kinderreichtum gerichtet sein, um sie zu schätzen.

Das Kind bringt Mühe, Sorge, Arbeit, vor allem verlangt es Verzicht auf tausend Dinge, die lebenswert sind. Ich weiß, daß die Freuden der Mutterschaft alle diese Leiden aufwiegen können, aber es ist doch eben das Gegengewicht da, und wenn man sich solche Verhältnisse vorstellen will, so darf man nicht an die Waage denken, bei der die schwere Schale tief unten ruht, während die andere regungslos schwebt; es ist vielmehr ein ständiges Abwägen, bei dem die wägende Hand des täglichen Lebens eine Balleinladung, eine Reise nach Rom, einen interessanten Freund mit plumper Gewalt in die Schale wirft, so daß sie zeitweise niedersinkt. Es ist ein andauerndes Schwanken, ein immer neu wiederholtes Verzichten, das seine Wunden und Schmerzen bringt.

Immerhin ist es möglich, sich auf diesen Verzicht, diese Mühen und Sorgen vorzubereiten, sich dagegen zu wappnen. Es gibt aber Regungen, die die Mütter nicht klar kennen, die sie fühlen, aber nicht laut werden lassen, deren giftige Widerhaken sie, um nur nichts von dem Adel der Mütterlichkeit einzubüßen, tiefer und tiefer in sich hineindrücken.

Ich habe Sie einmal zu einer Entbindung mitgenommen. Besinnen Sie sich noch darauf? Geburtshelfer sein ist nicht mein Geschäft, aber es war eine besondere Sache mit jener Frau, weshalb sie gerade von mir entbunden sein wollte. Ich habe Ihnen damals nichts weiter darüber erzählt, aber jetzt will ich es nachholen. Jene 83 Frau wurde von mir während der ganzen Schwangerschaft behandelt; erst hatte sie Erbrechen, dann kamen Schwindelanfälle, Blutungen, Schmerzen, dicke Beine und was es sonst noch für Überraschungen während solcher Zeit gibt. Das, worauf es mir im Augenblicke ankommt, war ihre entsetzliche Angst, daß sie ein Kind mit einem verkrüppelten Fuß bekommen und selbst sterben werde. Sie wissen, das Kind kam ganz gesund zur Welt, die Frau lebt auch noch; aber noch lange blieb bei ihr die Idee, dem Kinde müsse irgendwas an den Beinen zustoßen. Sie berief sich dabei, anscheinend mit Recht, auf die Tatsache, daß ihr ältestes Kind einige Wochen nach der Geburt auf rätselhafte Weise eine Eiterung des Schleimbeutels am linken Kniegelenk bekommen hatte, die recht unangenehm verlief, operiert werden mußte und eine tiefe, den Gebrauch des Kniegelenks ein wenig hindernde Narbe zurückließ. Ich muß Ihrem Gutdünken die Entscheidung überlassen, ob schon die Eiterung mit dem zusammenhing, was ich nun zu berichten habe; ich meinerseits glaube es, wenn ich auch nicht angeben kann, auf welche Weise die Mutter – unbewußt selbstverständlich – die Erkrankung herbeigeführt hat. – Die Frau, von der ich erzähle, war das erste von fünf Kindern. Mit den beiden ältesten vertrug sie sich gut, gegen das vierte, dessen Beaufsichtigung ihr bei den kärglichen Lebensverhältnissen der Eltern zeitweise übertragen wurde, hatte sie von vornherein eine starke Abneigung, die stets die gleiche geblieben ist und auch jetzt noch besteht. Als das fünfte Kind unterwegs war, änderte sich der Charakter des Mädchens, sie schloß sich mehr an den Vater an, wurde widerspenstig gegen die Mutter, quälte die jüngste Schwester, kurz, wurde ein rechter Tunichtgut. Als ihr eines Tages befohlen wurde, auf die Kleinste aufzupassen, geriet sie in Wut, heulte und stampfte mit den Füßen, und als sie von der Mutter bestraft und zum Gehorsam gezwungen wurde, hat sie sich zur Wiege gesetzt, die Kufen mit dem Fuße wild geschaukelt, so daß das Kind anfing zu schreien, und dazu vor sich hingesagt: »Verfluchte alte Hexe, verfluchte alte Hexe!« Eine Stunde darauf hat die Mutter sich plötzlich zu Bett gelegt und sie zur Hebamme geschickt. Dabei hat sie gesehen, daß die Mutter stark blutete. Das Kind ist in derselben Nacht noch geboren worden, aber die Mutter hat viele Monate im Bett liegen müssen und ist nie wieder recht frisch geworden. In dem Mädchen aber wurde damals der Gedanke wach und lebt noch jetzt in ihr, sie habe durch ihren Fluch die Erkrankung der Mutter herbeigeführt, sei schuld daran. Nun, das ist ein Erlebnis, wie es häufig vorkommt, wichtig genug für die 84 Beurteilung der Schicksale, Charakterbildung, Krankheitsdisposition und Todesangst dessen, dem es just zustößt, aber an sich reicht es nicht aus, um die Angst vor einer Beinverkrüppelung des erwarteten Kindes zu erklären. Das Stampfen mit den Füßen, das bösartige Treten der Wiege mit der halbbewußten Absicht, die kleine Schwester herausfallen zu lassen, gibt zwar Beziehungen; sie sind aber allein nicht kräftig genug. Es ist von einer andern Seite eine Verstärkung des Schuldkontos hinzugekommen. In dem Dorf, in dem meine Wöchnerin aufwuchs, lebte ein Idiot mit verkrüppelten Beinen, der, sobald die Sonne erschien, vor dem Häuschen der Eltern in einen Stuhl gesetzt wurde und trotz seines Alters von achtzehn Jahren wie ein dreijähriges Kind mit Steinen und Klötzchen spielte. Seine Krücken hatte er neben sich, konnte sie aber ohne Hilfe nicht gebrauchen und schien sie nur da zu haben, um den Dorfkindern, die ihn weidlich neckten, damit zu drohen, wobei er gleichzeitig wilde, unverständliche Laute ausstieß. Die kleine Frieda – das ist der Name der Frau, deren Entbindung Sie mitgemacht haben –, die sonst das Muster eines artigen Kindes war, beteiligte sich während ihrer bösen Zeit ein paarmal an den Hänseleien der anderen, bis eines Tages die Mutter dahinterkam, ihr eine große Strafpredigt hielt und ihr sagte: »Der liebe Gott sieht alles, und er wird dich strafen, so daß du auch einmal solch ein verkrüppeltes Kind bekommst.« Wenige Tage darauf traten die Ereignisse ein, von denen ich berichtete.

Jetzt liegt der Zusammenhang ziemlich klar zutage. In die Grundstimmung des Verdrusses über die Schwangerschaft der Mutter fallen zwei böse Erlebnisse hinein, die Drohung mit der Strafe Gottes für das Verspotten des Unglücks und die Erkrankung der Mutter, die als Folge des Ausrufs »Verfluchte alte Hexe!« aufgefaßt wird. Beides sind für den Gläubigen – und Frieda ist streng katholisch erzogen worden – schwere Sünden. Sie werden in die Tiefe der Seele zurückgedrängt und erscheinen in der Form der Angst wieder, als die eigene Schwangerschaft eine äußerliche Verknüpfung an die Kindheitserlebnisse gibt. Beiden Ereignissen gemeinsam ist, daß die Füße eine Rolle dabei spielen, und dieses Nebenumstandes bemächtigt sich, wie so oft, das Schuldbewußtsein und schiebt ihn als Angst vor der Mißgeburt in den Vordergrund, während die gleichzeitige Todesangst tiefer in der Verdrängung bleibt und scheinbar eher verschwindet; nur scheinbar, denn einige Jahre darauf ist sie in seltsam interessanter Form als Krebsangst von neuem, wiederum an die Verfluchung der Mutter anknüpfend, aufgetreten. Aber das gehört nicht hierher.

85 Ich muß, um Ihnen verständlich zu machen, warum ich diese Geschichte gerade jetzt erzähle, wo es sich um den Haß der Mütter gegen ein Kind handelt, auf etwas hinweisen, was ich erwähnt habe, aber was vermutlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist. Frieda hat sich während der Schwangerschaft nicht nur von der Mutter abgewendet, sondern sich so auffallend an den Vater angeschlossen, daß sie es selbst noch nach vielen Jahren hervorhebt. Das ist der Ödipuskomplex, von dem Sie wohl schon gehört haben. Sicherheitshalber ist es aber wohl besser, ihn mit zwei Worten festzulegen. Man versteht darunter die Leidenschaft des Kindes zu dem gegengeschlechtlichen Elternteil, des Sohnes zur Mutter, der Tochter zum Vater, vereint mit dem Todeswunsch gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil, gegen den Vater vom Sohne aus, gegen die Mutter von der Tochter aus. Mit diesem Ödipuskomplex, der zu den unvermeidlichen Eigentümlichkeiten des Menschenlebens gehört, werden wir uns noch beschäftigen müssen. Hier kommt es nur auf die Tatsache an, daß Mutter und Tochter stets und ohne Ausnahme Nebenbuhlerinnen sind und infolgedessen auch den gegenseitigen Haß der Nebenbuhlerinnen haben. Der Ausdruck »Verfluchte alte Hexe!« hat noch eine viel tiefere Begründung als bloß Familienzuwachs. Die Hexe verhext den Geliebten, so ist es im Märchen und ist es im Unbewußten des Mädchens. Der Begriff der Hexe ist aus dem Ödipuskomplex abgeleitet, die Hexe ist die Mutter, die den Vater durch Zauberkünste an sich fesselt, obwohl er eigentlich der Tochter gehört. Mit andern Worten: Mutter und Hexe sind für das Es der Märchen dichtenden Menschheitsseele dasselbe.

Sie sehen, da kommt ein Stück Haß des Kindes gegen die Mutter zum Vorschein, das erstaunlich ist, das nur einigermaßen sein Gegengewicht in dem Glauben an die jungen, schönen Hexen findet, die rothaarigen gottlosen Dinger, der aus dem Haß der alternden Mutter gegen die feurig leidenschaftliche, frisch menstruierte, das heißt rothaarige Tochter entsteht. Dieser Haß muß wahrlich stark sein, da er solche Früchte hervorbringt. In Friedas Fluch hat sich die Qual langjähriger Eifersucht verdichtet, er ist der Maßstab der einen Seite ihrer Gefühlsregungen, die zur Wut gesteigert worden sind durch die Schwangerschaft. Denn um schwanger zu sein, muß die Mutter Liebkosungen vom Vater 86 empfangen haben, die die Tochter für sich beansprucht. Sie hat das Kind zu Unrecht sich erzaubert, die Tochter darum betrogen. Begreifen Sie nun, warum ich Ihnen Friedas Geschichte erzählte? Sie ist typisch. In jeder Tochter flammt während der Schwangerschaft der Mutter die Eifersucht auf; sie wird nicht immer laut, aber sie ist da. Und ob sie sich äußert oder tief im Verborgenen bleibt, stets wird sie durch die Gewalt des moralischen Gebotes: »Du sollst Vater und Mutter ehren, sonst mußt du sterben« niedergedrückt, verdrängt, das eine Mal mehr, das andre Mal weniger, immer aber mit dem gleichen Erfolg, daß das Schuldbewußtsein entsteht.

Wie aber steht es mit dem Schuldbewußtsein? Das verlangt Strafe, und zwar die Strafe in derselben Form, die die Schuld hat. Frieda hat den Krüppel verspottet, also wird sie einen Krüppel zur Welt bringen. Sie hat ihre Mutter verflucht und beschimpft, das eigene Kind wird dasselbe mit ihr tun. Sie hat ihre Mutter gehaßt, das Kind, das sie jetzt im Schoße trägt, wird es vergelten. Sie hat der Mutter die Liebe des Vaters rauben wollen, dasselbe Los wird ihr das kommende Kind bereiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Finden Sie es nicht verständlich, daß diese Frieda, die ihr Leben und ihr Glück vom Kinde bedroht fühlt, dieses Kind nicht immer liebt, daß, wenn die in der Tiefe von Kindheit her lagernden Gifte durch die Tagesereignisse aufgerührt werden, sie das Kind haßt, die junge Hexe, die schönere, aufblühende, der die Zukunft gehört?

Das Schuldbewußtsein, das jede Tochter der Mutter gegenüber hat, zwingt ihr von vornherein die Fähigkeit zum Haß gegen das eigene Kind auf; das ist so.

Vermutlich glauben Sie wieder, daß ich übertreibe, daß ich aus einem einzelnen Fall allgemeine Schlußfolgerungen ziehe, wie es so meine Art ist. Ach nein, liebe Freundin, diesmal ist es nicht übertrieben. Den tiefsten Grund des Schuldbewußtseins, das unfehlbar Angst und Abneigung erzwingen muß, habe ich noch nicht genannt, aber neulich habe ich ihn erwähnt. Der liegt darin, daß das Kind bei der Geburt, dadurch, daß es geboren wird, der Mutter Blut vergießt. Und wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. Die Frau, die guter Hoffnung ist, kann nicht anders, als das Kind im Leibe fürchten, denn es ist der Rächer. Und niemand ist gut genug, den Rächer immer zu lieben.

Ich habe dieses lange Schreiben unternommen, weil ich Ihnen gern einen Begriff von der Verwicklung aller Beziehungen zwischen 87 Mutter und Kind geben wollte. Hoffentlich haben Sie es nicht verstanden; sonst muß ich fürchten, daß ich Ihnen die dunkelsten Ecken nicht gewiesen habe. Nach und nach werden wir uns aber wohl verständigen, entweder darin, daß Sie alles abweisen; nun, dann haben wir wenigstens eine Zeitlang korrespondiert, oder darin, daß Sie gleich mir allen menschlichen Verhältnissen gegenüber vorsichtig werden, duldsam und voll der Überzeugung, daß jedes Ding seine zwei Seiten hat.

Darf ich noch mit zwei Worten auf Friedas Erlebnisse zurückkommen? Ich sagte Ihnen, daß sie, wie alle kleinen Mädchen, das Kind der Mutter für sich beanspruchte; nicht nur dies eine Mal, sondern das Kind vom eigenen Vater zu empfangen, ist ein Wunsch, der auf rätselhafte Weise während des ganzen Lebens einer Frau im Unbewußten mitgeht. Und an diesen Wunsch der Blutschande heftet sich das Wort: ›Idiot‹. Sie werden keine Frau finden, die nicht irgendwann von der Idee befallen wird, ihr Kind wird idiotisch zur Welt kommen oder es wird verblöden. Denn der Glaube, daß dem Verkehr mit dem Vater ein mißratenes Kind entspringen müsse, sitzt tief im Gehirn des modernen Menschen. Die Tatsache, daß jener Krüppel idiotisch war, hat dahin gewirkt, daß die verdrängten Gefühle jener Zeit auch noch durch die dumpf empfundenen Wünsche und Ängste der Blutschande vergiftet wurden.

Es fehlt noch etwas, um das Bild vollständig zu überblicken. Ich habe Ihnen früher von der Symbolik der Geschlechtsteile gesprochen. Nun, das deutlichste Symbol des weiblichen Organs, das sich schon in dem Wort Gebärmutter kundgibt, ist die Mutter. Für das symbolisierende Es – und ich sagte Ihnen, das Es kann nicht anders als symbolisieren – ist der weibliche Geschlechtsteil die Gebärerin, die Mutter. Wenn Frieda ihrer Mutter flucht, so verflucht sie auch das Symbol, ihr Geschlechtsorgan, ihr eigenes gebärendes Wesen, ihr Frau- und Muttersein.

Habe ich nicht recht gehabt, als ich sagte, über das Es läßt sich nur stammeln? Ich mußte es sagen, muß es wieder sagen, sonst halten Sie mich am Ende doch noch für einen Narren. Aber wenn auch, Sie werden sehen, daß wenigstens Methode in der Narrheit ist.

Herzlichst Ihr

Patrik Troll 88

 


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