Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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13. Brief

Ich bin Ihnen dankbar, liebe Freundin, daß Sie auf Kunstausdrücke und Definitionen verzichten. Es wird auch ohne sie gehen, und ich laufe wenigstens nicht Gefahr, mich zu blamieren. Denn im 112 tiefsten Geheimnis will ich Ihnen anvertrauen, daß ich Definitionen, mögen sie von anderen oder von mir stammen, oft selber nicht verstehe.

Statt der Definitionen will ich Ihnen, Ihrem Wunsch gemäß, etwas mehr von den Wirkungen des Verkehrsverbotes während der Periode mitteilen. Und weil mich das Schicksal doch einmal zum Arztsein bestimmt hat, soll es etwas Medizinisches sein. Seit einem Jahrhundert ungefähr, seitdem man auch die sehr männlichen mythischen Symbole der Engel ins Weibliche umgestaltet hat, ist es Mode, den Frauen einen Seelenadel anzudichten, der sich in Abscheu vor aller Erotik äußert, sie als schmutzig empfindet und besonders die ›unreine‹ Zeit des Weibes, worunter man die Periode versteht, als beschämendes Geheimnis behandelt. Und diese Tollheit – denn wie soll man anders eine Denkweise nennen, die den Frauen die Sinnlichkeit abspricht; als ob die Natur so dumm wäre, dem Teil der Menschheit, der die Last der Schwangerschaft trägt, weniger Begierde mitzugeben als dem andern? Die Tollheit geht so weit, daß die von Ihnen so hochgepriesenen Lehrbücher allen Ernstes von der Existenz frigider Frauen sprechen, Statistiken darüber veröffentlichen, die sich auf die von der Zeitsitte erzwungene Heuchelei der Frauen gründen und so das Weib, wissenschaftlich unwissend, immer tiefer in Lug und Trug hineintreiben. Denn, denkt das arme, eingeängstigte Wesen, das man junge Dame nennt, warum sollte ich, wenn es die Mutter durchaus verlangt, der Vater es als selbstverständlich voraussetzt und der Geliebte meine Reinheit anbetet, nicht so tun, als ob ich wirklich zwischen Kopf und Füßen nichts hätte? Sie spielt die aufgezwungene Rolle im allgemeinen mit Geschick, ja, sie strebt wirklich danach, das Anerzogene als echt zu leben, und nur die Raserei der vierten Woche geht über ihre Kraft. Sie braucht eine Hilfe, ein Band gewissermaßen, das die Maske festhält, und diese Hilfe findet sie in der Erkrankung, zunächst im Kreuzschmerz. Das Vor- und Zurückbewegen des Kreuzes ist die Beischlaftätigkeit des Weibes; der Kreuzschmerz verbietet diese Bewegung, er verstärkt das Verbot der Brunst.

Glauben Sie nur ja nicht, liebe Freundin, daß ich mit solchen kleinen Bemerkungen irgendeine Frage zu lösen beabsichtige. Ich will Ihnen nur begreiflich machen, was Ihnen so oft unbegreiflich schien, warum ich immer wieder bei meinen Kranken nach dem Zweck ihrer Erkrankung frage. Ich weiß nicht, ob die Erkrankung einen Zweck hat, es ist mir auch gleichgültig. Aber ein solches Fragen hat sich mir bewährt, weil es auf irgendeine Weise das Es 113 des Kranken in Bewegung setzt und nicht selten zum Verschwinden eines Symptoms beiträgt. Das Verfahren ist ziemlich roh, pfuscherhaft, wenn Sie wollen, und ich bin mir bewußt, daß jede Gelehrtenbrille geringschätzig darüber hinwegsieht. Aber Sie haben mich danach gefragt, und ich antworte.

Ich pflege im Laufe einer Behandlung zu irgendeiner Zeit den Kranken darauf aufmerksam zu machen, daß aus Menschensamen und Menschenei stets ein Mensch wird, nicht ein Hund, nicht eine Katze, daß eine Kraft in diesen Keimen steckt, die imstande ist, eine Nase, einen Finger, ein Gehirn zu formen, daß also diese Kraft, die so Erstaunliches leistet, wohl auch einen Kopfschmerz oder einen Durchfall oder einen geröteten Hals erschaffen kann, ja, daß ich es nicht für zu kühn halte anzunehmen, daß sie auch eine Lungenentzündung oder Gicht oder Krebs fabrizieren kann. Ich gehe sogar so weit, dem Kranken gegenüber zu behaupten, diese Kraft tue das wirklich, mache den Menschen nach ihrem Belieben krank zu bestimmten Zwecken, wähle nach ihrem Belieben zu bestimmten Zwecken Ort, Zeit und Art der Erkrankung aus. Und dabei kümmere ich mich gar nicht darum, ob ich das, was ich behaupte, selber glaube oder nicht, ich behaupte es einfach. Und dann frage ich den Kranken: »Wozu hast du eine Nase?« »Zum Riechen«, antwortet er mir. »Also«, folgere ich, »hat dein Es dir den Schnupfen gegeben, damit du irgend etwas nicht riechen sollst. Suche, was du nicht riechen solltest.« Und ab und zu findet der Patient wirklich einen Geruch, den er vermeiden wollte, und – Sie brauchen es nicht zu glauben, aber ich glaube es – wenn er es gefunden hat, verschwindet der Schnupfen.

Die Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den Widerstand gegen ihre Begierde, so behaupte ich. Aber damit soll nicht gesagt sein, daß derlei Schmerzen nur diesem Zweck dienen. Sie müssen bedenken, daß in dem Worte ›Kreuz‹ das Mysterium der Christenheit steckt, daß dieses ›Os sacrum‹, dieser ›heilige Knochen‹ in sich das Problem der Mutter birgt. Davon und von andrem will ich hier nicht sprechen, lieber ein wenig weitergehen. Zuweilen genügt der Kreuzschmerz nicht, dann tritt warnend der Krampf und wehenartige Schmerz im Unterleibe hinzu, und reicht das nicht aus, so greift das Es zum Kopfschmerz, um die Gedanken stillzustellen, zu Migräne, Übelkeit und Erbrechen. Sie stehen da mitten in seltsamen Symbolen; denn Übelkeit, Erbrechen, das Gefühl des Schädelplatzens sind Geburtssinnbilder in Krankheitsform.

Sie verstehen, daß es unmöglich ist, klare Auseinandersetzungen 114 zu geben, wo alles so bunt ist. Aber eines darf ich wohl sagen: Je schwerer der innere Konflikt der Menschen ist, um so schwerer sind die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt darstellen, und umgekehrt, je schwerer die Erkrankungen, um so heftiger ist die Begierde und der Widerstand gegen die Begierde. Das gilt von allen Erkrankungen, nicht nur von denen der Periode. Reicht die leichte Form des Unwohlseins nicht aus, um den Konflikt zu lösen oder zu verdrängen, so greift das Es zur schwereren, zum Fieber, das den Menschen ins Haus bannt, zur Lungenentzündung oder zum Beinbruch, die ihn in das Bett werfen, so daß der Kreis der Wahrnehmungen, die die Begierde stärker reizen, kleiner wird, zur Ohnmacht, die jeden Eindruck ausschließt, zur chronischen Erkrankung, Lähmung, zum Krebs und der Schwindsucht, die langsam die Kraft untergraben, und schließlich zum Tode. Denn nur der stirbt, der sterben will, dem das Leben unerträglich wurde.

Darf ich wiederholen, was ich sagte? Die Erkrankung hat einen Zweck, sie soll den Konflikt lösen, verdrängen oder das Verdrängte am Bewußtwerden verhindern; sie soll für die Übertretung des Verbotes bestrafen, und das geht so weit, daß man aus der Art und dem Ort und der Zeit der Erkrankung auf Art, Ort und Zeit der strafbaren Sünde Rückschlüsse machen kann. Wer den Arm bricht, hat mit dem Arm gesündigt oder wollte damit sündigen, vielleicht morden, vielleicht stehlen oder onanieren; wer blind wird, will nicht mehr sehen, hat mit den Augen gesündigt oder will mit ihnen sündigen; wer heiser ist, der hat ein Geheimnis und wagt es nicht laut zu erzählen. Die Erkrankung ist aber auch ein Symbol, eine Darstellung eines inneren Vorgangs, ein Theaterspiel des Es, mit dem es verkündet, was es mit der Zunge nicht auszusprechen vermag. Mit andern Worten, die Erkrankung, jede Erkrankung, mag sie nervös oder organisch genannt werden, und auch der Tod, sind ebenso sinnvoll wie das Klavierspiel oder das Anzünden eines Streichholzes oder das Übereinanderschlagen der Beine. Sie sagen etwas vom Es aus, deutlicher, eindringlicher als die Sprache es vermag, ja als das ganze bewußte Leben es kann. ›Tat vam asi.‹Ein indischer Satz, der etwa bedeutet: Das bist du, das heißt, das Weltall und die Einzelseele sind eins, sind aus dem gleichen Stoff.

Und wie seltsam scherzt das Es! Ich nannte vorhin die Schwindsucht, die Sucht zum Schwinden. Die Begierde soll schwinden, die Begierde nach dem Aus und Ein, nach dem Hin und Her der Erotik, das sich in der Atmung symbolisiert. Und mit der Begierde 115 schwinden die Lungen, diese Darsteller des Empfängnis- und Geburtssymbols, schwindet der Leib, dieses Phallussymbol, muß schwinden, weil die Begierde in der Erkrankung wächst, weil die Schuld durch die immer wiederholte symbolische Samenverschwendung des Auswurfs sich ständig vergrößert, weil die Sucht zu schwinden aus der Verdrängung dieser ins Bewußtsein strebenden Symbole immer wieder neu entsteht, weil das Es durch die Lungenerkrankung schöne Augen und Zähne, hitzende Gifte entstehen läßt. Und das grausame Mordspiel des Es wird noch toller, weil ihm ein Irrtum zugrunde liegt; denn Sucht hat nichts mit Sehnsucht zu tun, sondern mit siech. Aber das Es stellt sich, als ob es über Etymologie nichts wüßte, hält sich wie der naive Grieche an den Klang des Wortes und benutzt diesen Klang, um die Erkrankung entstehen zu lassen und weiterzuführen.

Es wäre gar nicht so dumm, wenn die berufenen Leute der Medizin weniger klug wären und plumper dächten, kindlicher folgerten. Man täte damit vielleicht Besseres als mit der Errichtung von Lungenheilstätten und Beratungsstellen.

Rate ich recht, wenn ich annehme, daß Sie auch vom Krebs ein kräftig Wörtlein hören mögen? Wir sind allmählich mit Hilfe unserer Beflissenheit, uns von Anatomie, Physiologie, Bakteriologie und Statistik Ansichten vorschreiben zu lassen, so weit gekommen, daß niemand mehr weiß, was er Krebs nennen soll und was nicht. Die Folge davon ist, daß das Wort Krebs ebenso wie das Wort Syphilis alle Tage vieltausendmal gedruckt und gesprochen wird; denn was hören wohl die Menschen lieber als Gespenstergeschichten? Und da man an Gespenster nicht mehr glauben darf, geben die beiden, trotz oder wegen der vielen Wissenschaft so gut wie undefinierbaren Namen, deren assoziative Verwandtschaft grausige Grotesken erschafft, einen guten Ersatz fürs Gruseln. Nun gibt es ein Phänomen im Leben des Es, das heißt die Angst, und die bemächtigt sich, weil sie aus Zeiten stammt, die jenseits der Erinnerung liegen, der beiden Wörter, um dem hohen Verstande einen Schabernack zu spielen und das Erscheinen der Angst seiner Dummheit erklärlich zu machen. Wenn Sie noch die Onanieangst hinzurechnen, haben Sie ein in sich zusammenhängendes Gewirr von Angst, und das halbe Leben ist Angst.

Aber ich wollte Ihnen etwas von meiner Krebsweisheit erzählen und merke, daß mich der Zorn vom Wege lockt. Gehen Sie hin zu Ihrer Nachbarin und Freundin, bringen Sie sie auf das Thema Krebs – sie wird bereitwillig darauf eingehen, denn sie hat wie alle Frauen Krebsangst – und fragen Sie sie dann, was ihr zu dem 116 Wortklang ›Krebs‹ einfällt. Sie wird Ihnen sofort antworten: »Der Krebs geht rückwärts«, und nach einigem Zögern: »Er hat Scheren.« Und wenn Sie ebenso frech wie ich am Schleier des Wissenschaftsmysteriums gezerrt haben, werden Sie daraus schließen: Der oberflächlicher liegende Komplex, aus dem die Krebsangst sich satt frißt, hat etwas mit der Rückwärtsbewegung zu tun, und tiefer liegt etwas, was mit dem Begriff des Schneidens zu tun hat. Das ist gar leicht zu erklären, der Mensch geht eben, wenn er am Krebs erkrankt, an Kraft und Lebensmut zurück, und der Arzt schneidet, wenn er ›in den Anfangsstadien‹ dazu kommt. Aber bei näherem Eingehen auf die Frage werden Sie erfahren, daß die Rückwärtsbewegung im Assoziationszwang mit Kindheitsbeobachtungen steht, die, frühzeitig verdrängt, im Unbewußten fortgewirkt haben. Der kleine Engel von Mädchen ist durchaus nicht unschuldig, wie man anzunehmen beliebt, durchaus nicht rein, wie die höheren Menschen es behaupten, genausowenig wie es die Taube ist, die man als Symbol der Reinheit und Unschuld uns vorführt, während die Griechen sie der Liebesgöttin beigesellten, dies Engelchen sieht seltsame Bewegungen beim Hund und der Hündin, beim Hahn und der Henne, und da es nicht dumm ist und aus dem albernen Verhalten von Erzieherinnen und Müttern schließt, daß es vor einem Geheimnis der Geschlechtsliebe steht, kombiniert es damit das andre ihm viel wichtigere Geheimnis des elterlichen Schlafzimmers.

So wie es hier die Tierlein tun, denkt es, treiben es auch Papa und Mama zu den Zeiten, wo ich das merkwürdige Beben des Bettes fühle und ihr gemeinsames Puff-Puff-Eisenbahnspielen höre. Mit andern Worten, das Kind kommt auf die Idee, daß der Beischlaf von hinten stattfinde, und versenkt diese Idee in die Tiefe, bis sie auf dem Assoziationswege ›rückwärts‹ und ›Krebs‹ als Angst wieder emporsteigt. Die Scheren aber – ich brauche es kaum noch zu sagen – führen direkt und indirekt auf die große Angstfrage der Kastration, der Verwandlung des ursprünglich männlich gedachten Weibes in ein weibliches Weib, dem der Penis abgeschnitten, zwischen dessen Beinen ein zeitweise blutendes Loch geschnitten wurde. Auch dieser Gedanke stützt sich auf eine Erfahrung, auf eine der ersten des Lebens, auf das Abschneiden der Nabelschnur.

Von all den Theorien, die über den Krebs aufgestellt worden sind, ist für mich im Laufe der Zeit nur eine übriggeblieben, die, daß der Krebs unter bestimmten Erscheinungen zum Tode führt. Was nicht zum Tode führt, ist kein Krebs, so meine ich. Sie können 117 daraus entnehmen, daß ich mir keine Hoffnung auf ein neues Verfahren zur Krebsheilung mache. Aber bei all den vielen sogenannten Krebsfällen lohnt es sich, auch einmal das Es des Menschen zu befragen.

Immer Ihr

Patrik Troll

 


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