Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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23. Brief

Ich gebe zu, beste Freundin, daß es unrecht ist, so lang von der Exhibition zu sprechen, und auch das räume ich ein, daß ich die Bedeutung des Worts ungebührlich gedehnt habe. Die Erklärung dafür ist, daß ich zur Zeit gerade mit ein paar Kranken zu tun habe, die diesem Trieb mit Virtuosität frönen. Ich hatte gehofft, Sie würden des Inhalts halber über die Form hinwegsehen.

So will ich denn heute, statt in ein System zu pressen, was systemlos ist, nur ein paar Beobachtungen aneinanderreihen. Sie mögen selbst die Schlüsse ziehen.

Achten Sie bitte ein paar Tage auf den Mund von Helene Karsten. Sie können viel dabei kennenlernen.

Sie wissen, dieser Mund gilt als besonders klein, er sieht aus, als ob mit Mühe ein Markstück hineingesteckt werden könnte. Aber 187 sprechen Sie vor ihr das Wort ›Pferd‹ aus, und der Mund wird breit wie ein Pferdemaul, und das Gebiß wird gefletscht, wie das Pferd es tut. Warum? Hinter Helenens Elternhaus lag ein Exerzierplatz eines Dragonerregimentes. An den Pferden dort hat sie ihr Studium über Mann und Weib gemacht, und auf ein solches Pferd ist sie von einem Unteroffizier als kleines Mädchen gehoben worden und hat dabei angeblich ihre ersten Wollustempfindungen gehabt. Stellen Sie sich vor, daß ein fünfjähriges Mädchen neben einem Wallach steht, dann sieht es vor sich den Bauch mit einem daranhängenden Ding, das sich plötzlich um das Doppelte verlängert und einen mächtigen Harnstrahl aus dem Bauche herabsendet. In der Tat ein überwältigender Anblick für ein Kind.

Das Volk erzählt sich, daß man bei Frauen nach der Größe des Mundes die Größe des Scheideneingangs beurteilen könne. Vielleicht hat das Volk recht, denn der Parallelismus zwischen Mund und Geschlechtsöffnung besteht. Die Gestalt des Mundes folgt den Geschlechtserregungen, und wenn er es nicht tut, verraten sich in seinem Muskelspiel die Verdrängungen. Und das Gähnen erzählt nicht nur von dem Müdesein, sondern auch davon, daß der Gähnende im gegebenen Augenblick ein begehrendes Weib ist, ähnlich wie der, der mit offenem Munde schläft.

Schauen Sie sich doch die Menschen an, Sie lesen in ihrem Gesicht, ihrer Kopfform, der Handgestaltung, dem Gang tausend Geschichten. Dort ist einer mit hervorquellenden Augen; seien Sie sicher, er will Ihnen schon von fern seine Neugier und den Schreck über wunderbare Entdeckungen zeigen; diese tiefliegenden Augen zogen sich zurück, als der Menschenhaß groß ward; sie wollen nicht sehen und noch weniger gesehen werden. Die Tränen, die geweint werden, sind nicht nur Trauer und Schmerz geweiht, sie ahmen die Perle nach, die tief in der Muschel ruht, in der Perlmuttermuschel des Weibes, und jedes Weinen ist voll symbolischer Wollust. Immer, ohne Ausnahme. Das weiß auch jeder Dichter, seit Jahrtausenden wissen sie es und erzählen davon, ohne es bewußt auszusprechen. Nur die, die es wissen müßten, die wissen es nicht. Eros benutzt das Auge zu seinen Diensten, es muß ihm Bilder geben, die ihm gefallen. Und wenn ihrer zu viele wurden, wäscht er sie ab; er läßt das Auge überquellen, weil die innere Spannung zu groß wurde, um auf dem Wege der genitalen Absonderung gelöst zu werden, weil ihm das Verfahren der Kindheit, die Erregung im Harn auszuströmen, gesperrt ist, oder weil er, verstimmt von der Moralität, den Menschen im Gleichnis dafür büßen lassen will, daß er sich schämt erotisch zu sein. Eros ist ein 188 starker, eifriger Gott, der grausam und höhnisch zu strafen weiß. »Du nennst schmutzig«, zürnt er, »daß ich die höchste Leistung des Menschen, die Vereinigung von Mann und Weib und die Schöpfung des neuen, an das Naßwerden zwischen den Schenkeln band. So sollst du deinen Willen haben. Du hast Schleimhäute im Darm und anderswo, deine Ejakulation sei fortan Diarrhoe, Auswurf, Schnupfen, Fußschweiß oder Achselschweiß vor allem Harnen.«

Ich verstehe, daß Sie das alles sonderbar finden. Aber wer hindert mich zu phantasieren, wie ich will; heute Eros zu nennen, was ich gestern Es nannte; dies Es als strafenden Gott aufzufassen, obwohl ich es eben als mitleidig, zart und sanft schilderte, ihm eine Macht zu geben, die hierhin drängt und dort verbietet und immer wieder mit sich selbst in Widerspruch zu geraten scheint. Damit tue ich nichts andres, als was die Menschen von jeher getan haben. Und es scheint mir für unser wohlgeordnetes Oberflächendenken nützlich zu sein, ab und zu die Dinge durcheinanderzuwerfen. Alles muß revolutioniert werden, das ist ein dummes Ziel, aber eine richtige Beobachtung.

Darf ich Weiterphantastereien? Ich sprach vorhin von der Gleichsetzung von Mund und Geschlechtsöffnung. So ist die Nase für ein launisch gewordenes Es, dessen Machtvollkommenheit unbegrenzt ist, ein Mannesglied, und demzufolge läßt es die Nase groß wachsen oder klein, stumpf oder spitz, setzt sie wohl auch schief in das Gesicht, je nachdem es diese oder jene Neigung damit kundtun will. Und nun ziehen Sie bitte Ihre Schlußfolgerungen für die Entstehung des Nasenblutens, das ja in bestimmten Altersperioden häufig ist, für Haare, die aus den Nasenlöchern wachsen, für Polypen und skrofulösen Gestank. Die Ohren wiederum haben Muscheln, und Muschel, das erzählte ich schon, ist Symbol des Weibseins. Das Ohr ist empfangendes Organ, und seine Gestalt ist für träumerische Beobachter nicht uninteressant.

Aber Sie müssen nicht etwa glauben, daß ich Erklärungen geben will. Das Leben ist viel zu bunt, um es zu kennen, viel zu glatt, um es zu packen. Vielleicht will ich nur ein wenig über die Logik spotten. Vielleicht steckt auch mehr dahinter.

Haben Sie schon bemerkt, wie schwierig es oft ist, Kinder dazu zu bringen, daß sie sich in den Mund schauen lassen? Das Kind denkt noch naiv: Es hält den Mund für den Eingang der Seele und glaubt, der Arzt, den kleine und große Narren für einen Zauberer halten, könne dort alle Geheimnisse sehen. Und tatsächlich steckt im Schlund etwas, was kein Kind gerne verrät, das Wissen um Mann 189 und Weib. Dort hinten sind zwei Bogen – oder sind es die beiden Mandeln –, die begrenzen eine Öffnung, die in die Tiefe führt, dazwischen zuckt, verkürzt und verlängert, bewegt sich ein Gebilde, das rot ist, dort hängt ein Schwänzchen. »Der Brillenmann, der Onkel Doktor weiß, wenn er das sieht, daß ich lauschend im Bett lag, während die Eltern mich schlafend glaubten und mit Öffnung und Stempel Spiele spielten, die ich nicht wissen darf. Und wer weiß, vielleicht steht dort geschrieben, was ich selbst trieb, ohne daß es jemand erfuhr.« Halsentzündungen bei Kindern sind lehrreich. Sie glauben nicht, was man alles aus ihnen herauslesen kann.

Und nun gar erst die Masern und Scharlach! »Ich brenne, ich brenne«, erzählt das Fieber, »und ich schäme mich so, sieh nur, ich bin rot geworden über den ganzen Körper.« Sie brauchen das natürlich nicht zu glauben, aber woher kommt es wohl, daß unter drei Kindern zwei an Scharlach erkranken und eins bleibt gesund? Manchmal ist eine phantastische Erklärung besser als gar keine. Und so ganz dumm ist es wirklich nicht. Sie müssen nur bedenken, daß das Alter der Leidenschaft nicht die Zeit der Jugend ist, sondern die Kindheit. Die Schamröte aber in ihrem vom Es gewollten Doppelsinn zieht einen Schleier über das Gesicht, damit man nicht sieht, was dahinter vorgeht, damit man sieht, wie das Feuer der Sinnlichkeit auflodert, damit man weiß, daß das moralisch erzogene Es das heiße Blut vom Bauch, von den Geschlechtsteilen, von Hölle und Teufel weg in den Kopf treibt, um um so dichter das Gehirn zu umnebeln.

Ich könnte nun noch lange so weitererzählen, von Lungenentzündungen und Krebs, von Gallensteinen und Nierenblutungen, aber wir können davon auch später sprechen. Heute nur noch ein einziges Wort über den Exhibitionstrieb und seine Kraft. Vor einem Jahrhundert gab es noch keine Frauenärzte und heut ist in jedem Städtchen und an jeder Großstadtstraßenecke ein Spezialist. Das ist, weil die Frau nie Gelegenheit hat, sich außerhalb der Ehe zu zeigen, weil das Kranksein alles entschuldigt, und weil das Kranksein die unbewußten, halbbewußten und bewußten strafbaren Wünsche rächt und so vor der ewigen Strafe schützt.

Es gibt eine Form der Exhibition, die für das Zustandekommen unsrer Korrespondenz historisch wichtig ist, das ist die Hysterie, im besonderen der hysterische Krampfanfall. Ich habe schon einmal den Namen Freud erwähnt, und ich möchte wiederholen, was ich anfangs sagte: Alles, was in diesen gemischten Briefen richtig ist, geht auf ihn zurück. Nun, Freud hat vor einigen Jahrzehnten 190 die ersten grundlegenden Beobachtungen über das Es bei einer Hysterischen gemacht. Ich weiß nicht, wie er jetzt über diese Erscheinungen denkt, ich darf mich also nicht auf ihn berufen, wenn ich behaupte, daß das Es des Hysterischen listiger ist als das aller andern Menschen. Mitunter bekommt dieses Es Lust, die Geheimnisse des Eros vor aller Welt und in voller Öffentlichkeit zu produzieren. Und um diese Aufführungen, gegen die alle Nackt- und Bauchtänze nichts sind, ungestört von Selbstvorwürfen und moralischer Entrüstung der Umwelt geben zu können, erfindet das Es die Bewußtlosigkeit und kostümiert die erotischen Vorgänge symbolisch als krampfhafte, schreckenerregende Bewegungen und Verrenkungen von Rumpf, Kopf und Gliedmaßen. Es geht dabei ähnlich zu wie im Traum, nur daß das Es für seinen Krampf ein verehrliches Publikum einladet, über das es sich weidlich lustig macht.

Ich nähere mich jetzt wieder den Mitteilungen über die Begattungs- und Empfängnistheorie, wie sie das Kind hat, wie Sie sie gehabt haben und wie ich sie gehabt habe. Vorher muß ich noch eine Frage stellen. Wann, glauben Sie wohl, haben Sie zuerst den Unterschied der Geschlechter kennengelernt? Aber bitte, antworten Sie nicht: »Mit acht Jahren; da wurde mein Bruder geboren.« Denn ich bin überzeugt, daß Sie auch schon mit fünf Jahren imstande waren, ein nacktes Mädchen von einem nackten Jungen zu unterscheiden, und mit drei Jahren auch und vielleicht noch früher. Schließlich wird sich herausstellen, daß Sie ebensowenig davon wissen wie ich, ja daß überhaupt niemand etwas davon weiß. Ich kenne einen kleinen Jungen von zweieinhalb Jahren, Stacho genannt. Der sah zu, wie sein neugeborenes Schwesterchen gewaschen wurde, sprach dann – und wies zwischen seine Beine – die Worte: »Stacho hat« und drehte dem Mädchen den Rücken.

Nun also, über den Zeitpunkt, wann das Kind Kenntnis vom Unterschied der Geschlechter bekommt, wissen wir nichts, aber daß es schon vor dem vierten Lebensjahr ein lebhaftes Interesse dafür hat, diese Unterschiede festzustellen, über ihre Gründe nachzudenken und danach zu fragen, das wissen sogar die Mütter; für mich ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß dieses Interesse überaus lebhaft ist. Ich erzählte Ihnen schon früher einmal, daß das Kind unter dem Assoziationszwang des Kastrationskomplexes annimmt, alle Menschen seien mit einem Schwänzchen ausgestattet, seien männlichen Geschlechts, und was Frau und Mädchen 191 genannt werde, seien kastrierte, verschnittne Männer, verschnitten zum Zweck des Kinderkriegens und zur Strafe für die Onanie. Diese Idee, die gar nicht so dumm, in ihren Wirkungen aber von unberechenbarer Bedeutung ist, weil darauf das Überlegenheitsgefühl des Mannes und das Minderwertigkeitsgefühl des Weibes beruht, weil deswegen das Weib unten, der Mann oben liegt, weil deswegen die Frau nach oben, gen Himmel, zur Religion strebt, der Mann aber nach vorn, in die Tiefe, zur Philosophie hin, diese Idee verbindet sich in der verworrenen und doch so logischen Denkweise des Kindes mit den Resultaten sorgfältiger Prüfung der männlichen Geschlechtsteile. Man erwägt in angeborenem hausväterischen Sinn – Sie und ich haben es getan und jeder tut es –, wie wohl diese abgeschnittenen Geschlechtsteile verwertet werden mögen. Die Verwendung des Anhängsels selbst bleibt zunächst rätselhaft; unter Umständen scheint es als Blinddarm sein Dasein zu fristen. Dagegen sind in dem Säckchen zwei kleine Gebilde, die entschieden Ähnlichkeit mit Eiern haben. Eier aber werden gegessen. Also werden die Eier, die den zum Frausein verurteilten Männern abgeschnitten werden, gegessen. Vor solchem Schluß scheut sich sogar das Kind, das im allgemeinen wenig Gefühl für fremdes Leid aufbringt. Es findet es sinnlos, nur des Essens wegen Menschen anzuschneiden, da ja von den Hühnern genug Eier gelegt werden. Darum wird ein weiterer Grund gesucht, um das Abschneiden und Aufessen verständlich zu machen. Da kommt dem nachdenklichen Kinde eine Erfahrung zu Hilfe, die es frühzeitig macht; aus Eiern entstehen Küchlein, Hühnerkinder; und diese Eier kommen hinten aus der Henne heraus, aus dem Loch im Hennenpopo; und aus dem Frauenpopo kommen, das ist schon ausgemacht, die Kinder. Jetzt wird die Sache klar. Die abgeschnittenen Eier werden gegessen, nicht weil sie gut schmecken, sondern weil daraus die kleinen Menschenkinder werden. Und langsam schließt sich der Kreis der Gedanken, und aus dem nebelhaften Dunkel des Denkens tritt schreckenerregend ein Mensch hervor: der Vater. Der Vater schneidet der Mutter die Geschlechtsteile ab und gibt sie ihr zu essen. Und daraus werden die Kinder. Das ist es, weshalb die atemraubenden, betterschütternden Kämpfe zwischen den Eltern des Nachts sich abspielen, deswegen das Stöhnen und Ächzen, deswegen das Blut im Nachttopf. Der Vater ist furchtbar, ein Grausamer, Strafender. Was aber straft er? Das Reiben und Spielen. Sollte die Mutter auch spielen? Der Gedanke ist unausdenkbar. Aber er braucht nicht gedacht zu werden. Denn an seine Stelle tritt die Erfahrung. Die mütterliche Hand reibt täglich die 192 kindlichen Eierchen des Sohnes, spielt mit seinem Schwänzchen. »Die Mutter kennt das Reiben. Der Vater weiß davon und straft. So wird er auch mich strafen, denn ich spiele auch. Möchte er doch strafen, denn ich will Kinder haben! Ich will spielen, dann wird er mich strafen und ich bekomme Kinder. Gott sei Dank, ich habe einen Vorwand zum Spielen. Aber womit soll ich spielen, wenn der Vater mir das Schwänzchen abschneidet? Es ist besser, ich verstecke mein Vergnügen. Es ist sicher besser.«

So wechseln Sehnsucht und Angst, und das Kind wird langsam ein Mensch, schwankend zwischen Trieb und Moral, Begierde und Furcht.

Adjö, Liebe, Ihr

Patrik Troll


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