Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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14. Brief

Liebe Freundin, Sie haben es richtig aufgefaßt, der Ödipuskomplex beherrscht des Menschen Leben. Aber ich weiß nicht recht, wie ich Ihrem Verlangen, mehr davon zu hören, nachkommen soll. Die Sage selbst, wie Ödipus unschuldig-schuldig seinen Vater erschlägt und mit der Mutter in blutschänderischem Verkehr unselige Kinder zeugt, kennen Sie doch oder finden Sie leicht in jeder Sagensammlung. Daß der Inhalt der Sage – brünstige Leidenschaft des Sohnes für die Mutter und mörderischer Haß gegen den Vater – typisch ist, für alle Menschen aller Zeiten gültig ist, daß in dieser Sage sich ein tiefes Geheimnis des Menschseins halb enthüllt, sagte ich schon. Und die Anwendung auf Ihr eigenes Leben, auf meines oder auf das irgendeines anderen Menschen müssen Sie selbst machen. Ich kann Ihnen höchstens ein paar Geschichten erzählen, vielleicht lesen Sie sich ein wenig daraus heraus. Ungeduldig dürfen Sie aber nicht werden, das Leben des Unbewußten ist schwer zu entziffern, und Sie wissen, mir kommt es auf ein paar Irrtümer nicht an.

Vor mehr als zwanzig Jahren – ich war damals noch ein junger Arzt, tollkühn in der festen Überzeugung, daß mir nichts fehlschlagen werde – wurde mir ein Knabe gebracht, der an einer seltsamen Hauterkrankung, ›Sklerodermie‹ genannt, litt. Er war wegen der Ausdehnung seines Leidens, das sich über große Teile des Bauchs, der Brust, der Arme und Beine erstreckte, von den Autoritäten als dem Tode verfallen aufgegeben. Ich übernahm frohgemut die Behandlung nach den Grundsätzen, die ich von Schweninger gelernt hatte, und da nach etwa einem Jahr die Sache zum Stillstand kam, hielt ich es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein und meiner – ich darf es sagen – mühseligen Arbeit die Genesung zuzuschreiben. Was man so Genesung nennt; wir Ärzte 118 sind darin, wenn es sich um die Beurteilung unserer eigenen Erfolge handelt, weitherzig. Letzten Endes blieb noch genug zu wünschen übrig; abgesehen von den Narben, die der Prozeß zurückgelassen hatte und die Sie sich kaum groß genug vorstellen können, waren die Ellbogengelenke so kontrakt, daß die Arme nicht vollständig ausgestreckt werden konnten, und das eine Bein war und blieb dünn wie ein Stock. Auch die Reizbarkeit des Herzens, die sich gelegentlich in rasender Schnelligkeit der Schläge und in Angstzuständen äußerte, wie fast ununterbrochener Kopfschmerz sowie eine Reihe von neurotischen Beschwerden ließen sich nicht beseitigen. Immerhin, der Knabe blieb am Leben, machte das Gymnasium durch, war eine Reihe von Jahren Offizier und ging dann zu einem akademischen Beruf über. Von Zeit zu Zeit erschien er für einige Wochen bei mir, um sich aufzufrischen. Inzwischen wurde er seiner vielen Beschwerden halber von dem und jenem Arzt behandelt, um schließlich bei einem bekannten Berliner Herrn, dessen Name Ihnen und mir Achtung einflößt, zu bleiben. Einige Jahre hörte ich nichts von ihm, dann kam der Krieg, und wenige Monate später traf er wieder bei mir ein.

Diesmal sah das Krankheitsbild seltsam aus. Kurz nach Kriegsausbruch war Herr D. – so wollen wir ihn nennen – mit starkem Schüttelfrost und Fieber bis zu 40° erkrankt. Das dauerte eine Weile, ohne daß man dahinterkam, was eigentlich los war. Endlich schien sich die Sache zu klären. Die Temperaturen sanken des Morgens unter 36°, um gegen Abend auf 39–40° zu steigen. Das Blut wurde auf Malaria untersucht, einmal, sechsmal, ein paar dutzendmal, Plasmodien wurden nicht gefunden, und auch Chinin und Arsenik, die man vorsichtshalber gab, blieben wirkungslos. Inzwischen wurde ohne Ergebnis auf Tuberkulose gefahndet und eine alte Syphilisdiagnose, derentwegen er vor Jahren ›antiluetisch‹ – wie schön das klingt – behandelt worden war, wieder aufgewärmt. Der berühmte ›Wassermann‹ – Sie wissen wohl, was das ist – ergab ein zweifelhaftes Resultat, und schließlich war man so klug wie zuvor. Plötzlich war das Fieber fort, der völlig heruntergekommene Körper fing an sich zu erholen, die Uniformen wurden instandgesetzt, und alles schien gut. Herr D. ging wieder aus, verfaßte ein Gesuch an sein Ministerium, das ihn für unentbehrlich erklärt hatte, ihm die freiwillige Teilnahme am Feldzug zu gestatten, erhielt die Erlaubnis und erkrankte am selben Tage mit Fieber und Halsschmerzen. Die zugezogenen Ärzte schauten ihm in den Mund, fanden an Mandeln, Zäpfchen und 119 Rachenwand Geschwüre, und da das Fieber verschwand, die Geschwüre aber weiter um sich griffen, ein verdächtiger Ausschlag erschien und einige Drüsen gefällig genug waren, angeschwollen zu sein, stellten sie ein Rezidiv der angeblich früher überstandenen Syphilis fest, was ich ihnen nicht verdenken kann. Die Wassermannsche Probe war freilich negativ, blieb es auch, aber – nun, kurz gesagt, es wurde Salvarsan und Quecksilber gegeben. Der Erfolg war niederschmetternd. Statt einer Besserung trat von neuem das rätselhafte Fieber auf, zeitweise begleitet von völliger Bewußtlosigkeit, der Kranke verfiel mehr und mehr, und schließlich ließ er sich unter Ausnützung der letzten Kräfte zu mir transportieren.

Ich war damals in bezug auf die Abhängigkeit des organischen Leidens vom Es meiner Sache nicht so sicher, wie ich es jetzt bin, glaubte auch, von irgendwelchen Bosheiten meines Unbewußten verleitet, bei einem Menschen, der anderthalb Jahrzehnte lang von mir in bestimmter Richtung behandelt worden war, von dieser Richtung nicht abweichen zu können, ohne sein Vertrauen zu verlieren; kurz ich behandelte ihn, wie er es von mir gewohnt war, mit sehr heißen lokalen Bädern, Massage, sorgfältiger Diät und so weiter. Das schloß den Versuch einer psychischen Beeinflussung nicht aus, nur ging dieser Versuch in der alten Richtung, dem Kranken durch die autoritative Suggestion zu helfen. Zunächst erklärte ich mit voller Überzeugung und bestimmt genug, um keinen Widerspruch aufkommen zu lassen, daß von Syphilis keine Rede sein könne; und dann zeigte ich dem Kranken, daß sein Leiden mit seinem Wunsch, in das Feld zu gehen, zusammenhinge. Er wehrte sich eine Zeitlang gegen diese Annahme, gab aber bald zu, daß es so sein könne, und erzählte mir ein paar Einzelheiten der letzten Monate, die meine Ansicht bestätigten.

Die Sache schien gut zu verlaufen, die Kräfte hoben sich, Herr D. begann in der Umgegend umherzustreifen und sprach wieder davon, sich freiwillig zum Heeresdienst zu melden. Damit war es ihm Ernst; er stammte aus einer alten Offiziersfamilie und war selbst mit Passion Offizier gewesen. Eines Tages trat wieder Fieber auf, wieder in der alten Weise mit niedrigen Morgentemperaturen und überaus hohen abendlichen Steigerungen, und gleichzeitig kamen auch von neuem die merkwürdigen Symptome, die deutlich den Charakter der Syphilis trugen. Es bildete sich ein Geschwür am Ellenbogen, dann, nachdem das abgeheilt war, eins an dem Unterschenkel, dann kamen Geschwüre im Hals, dann wieder am Ellenbogen und Unterschenkel und schließlich am Penis. 120 Dazwischen tauchte ein roseolaartiger Ausschlag auf, kurz es geschahen allerlei Dinge, die mich schwankend machten, ob nicht doch etwa Syphilis da sei. Die Untersuchungen nach Wassermann, die von der Universitätsklinik ausgeführt wurden, gaben widersprechende Resultate, bald lautete das Urteil bestimmt negativ, bald hieß es, es sei unbestimmt. Das zog sich drei Monate lang hin. Plötzlich, und ohne daß ich irgendwie finden konnte warum, verschwand die ganze Erkrankung. Herr D. blühte auf, nahm von Tag zu Tag an Kraft und Gewicht zu, und alles war gut. Ich gab ihm die vorgeschriebenen Impfungen gegen Pocken, Cholera und Typhus, er hing sich den Rucksack auf den Rücken und verabschiedete sich von mir, um nach einer dreitägigen Fußwanderung durch den Schwarzwald sofort sich bei seinem Bezirkskommando zu melden. Am dritten Tage der Wanderung brach das Fieber von neuem aus, Herr D. kehrte für einige Tage zu mir zurück, ging dann aber nach Berlin, um dort unter anderer ärztlicher Führung noch einmal sein Heil zu erproben.

Im Sommer 1916, fast sechzehn Monate später, kam er wieder. Er war lange Zeit in Berlin behandelt worden, war dann nach Aachen zu dem Gebrauch der dortigen Quellen geschickt worden, nach Sylt, in das Gebirge, nach Nenndorf und hatte schließlich wieder Wochen und Monate schwer krank in Berlin gelegen. Sein Zustand war derselbe, häufige stürmische Fieberanfälle, Geschwüre, Ohnmächten, Herzbeschwerden usw. Mir fiel auf, daß sein altes Leiden der Sklerodermie an einzelnen Stellen wieder eingesetzt hatte und daß die neurotischen Symptome zugenommen hatten.

Inzwischen war mit mir selbst eine große Veränderung vor sich gegangen. Während meiner Lazarettätigkeit hatte ich oft die Wirkung der Psychoanalyse auf die Heilung von Wunden und organischen Erkrankungen gesehen, meine Privatpraxis hatte mir eine Reihe Erfolge gebracht, ich hatte mir eine für mich brauchbare Technik angeeignet, kurz, ich trat an die Behandlung des Herrn D. mit dem festen Entschluß heran, mich um Diagnose, physikalische oder medikamentöse Therapie nicht zu kümmern, sondern ihn zu analysieren. Der Erfolg kam, ein Symptom nach dem andern verschwand, nach einem halben Jahr ging Herr D. als Infanterieoffizier ins Feld, wo er zwei Monate später fiel. Ob seine Genesung von Dauer gewesen wäre, vermag ich nicht zu entscheiden, da der Tod dazwischengetreten ist. Nach dem jetzigen Stand meines Wissens glaube ich, daß die Behandlung zu kurz war und daß der 121 Kranke wahrscheinlich Rückfälle bekommen hätte, wenn er länger gelebt hätte. Ich bin aber überzeugt, daß eine vollständige Heilung bei ihm möglich gewesen wäre. Die Frage ist schließlich gleichgültig, ich erzähle Ihnen diese Geschichte nicht des Erfolgs wegen, sondern um Ihnen einen Begriff von der Wirkung des Ödipuskomplexes zu geben.

Über die Behandlung teile ich nur mit, daß sie nicht leicht war. Immer von neuem tauchten Widerstände auf, die bald an meinen Vornamen Patrik als den eines lügnerischen Iren anknüpften, bald meine Gummischuhe oder eine liederlich geknüpfte Krawatte zum Vorwand nahmen; die Krawatte war ihm ein schlaff und lang herabhängender Hodensack, wie er ihn einst bei seinem alten Vater gesehen hatte, die Gummischuhe rührten alten Ärger aus der Kindheit auf. Dann wieder verschanzte er sich hinter meinem zweiten Vornamen Georg, der ihn an eine Romanfigur aus ›Robert dem Schiffsjungen‹ erinnerte, an einen Verführer und Dieb; dabei tauchte nach und nach eine ganze Horde George auf, die alle schlechte Kerle waren, bis endlich der eigentliche Übeltäter in der Gestalt eines Mannes erschien, von dem D. als Gymnasiast eine Ohrfeige bekommen hatte, ohne dafür Rechenschaft zu verlangen. Am längsten zu schaffen machte ihm und mir eine meiner damaligen Sprechgewohnheiten; ich pflegte ab und zu die Worte »offen gestanden« zu gebrauchen oder auch »Ich muß Ihnen offen gestehen«. D. schloß daraus, daß ich löge, eine Folgerung, die gar nicht so dumm war.

Der Widerstand des Kranken gegen den Arzt ist das Objekt jeder Behandlung. Das Es wünscht durchaus nicht von vornherein, gesund zu werden, so sehr auch die Krankheit den Kranken plagt. Im Gegenteil, das Bestehen der Krankheit beweist, trotz aller Versicherungen, Klagen und Anstrengungen des bewußten Menschen, daß dieser Mensch krank sein will. Das ist wichtig, Liebe. Ein Kranker will krank sein, und er wehrt sich gegen die Genesung, etwa wie ein verzogenes kleines Mädchen, das seelengern zum Ball gehen möchte, doch sich mit allerlei Getue dagegen wehrt hinzugehen. Es lohnt sich immer, sich die Einwände, die solch ein Widerstand gegen den Arzt hat, genau anzusehen; sie verraten allerlei über den Kranken selbst. So war es auch bei D. Die schlaffen Hoden und die Gummischuhe des Weichlings erregten bei ihm Anstoß, weil er selber in hohem Grade das Impotenzgefühl hatte. Das Lügen, wie er es in ›Patrik‹ und ›offen gestanden‹ angriff, verabscheute er wie alle ehrenhaften Leute, aber wie alle ehrenhaften Leute belog er sich selbst – und damit andere – 122 ununterbrochen. Mit den Vornamen hatte er es so arg, weil er seinen eigenen ›Heinrich‹ haßte; er ließ sich statt dessen von seinen Intimen ›Hans‹ nennen, weil irgendein Heldenvorfahr seines Geschlechts diesen Namen geführt hatte. Auch darin fühlte er die Lüge, denn sein dumpfes Gefühl vom Es belehrte ihn, daß er durchaus kein Held war, daß seine Krankheit Schöpfung seines ängstlichen Unbewußten war. Georg schließlich war ihm unerträglich, weil er einstmals wie der Dieb aus ›Robert dem Schiffsjungen‹ – die Erinnerung daran kam unter heftigen Krankheitssymptomen und Fieber – seinem Vater zwei Medaillen entwendet hatte. Medaille aber führte ihn zu dem Wort ›Medaillon‹, und ein Medaillon mit dem Bild seiner Mutter trug sein Vater, und diesem Medaillon galt in Wahrheit sein Diebstahl. Er wollte dem Vater die Mutter stehlen. Ödipus.

Noch eine Seltsamkeit muß ich erwähnen. D. trug eine ganze Reihe von weitausgreifenden Komplexen mit sich herum, die alle letzten Endes mit dem Ödipuskomplex und mit der Impotenzidee zusammenhingen. Wurde während der Behandlung der Ödipuskomplex an irgendeiner empfindlichen Stelle gepackt, so erschien das Fieber, kam man der Impotenz zu nahe, so traten die Syphilissymptome hervor. D. gab mir dafür folgende Erklärung: »Meine Mutter ist mir im Laufe der Jahre ganz gleichgültig geworden. Das beschämt mich, und ich suche, sooft ich genötigt bin, angestrengt an sie zu denken, die alte Glut wieder anzufachen. Und weil das seelisch nicht gelingt, entsteht die körperliche Hitze. Meinem Vater, der alt war, als er mich zeugte, nach meiner Ansicht zu alt, schiebe ich alle Schuld an meiner Impotenz zu. Und da ich ihn, der längst tot ist, nicht persönlich bestrafen kann, so strafe ich ihn im Sinnbild, im Erzeuger, in dem, der erzeugt, in meinem eigenen Geschlechtsteil. Das hat den Vorteil, daß ich mich selbst für die Lüge mitbestrafe; denn nicht mein Vater, sondern ich selber trage die Schuld meiner Impotenz. Und schließlich, ein Syphilitiker darf impotent sein, es ist gut für ihn und die Frauen.« Sie sehen, D. hatte ein wenig Trollheit in sich; das hat mir an ihm gefallen.

Und nun der Ödipuskomplex. Im Vordergrund steht die Leidenschaft für die Mutter. Die Masse der Einzelheiten lasse ich beiseite; als Probe gab ich Ihnen den Medaillendiebstahl, der symbolisch den Raub der Mutter bedeutet. Statt kleiner Züge wähle ich einiges aus, was Ihnen die tiefen Wirkungen des Es zeigen wird. Zunächst ist da die andauernde Krankheit D.s, die von Zeit zu Zeit zu schweren langwierigen Erkrankungen ausartete. Der Kranke bedarf der Pflege, der Kranke erzwingt sich die Pflege. Jede 123 Erkrankung ist eine Wiederholung der Säuglingssituation, entspringt der Sehnsucht nach der Mutter, jeder Kranke ist ein Kind, jeder Mensch, der sich des Kranken annimmt, wird zur Mutter. Die Kränklichkeit, die Häufigkeit und Dauer der Erkrankungen sind ein Beweis, wie tief der Mensch noch an die Mutterimago gefesselt ist. Sie können meist ohne die Gefahr eines Irrtums in Ihren Schlüssen noch weitergehen: Wenn jemand krank wird, ist es wahrscheinlich, daß er irgendwie in nächster zeitlicher Nähe des Krankheitsbeginnes überaus stark an die Mutterimago erinnert wurde, an die Imago der ersten Säuglingswochen. Ja, ich scheue mich nicht, auch hier das Wort ›immer‹ hinzusetzen. Es ist immer so. Und es gibt nicht leicht einen stärkeren Beweis für jemandes Leidenschaft zur Mutter, für seine Abhängigkeit vom Ödipuskomplex, als dauernde Kränklichkeit.

Diese Leidenschaft hat noch etwas anderes bei D. hervorgebracht, was man nicht selten beobachten kann. Der Herr, der Eigentümer der Mutter, ist der Vater. Will der Sohn Herr, Eigentümer, Geliebter der Mutter werden, so muß er dem Vater ähnlich werden. Das ist D.s Fall. Ursprünglich – ich habe Kinderbilder von ihm gesehen – war keine Rede von Ähnlichkeit mit dem Vater, auch sein Wesen hatte nach Aussage der Mutter nichts mit dem Vater gemein. In den zwanzig Jahren, die ich den Kranken gekannt habe, konnte man von Jahr zu Jahr beobachten, wie in Gebärde, Haltung, Gewohnheiten, in Gesicht und Körperbildung, im Denken und Wesen langsam eine Annäherung an den Vater stattfand. Nicht das Es änderte sich, sondern darüber, so daß nur noch hie und da der eigentliche Menschenkern zum Vorschein kam, bildete sich ein neues ›Es der Oberfläche‹, oder wie Sie es sonst nennen wollen, und dieses neue Es – das ist das Beweisende – schwand mit der fortschreitenden Genesung. Der echte D. kam wieder zum Vorschein. Am deutlichsten sprach sich die Anähnelung an den Vater in dem frühzeitigen Altern D.s aus. Schon mit dreißig Jahren war er vollkommen weiß. Ich habe dieses Ergrauen zugunsten der Vatermaske mehrfach entstehen und auch wieder verschwinden sehen. Wie es bei D. geworden wäre, weiß ich nicht. Er starb zu früh.

Ein drittes Merkmal seiner Leidenschaft zur Mutterimago war seine Impotenz, wie denn beim Unvermögen des Mannes immer die erste Frage sein muß: Wie steht dieser Mensch zu seiner Mutter. D. hatte die charakteristische Form der Impotenz, wie sie Freud beschrieben hat; er teilte die Frauen in Damen und Huren 124 ein. Der Dame, das ist der Mutter gegenüber, war er impotent, mit der Hure vermochte er in Geschlechtsverkehr zu treten. Aber das Bild der Mutter wirkte mächtig in ihm, und so erfand sein Es, um sich gänzlich vor jedem Inzest, selbst vor dem Bilde der Dirne zu schützen, die syphilitische Ansteckung. Daß sich jemand unter dem Druck des Ödipuskomplexes bei irgendeinem Frauenzimmer infiziert, habe ich oft gesehen. Daß aber diese Ansteckung vom Es erfunden und nun jahrelang im Theater mit Syphilis- oder Trippersymptomen gespielt wird, scheint selten zu sein. Ich habe es bisher nur zweimal bestimmt gesehen, bei D. und bei einer Frau.

Weiter, der Beginn der Erkrankung – die ersten Symptome sind immer beachtenswert, sie verraten viel von den Absichten des Es –, der Beginn der Erkrankung war die Sklerodermie des linken Beines, die dann auf den rechten Arm übergriff. Was am linken Beine vor sich geht, sagt mir in der närrischen Sprache, die ich mir zurechtgemacht habe: »Dieser Mensch wünscht, einen bösen, unrechten, linken Weg zu gehen, aber sein Es hindert ihn daran.« – Wenn der rechte Arm irgendwie erkrankt, so bedeutet das: »Dieser rechte Arm will etwas tun, woran das Es Anstoß nimmt, deshalb wird er in seinem Tun gelähmt.«

Kurz vor den Beginn des Beinleidens fällt ein wichtiges Erlebnis, D.s Mutter wurde schwanger. Er war damals fünfzehn Jahre alt, will aber nichts von dieser Schwangerschaft bemerkt haben; das ist ein sicheres Zeichen, daß tiefe Erschütterungen seines Wesens ihn zu verdrängen nötigten. Dieser Kampf des Verdrängens fällt mitten in die Geschlechtsentwicklung des Knaben und verbindet sich mit einem zweiten Verdrängungskonflikt sexueller Art. Denn ebenso, wie der Kranke behauptete, von der Geburt seines Brüderchens völlig überrascht worden zu sein, behauptete er auch, daß er damals überhaupt keine Kenntnisse vom Geschlechtsverkehr gehabt habe. Beides ist unmöglich. Das letztere deshalb, weil der Knabe gerade zur selben Zeit eine Kaninchenzucht betrieb und stundenlang den Geschlechtsspielen der Tiere zusah, ersteres, weil er selbst sehr bald dahinterkam, daß er schon während der Schwangerschaft die Mordideen hatte, von denen sofort die Rede sein wird. Aus der Idee, diesen spätgeborenen Bruder zu beseitigen, leitet sich nämlich zum Teil das Übergreifen der Sklerodermie auf den rechten Arm her. Die Idee, unbequeme Menschen zu töten, begleitet uns alle durch unser ganzes Leben, und unter ungünstigen Verhältnissen wird Wunsch und Abscheu zu töten so stark, daß das Es sich entschließt, das Mordwerkzeug des 125 Menschen, den rechten Arm, lahmzulegen. Ich glaube, ich erzählte Ihnen schon, weshalb diese Mordideen so verbreitet sind, zu Ihrem Nutz und Frommen will ich es aber wiederholen: Das Kind lernt den Begriff des Todes durch das Spiel kennen. Es schießt und sticht nach dem Erwachsenen, der fällt um und stellt sich tot, um kurz darauf zum Leben zu erwachen. Ist es nicht seltsam, wie das Es der Kindesseele die schwersten Probleme als Nichtigkeiten, als Spaß darzustellen weiß, wie es aus dem Sterben ein Amüsement für das Kind zu machen versteht? Und ist es ein Wunder, daß dieser mit den schönsten Erlebnissen des Kindesalters verwobene heitere Todeseindruck mit der raschen Wiederbelebung sich in das Gemüt eingräbt und als bequemer Gedanke für später bereitliegt? Um zum Schluß zu kommen, die Erkrankung des Beins und des Arms entstanden auf Grund sexueller Kämpfe, die in den Bereich der Mutter-Kind-Erotik gehörten.

Ich komme nun zu dem seltsamsten Teil dieser seltsamen Krankheit, zu der Art, wie die Syphilisidee aus dem Mutterkomplex entsprang und wie sie gerade dieses Ursprungs wegen so mächtig werden konnte, immer und immer wieder Syphilissymptome zu produzieren, so zu produzieren, daß alle behandelnden Ärzte, mich eingeschlossen, getäuscht wurden. Ich fragte D., ob er denn wisse, von wem er angesteckt worden sei. »Ich weiß überhaupt nicht, ob ich angesteckt worden bin«, erwiderte er, »ich vermute es.« »Und warum vermuten Sie es?« »Weil ich einmal mit einem Mädchen geschlechtlich verkehrt habe, das einen Schleier trug.« Als er mir den Zweifel am Gesicht ablas, fügte er hinzu: »Alle Straßendirnen, die einen Schleier tragen, sind syphilitisch.« Das war mir neu, ich begriff aber, daß der Gedanke nicht albern war, und fragte deshalb weiter: »Von diesem Mädchen also glauben Sie angesteckt zu sein?« »Ja«, sagte er, fuhr aber gleich fort: »Ich weiß es nicht, weiß es überhaupt nicht, ob ich angesteckt worden bin. Später gewiß nicht, denn ich bin nie wieder mit einer Frau zusammengekommen. Ich hatte am andern Morgen Angst, ging zum Arzt und ließ mich untersuchen. Er schickte mich fort, ich solle in einigen Tagen wiederkommen, das tat ich, er schickte mich wieder fort, und so ging es eine ganze Zeit, bis er mir halb lächelnd, halb grob erklärte, ich sei ganz gesund, von einer Ansteckung sei keine Rede. Seitdem bin ich viele, viele Male von verschiedenen Ärzten untersucht worden. Keiner hat etwas gefunden.« »Aber«, sagte ich, »Sie sind doch, ehe Ihre Kriegskrankheit begann, antiluetisch behandelt worden.« »Ja, auf meine Bitten. Ich glaubte, meine Kopfschmerzen, mein krankes Bein, meine Arme, all das könne 126 nur von Syphilis herrühren. Ich habe alles, was über Sklerodermie geschrieben worden ist, gelesen, und einige bringen es mit Syphilis zusammen.« »Aber Sie waren damals fünfzehn Jahre alt, als die Krankheit begann.« ». . . mit hereditärer Syphilis«, unterbrach er mich. »Im Ernst habe ich nie an eine Ansteckung geglaubt, aber ich dachte, mein Vater sei syphilitisch gewesen.« Er schwieg eine Zeitlang, und dann sagte er: »Wenn ich mich recht besinne, trug das Mädchen, von dem ich zu Ihnen vorhin sprach, gar keinen Schleier. Im Gegenteil, ich weiß bestimmt, daß sie nicht das geringste Fleckchen am ganzen Körper hatte. Ich habe sie nackt ausgezogen, habe die ganze Nacht elektrisches Licht brennen lassen, habe sie nackt vor dem Spiegel gesehen, habe ihr Führungsbuch gelesen, kurz, es ist unmöglich, daß sie krank war. Die Sache ist die, daß ich schreckliche Angst hatte, hereditär syphilitisch zu sein. Deshalb ging ich zum Arzt, log ihm die Geschichte von dem Schleier vor, weil ich ihm meinen Verdacht meines Vaters wegen nicht mitteilen wollte, und habe sie dann so oft erzählt, daß ich sie schließlich selbst glaubte. Aber jetzt, bei all dieser Analyserei, weiß ich bestimmt, daß ich das Mädchen nie für syphilitisch gehalten habe und daß sie keinen Schleier trug.«

Das alles kam mir seltsam vor, genauso wie es Ihnen wohl auch geht. Ich wollte und hoffte Klarheit zu gewinnen und fragte Herrn D., was ihm zum Worte ›Schleier‹ einfiele. Statt einer Antwort gab er sofort zwei: »Der Witwenschleier und die Raffaelsche Madonna mit dem Schleier.« Von diesen beiden Einfällen aus hat sich über Wochen hinaus ein langes Assoziationsspiel hingezogen, von dem ich Ihnen nur das kurze Resultat mitteile.

Der Witwenschleier führte sofort auf den Tod des Vaters und auf die Trauerkleidung der Mutter. Es stellte sich heraus, daß D. im Verlauf seiner Verdrängungskämpfe gegen den Inzestwunsch seine Mutter mit der Dirne identifiziert hatte, daß er dem Mädchen einen schwarzen Schleier andichtete und sie in der Phantasie syphilitisch machte, weil sein Unbewußtes glaubte, auf diese Weise leichter mit dem Inzestwunsch fertigzuwerden. Die Mutter sollte und mußte aus seiner Erotik beseitigt werden; wer Syphilis hatte, den konnte man nicht begehren; also mußte die Mutter syphilitisch sein. Das aber ging nicht – wir werden gleich sehen weshalb –, also mußte eine Stellvertreterin gefunden werden, was mit Hilfe der Schleierassoziation gelang, und zur Verstärkung der Abwehr wurde der Gedanke ausgearbeitet, der Vater sei syphilitisch gewesen.

Daß sich der Kranke an den Gedanken der mütterlichen Syphilis 127 nicht herantraute, ist wohl jedem verständlich; aber es kam bei D. noch eine Idee hinzu, die in der Assoziation ›Madonna mit dem Schleier‹ zum Vorschein kommt. Mit dieser Assoziation macht D. seine Mutter unnahbar, er gibt ihr die Unbeflecktheit, er schaltet damit den Vater ganz aus und hat noch dazu den Vorteil, sich selbst für jungfräulich geboren, für göttlichen Ursprungs halten zu können. Das Unbewußte arbeitet mit erschreckenden Mitteln. Um den Inzestwunsch zu verdrängen, vergöttlichte es die Mutter gleichsam im selben Atemzug, in dem es sie zur syphilitischen Dirne erniedrigte.

Sie haben hier, wenn Sie wollen, eine Bestätigung dessen, was ich Ihnen so oft glaubhaft zu machen suchte, daß wir alle uns göttlichen Ursprung anmaßen, daß uns der Vater wirklich Gottvater ist und die Mutter eine Gottesmutter. Es geht nicht anders, der Mensch ist nun einmal so gemacht, daß er zuzeiten das glauben muß, und wenn heute die gesamte katholische Religion mitsamt der Jungfrau Maria und dem Christkind verschwände und es bliebe keine Erinnerung daran, nicht eine, so würde morgen ein neuer Mythus da sein, mit derselben Vereinigung des Gottes mit der ›Menschin‹ und derselben Geburt des Gottessohns. Religionen sind Schöpfungen des Es, und das Es des Kindes kann weder den Gedanken des Liebesverkehrs zwischen Vater und Mutter ertragen, noch vermag es auf die Waffe der Heiligsprechung der Mutter im Kampf mit dem Inzestwunsch verzichten, noch endlich kann es, da es – Ferenczi lehrte es uns – vom Mutterleib her sich für allmächtig hält, den Gedanken, Gott gleich zu sein, entbehren.

Religionen sind Schöpfungen des Es. Schauen Sie auf das Kreuz mit seinen ausgebreiteten Armen, und Sie werden mir beipflichten. Der Gottessohn hängt und stirbt daran. Das Kreuz ist die Mutter, und an unsrer Mutter sterben wir alle. Ödipus, Ödipus. – Aber beachten Sie wohl: Wenn das Kreuz die Mutter ist, so fahren die Nägel, die den Sohn an sie heften, auch ihr in das Fleisch, sie fühlt denselben Schmerz, dasselbe Leid wie der Sohn, und sie trägt auf ihren starken Mutterarmen sein Leiden, seinen Tod mit, fühlt ihn mit. Mutter und Sohn, darin ist alle Trauer der Welt gesammelt, alle Tränen und Klagen. Und der Dank, den die Mutter erntet, ist das harte Wort: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« Es ist Menschenschicksal so, und das ist keine Mutter, die zürnt, weil der Sohn sie zurückweist. Es muß so sein.

Noch ein tiefer, allgemein menschlicher Konflikt, der mit einer 128 seiner Wurzeln sich vom Ödipuskomplex nährt, klingt in D.s Krankengeschichte an, das ist die Frage der Homosexualität. Wenn er trunken sei, so erzählte er mir, durchstreife er die Straßen Berlins, um auf Päderasten zu fahnden, und wer es auch sei und wo er ihn auch finde, er schlüge ihn halbtot. Das war die eine Mitteilung. In vino veritas: Sie ist nur verständlich, wenn man sie mit der zweiten zusammenhält, die einige Wochen darauf erfolgte. Ich traf den Kranken eines Tages in hohem Fieber, und er erzählte mir, daß er am vorhergehenden Abend durch den Wald gegangen sei, da habe er plötzlich die Idee gehabt, es würden Strolche über ihn herfallen, ihn knebeln und durch den After mißbrauchen, um ihn dann mit nacktem geschändetem Hintern an einen Baum zu binden. Das sei eine häufige Phantasie bei ihm, und immer folge ihr Fieber. Angst ist Wunsch, da ist kein Zweifel. Der Haß, mit dem D. in der Trunkenheit die Päderasten verfolgt, ist verdrängte Homosexualität, die Angstphantasie ist es, und die Höhe des Fiebers läßt ermessen, welche Glut dieser homosexuelle Wunsch hat. Ich komme auf die Angelegenheit der Homosexualität ein andermal zurück. Hier möchte ich nur das eine sagen, daß unter den verschiedenen Gründen, die zur Gleichgeschlechtlichkeit führen, einer nie außer acht gelassen werden darf, das ist die Verdrängung des Mutterinzests. Der Mensch kämpft einen harten Kampf, um sich von der Erotik der Mutter zu lösen, und es ist kein Wunder, wenn bei diesem Kampf alle bewußten Neigungen für das weibliche Geschlecht mit in die Verdrängung gerissen werden, so daß schließlich bei dem und jenem das Weib ganz aus der Sexualität ausgeschlossen wird. In dem Falle des Herrn D., der Angst hat, einer päderastischen Vergewaltigung zum Opfer zu fallen, offenbart sich deutlich noch eine zweite Ursache der gleichgeschlechtlichen Liebe, die er verdrängt hat, die Neigung zu seinem Vater. Denn nur daraus kann diese Angst entsprungen sein, daß D. zu irgendeiner Zeit seines Lebens den heißen Wunsch gehabt hat, Weib zu sein, das Weib seines Vaters. Bedenken Sie, liebe Freundin, woher perverse Laster stammen, und Sie werden weniger hart urteilen.

Damit bin ich bei dem andern Teil des Ödipuskomplexes angelangt, bei D.s Verhältnis zu seinem Vater. Ich muß hier gleich auf etwas aufmerksam machen, was für viele Menschen charakteristisch ist. D. war fest davon überzeugt, daß es für ihn nichts Höheres, nichts mehr Verehrungswürdiges, nichts mehr Geliebtes gäbe als seinen Vater, während er an seiner Mutter alles und jedes tadelte und nicht imstande war, länger als wenige Stunden mit ihr 129 zusammen zu sein. Freilich, sein Vater war tot und seine Mutter lebte, und es ist bequem, Tote zu vergöttern. Sei dem, wie ihm sei, D. glaubte, seinen Vater mit aller Kraft zu lieben, sein Leben hatte den Haß gegen den Vater verdrängt. Es läßt sich auch nicht abstreiten, daß er diesen Vater in Wahrheit heiß liebte, sein homosexueller Komplex und seine Anähnelung an den Vater bewiesen das zu deutlich. Aber ebenso stark haßte er ihn auch, und vor allem beim Beginn seiner Erkrankung bestand ein lebhafter Konflikt zwischen Neigung und Abneigung.

Von den Erinnerungen jener Zeit, die sich bei der Analyse aus dem Druck der Verdrängung lösten, greife ich zwei heraus. Die eine ist, daß D. während der obenerwähnten Schwangerschaft seiner Mutter sich angewöhnt hatte, stundenlang vor dem Ausgang einer Gosse zu lauern, um daraus herauskommende Ratten zu erschießen. Knabenspiel, denken Sie. Gewiß, aber warum schießen die Knaben so gerne, und warum schießt D. auf Ratten, die aus der Gosse kommen? Das Schießen, ich brauche es kaum zu sagen, ist der übermächtige Sexualitätsdrang der Pubertätszeit, der sich in der symbolischen Handlung Luft macht. Die Ratte aber, auf die D. schießt, ist der Geschlechtsteil seines Vaters, den er in dem Augenblick mit dem Tode bestraft, wo er aus der Gosse, der mütterlichen Scheide, herauskommt. – Nein, es ist keine Deutung von mir, sie stammt von D. Ich halte sie nur für richtig. Und auch der zweiten Angabe, die er macht, stimme ich bei. Danach ist die Gosse wiederum die mütterliche Scheide, die Ratte aber ist das Kind, das sie erwartet. Neben dem Wunsch, den Vater zu kastrieren – denn das ist der Sinn des Tötens der Ratte –, schiebt sich der Mordwunsch gegen das kommende Kind vor; beide Ideen sind durch verdrängende Gewalten in symbolische Formen umgewandelt. Und in diese schweren, nur dumpf empfundenen unterirdischen Kämpfe greift das Schicksal hinein und läßt den neugeborenen Bruder nach wenigen Wochen sterben. Jetzt hat das Schuldgefühl, dieser unheimliche Begleiter menschlichen Lebens, ein Objekt, den Brudermord. Sie glauben nicht, liebste Freundin, wie bequem es für das Verdrängen ist, eine größere Schuld zu finden. Dahinter läßt sich alles verstecken, und dahinter wird tatsächlich alles versteckt. D. hat diese alberne Brudermordgeschichte weidlich zugunsten des Sichselbstbelügens ausgenützt. Und weil es einmal menschliche Natur ist, eigene Schuld an anderen Menschen zu bestrafen, hat D. von der Todesstunde seines Bruders an nicht mehr auf Ratten geschossen, sondern auf Katzen, auf die Sinnbilder seiner Mutter. Das Es geht seltsame Wege.

130 Ganz hat D. den Kastrationswunsch gegen seinen Vater nicht mit der Idee des Brudermords zudecken können, das beweist eine zweite Erinnerung. Ich erzählte Ihnen, daß er zur Zeit jener Konflikte eine Kaninchenzucht betrieb. Unter diesen Tieren war ein schneeweißes Männchen. Mit dem führte D. ein seltsames Theater auf. All seinen Kaninchenmännchen gestattete er, die Weibchen zu rammeln, genoß es, ihnen zuzusehen; nur jener weiße Rammler durfte nicht zu den Weibchen gehen. Tat er es doch, so packte D. ihn bei den Ohren, fesselte ihn, hängte ihn auf einem Balken auf und schlug ihn mit der Reitpeitsche, solange er den Arm bewegen konnte. Es war der rechte Arm, der Arm, der zuerst erkrankte, und er erkrankte gerade damals. Diese Erinnerung ist unter dem stärksten Widerstand zum Vorschein gekommen. Immer wieder wich der Kranke aus und brachte eine Sammlung schwerer organischer Symptome zum Vorschein. Eines davon war besonders kennzeichnend: die sklerodermatischen Stellen des rechten Ellbogens wurden schlimmer. Mit dem Tage, wo die Erinnerung aus dem Unbewußten auftauchte, heilten sie wieder ab, heilten so gründlich, daß der Kranke von nun an sein rechtes Ellbogengelenk vollständig biegen und strecken konnte, was er seit zwei Jahrzehnten trotz aller Behandlung nicht vermocht hatte. Und er tat es ohne Schmerz.

Fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Jener weißhaarige Rammler, der von jeder Geschlechtslust ferngehalten wurde und der die Peitsche bekam, wenn er sich nicht zügelte, vertrat die Stelle des Vaters. Oder hatten Sie es schon erraten?

Sind Sie müde? Nur Geduld, noch ein paar Striche, dann ist die Skizze fertig. In das Gebiet des Vaterhasses gehört noch ein Zug hinein, den Sie von Freud her kennen, wie denn D.s Geschichte manche Ähnlichkeit mit Freuds Rattenmannerzählung hat. D. war ein gläubiger, man kann beinahe sagen buchstabengläubiger Mensch, aber er hielt es mehr mit Gottvater als mit Gottsohn und betete täglich in seiner Weise zu dieser von ihm selbst aus der Vaterimago erschaffenen Gottheit. Aber mitten in diese Gebete drängten sich plötzlich Schimpfworte, Flüche, gräßliche Gotteslästerungen. Der Haß gegen den Vater brach sich Bahn. Sie müssen das bei Freud nachlesen, ich könnte nichts Neues hinzufügen und das Alte nur durch mein Klugreden verschlechtern.

Noch etwas muß ich zu dem Kaninchenabenteuer hinzufügen. D. hatte diesem weißen Rammler den Namen Hans gegeben: Wie Sie wissen, war das sein eigener Wunschname. Wenn er in dem 131 weißhaarigen Tier seinen Vater schlug, so schlug er gleichzeitig sich selbst oder besser seinen Erzeuger, seinen Hans, den Hans, den er am Bauche hängen hatte. Oder wissen Sie nicht, daß der Name Hans bei jung und alt so beliebt ist, weil er sich auf Schwanz reimt? Und weil man Hans mit Johannes dem Täufer zusammenbringt, der deutlich genug in Taufe und Hinrichtung als männliches Glied gekennzeichnet ist? Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ein Engländer hat es mir erzählt, daß man dortzulande das Geschlechtswerkzeug St. John nennt, und bei den Franzosen kommt ähnliches auch vor. Aber das hat mit der Sache selbst nichts zu tun. D. meinte jedenfalls seinen Schwanz, wenn er den Rammler Hans taufte, und wenn er ihn schlug, so geschah es, um ihn für die Onanie zu bestrafen. Ja, ja, die Onanie. Das ist ein Stück Seltsamkeit.

Ich bin zu Ende, das heißt, Wesentliches könnte ich nicht mehr geben, und daß ich, wie Sie bemerkt haben werden, das Allerwesentlichste, die frühen Kindheitserinnerungen, fortgelassen habe, liegt daran, daß ich sie nur zu geringem Teil kenne. Darauf, auf meine Unkenntnis bezog sich meine Äußerung oben, daß D. wahrscheinlich wieder krank geworden wäre, wenn er weitergelebt hätte. Die Analyse war nicht annähernd vollständig.

Zum Schluß will ich Ihnen wenigstens einen Grund angeben, warum sich D. vor dem Kriege fürchtete, obwohl er sich danach sehnte. Er hatte die Vorstellung, daß er durch beide Augen geschossen werden würde. Das beweist mir – aus andern Erfahrungen mit Soldaten ziehe ich den Schluß –, daß er seine Mutter zu einer Zeit nackt gesehen hat, in der er sich der Sünde, die darin liegt, bewußt war. Das Volk sagt, wer seine Mutter nackt sieht, wird blind. Und Ödipus sticht sich die Augen aus. Ich grüße Sie, Liebe, und bin

immer Ihr

Patrik Troll

 


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