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Rede über das Alter

Gehalten in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 26. Januar 1860.

Wer hat nicht Cicero de senectute gelesen? sich nicht erhoben gefühlt durch alles, was hier zu des Alters Gunsten, gegen dessen Verkennung oder Herabsetzung gesagt wird? Traun, es sind lauter ernste, männliche Gedanken, in gefüger Gliederung fortschreitend und sich entfaltend, von triftigen Beispielen und Bildern belebt, mit einer freien, niemand aufgenötigten Aussicht auf die Fortdauer der Seele nach dem Leben ruhig geschlossen. Gleich die an die Spitze gestellten ennischen Verse:

O Tite, si quid ego adjuero curamve levasso,
Quae nunc te coquit et versat in pectore fixa,
Ecquid erit praemi? Epist. ad Att. 16, 3 und 11.
Wenn ich, o Titus, dir etwas helfe oder Sorge erleichtere,
Welche dich jetzt erhitzt und bewegt, im Herzen befestigt,
Wäre ein Lohn dafür?

spreiten einen wohltuenden, anhaltenden Schimmer über die ganze Schrift, welche fortan mit diesen Anfangsworten » o Tite« jedem deutlich bezeichnet werden durfte, wie sie Cicero auf seinen bewährten Freund Atticus, den er mit traulichem Vornamen anzureden pflegte, schlagend anwendet. Nur in dieser Vorrede aber tritt er redend auf, das Buch selbst ist in einen Dialog zwischen Cato Major, Scipio und Laelius eingekleidet, wo jedoch, nachdem einige Reden gewechselt sind, der erstere bald allein das Wort führt, und desto schärfer ausfallen muß der Eindruck hier gesprochner Lehren und Mahnungen, als sie in eines der größten Römer Mund gelegt werden, der zur Zeit, wo Cicero sein Buch niederschrieb, bereits ein Jahrhundert in hohem Alter dahingeschieden war, aber noch bei allen Menschen im regsten, frischesten Andenken stand.

Vor Augen, gleichsam zu Vorbild hatte Cicero einen ähnlichen Dialog des Aristo Chius, eines Schülers von Zeno, περὶγήρως Über das Greisenalter., der nicht auf die Nachwelt gekommen ist, so daß sich auch keine Vergleichung anstellen läßt, wie viel oder wenig daraus geschöpft worden sein kann. Nur das zieht Cicero selbst hervor, daß in der griechischen Schrift Tithonus als redend auftritt. Dieser Tithonus war der Göttin Eos menschlicher Gemahl, für den sie sich Unsterblichkeit zu erbitten unterlassen hatte, und den sie, sobald sein Haar graue Spitzen zu zeigen begann, von ihrem Bett ausschloß, mitleidig aber in eine Kammer sperrte und bis an sein Ende mit Ambrosia fütterte. Allen Griechen galt er für einen abgelebten, hilflosen Greis, von dem sich eher jammervolle Klagen über das verwünschte Alter erwarten ließen, als eine sittliche Schutzrede, wie sie der hochaltrige, rüstige Cato liefert. An die Stelle des mythischen Interlokutors einen angesehnen, in der Geschichte festwurzelnden Römer zu setzen, war offenbar eine glückliche Wahl.

Zuvorderst hebt sich nun die Frage nach dem Zeitpunkt des eintretenden Alters, sowie nach den dadurch bedingten Abschnitten oder Stufen des Menschenlebens, und darüber begegnen bei den verschiednen Völkern abweichende Annahmen, obgleich sie in den Hauptergebnissen, eben weil diese die Natur selbst festgesetzt hat, dennoch wieder zusammentreffen. Um meiner Untersuchung Halt und einigen wissenschaftlichen Wert zu verleihn, sind in einem Anhang alle Wörter unserer und der verwandten Sprachen über die hier einschlagenden Vorstellungen jung und alt gesammelt und erörtert worden Hier fortgelassen.: es kann nicht fehlen, daß die geheimnisvolle Sprache nicht zugleich Aufschlüsse des Gedankengangs der Begriffe gewährte.

Wie schon der Begriff einer aus dem Kindesalter allmählich aufsteigenden Jugend und Mannbarkeit mannigfach wechselt, nicht anders schwankt auch die Bestimmung des Mannes- und Greisenalters. Da wir im allgemeinen zwischen jung und alt scheiden, wird an sich schon oft der bloße Gegensatz von Jugend und Alter genügen, ungefähr wie bei den Jahreszeiten zwischen Sommer und Winter, wonach unsere Vorfahren den Verlauf der Zeit ausreichend berechneten. Nahe lag, das unaufhaltsam vorschreitende Alter gleich der Zeit an uns herantreten oder eintreten zu lassen, der Winter steht vor der Tür, das Alter steht vor der Tür, auf der Schwelle, nach dem griechischen Ausdruck ἐπὶ οὐδῷ Auf der Schwelle. Sobald aber diese Stufen und Schwellen genauer angezeigt werden sollen, stellt sich eine Dreigliederung von Kind, Mann und Greis dar, wieder ähnlich der von Frühling, Sommer und Winter. Es ist bekannt, daß in der Anschauung vieler Völker ein Unterschied dreier Jahreszeiten ausreichte, daß aber bei andern der Herbst noch als besondere Epoche dazwischentrat, beinahe wie sich Kindheit, Jugend, Mannes- und Greisenalter trennen. Wenn die Römer bereits mit dem fünfzigsten Lebensjahre die senectus eintreten ließen, so sind nur zwei Glieder, pueritia und juventus, ihr als vorausgehend gedacht, also im zweiten Gliede Jugend und Mannheit zusammenrinnend, die Einteilung in pueros, juniores und seniores erschöpft alles. Werden aber vier Lebenseinschnitte aufgestellt, so treten Jugend und Virilität voneinander ab, und die Jugend wird als ein der Kindheit näherer Zustand, Mannesalter als zum Greisenalter neigend angesehn, Jugend ist volle Entfaltung der Blüte, Mannheit ist fruchtbare Zeit der Ernte. Eπὶ γάάως οὐδῷ ( in limine senectutis) Auf der Schwelle des Greisenalters. wird gewöhnlich vom Eintritt in das Greisenalter, zuweilen auch schon von dem höchsten Ziel, von der Schwelle, die das Leben vom Tode scheidet, verstanden. Das Greisenalter gleicht den abnehmenden Wintertagen, an welchen die Sonnenstrahlen schräg fallen, dann aber oft noch einen fernen Schein über den Himmel werfen, wie in unserm Landstrich wir besonders an heitern Novembertagen gewahren. Schwierig bleibt im Latein der Unterschied zwischen adolescentia und juventus, den unsere eigne Sprache vollends gar nicht erreicht; adolescens bezeichnet den Aufwachsenden, juvenis, den Vollwüchsigen, doch ist juvenis mehr als ἔφηβος, welches dem puber entspricht, häufig fallen beide Ausdrücke adolescens und juvenis zusammen. Wie Hippokrates insgemein die Perioden des Lebens nach der Siebenzahl ermißt, hat man, doch erst späterhin, auf das anschaulichste sieben Stufen angesetzt, deren drei erste das aufsteigende Alter, die drei letzten das absteigende darstellen: die drei ersten sind 1 infans, 2 puer, 3 adolescens, die drei letzten 5 vir, 6 senex, 7 silicernius, so daß den vierten Platz oder Gipfel des Lebens der juvenis, Jungmann, behauptet.

Eine hiervon wiederum unterschiedne, bei uns Deutschen aber ehmals verbreitete Fassung nimmt zehn Stufen an. In meiner Eltern Stube hing ein kunstloses Bild davon an der Wand, das sich meinem Gedächtnis unauslöschlich einprägte: auf der ersten Stufe stand die Wiege, aus der nur der Kopf des Kindes hervorguckte. Die zweite Stufe betraten ein Knabe und ein Mädchen, einander an der Hand fassend und sich anlachend. Auf der dritten vorgebildet war ein Jüngling und eine Jungfrau, die sich zwar Arm in Arm legen, jedes aber vor sich hinschaun. Oben in der Mitte an vierter Stelle befinden sich Jungmann und Jungfrau, d. i. Braut und Bräutigam, beide alleinstehend, er mit dem Hut in der Hand vor ihr, sie sich verneigend. Auf der fünften Stufe steigen ab Mann und Frau, frei einander führend, auf der sechsten alter Mann und alte Frau, sich noch die Arme reichend, schon ein wenig gebückt, auf der siebenten endlich wieder unten Greis und Greisin, jeder mit Stock und Krücke sich forthelfend, und vor ihren Schritten öffnet sich ein Grab. Die Notwendigkeit des Stabes auf der letzten Stufe mahnt an den bekannten Ausspruch, daß das Kind auf vier Beinen, der erwachsene Mensch auf zweien, der Greis auf dreien einhergehe. Mir zweifelt nicht, wollte ein großer Maler ein solches Bild reich auffassen und mit aller Lebensglut ausführen, es könnte eins der anmutigsten Kunstwerke entspringen. Statt der sieben werden aber auch zehn Stufen oder Alter aufgestellt und in Worten folgendermaßen erklärt: 10 Jahr ein Kind, 20 Jahr ein Jüngling, 30 Jahr ein Mann, 40 Jahr stillestahn, 50 Jahr geht Alter an, 60 Jahr ist wohlgetan, 70 Jahr ein Greis, 80 Jahr schneeweiß, 90 Jahr der Kinder Spott, 100 Jahr gnad dir Gott. Oder mit Abweichungen: 10 Jahr ein Kind, 20 ein Jüngling, 30 ein Mann, 40 stillstahn, 50 wohlgetan, 60 abgahn, 70 dein Seel bewahr, 80 der Welt Narr, 90 der Kinder Spott, 100 nun gnad dir Gott. Oder auch 40 wohlgetan, 50 stillestahn, 60 abelahn, 70 Greise, 80 aus der Weise, 90 der Leute Spott, 100 erbarm dich Gott. Diese Reime sind kaum über das 15. Jahrhundert hinauszurücken, was doch keineswegs ausschließt, daß nicht auch früher schon ähnliche in Umlauf gewesen sein sollten. Mit dem Stillstand im vierzigsten gegenüber dem dreißigsten Jahr scheint in der Tat die Schwebe zwischen Jünglings- und Mannesalter, ein Gipfel der Kraft gemeint, und im fünfzigsten hebt, wie bei den Römern, das Alter an, doch die letzte Fassung verlegt das Stillstehn erst in das fünfzigste Jahr. Die unbestimmte, bald auf 40, bald auf 50 und 60 erstreckte Bezeichnung »ist wohlgetan« scheint ein schon genügendes, genügsames Lebensziel auszudrücken. Die drei letzten führen das römische silicernium, d. i. das dem Leichenmahl nahestehende Greisenalter näher aus:

I sane. Ego te exercebo hodie, ut dignus es, silicernium, Geh' in der Tat. Ich werde dich heute hetzen, wie du es verdienst, Urgreis. heißt es bei Terenz Adelphi IV 2, 48, nach dieser Schelte bildete sich ein adjektivischer silicernius, und der senex silicernius, decrepitus, senio combustus ist der wieder kindisch gewordne Greis, der auch gleich einem Kinde genährt, gleich jenem Tithonus von der Eos mit Ambrosia erhalten werden muß, dessen sich Gott erbarme und die Leute spotten. Ohne Zweifel ist die Vorstellung von sieben Stufen, auf deren erster und letzter Kind und Greis symmetrisch einander gegenüberstehn, gründlicher als die nach der Hundertzahl erdachte von zehn Stufen, deren eigentlich elf anzunehmen wären, da dem Kind die erste gebührt, wie der Greis die letzte erfüllt. Ausnahmen eines über die Schnur streifenden Lebens sind der Natur nicht entgegen, die es liebt, hinter der Regel ihres Verlaufs noch Nachzügler erscheinen zu lassen, sie überschreiten doch das Normalalter, wie es unter allen der Psalmist am deutlichsten vorhält: unser Leben währt siebenzig Jahre, wenn es hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Unter unsern Vorfahren hergebracht war eine zusagende, progressive Berechnung des Menschenalters, wie sie ein Hausvater den ihn zunächst umgebenden Gegenständen entnehmen konnte: ein Zaun währt drei Jahre, ein Hund erreicht drei Zaunes-Alter, ein Roß drei Hundes-Alter, ein Mann drei Rosses-Alter; hier stehn wir wieder am Ziel von einundachtzig Jahren. Es ist nicht anzunehmen, daß die ewigen Naturgesetze, deren Dauer und Ebenmaß sich bedingen, in bezug auf Alter und Wachstum der Menschen jemals abgewichen seien, und wie zu keiner Zeit ein anderes Grab als das siebenschuhige für uns Sterbliche erfordert wurde, ging auch das Alter niemals über jene großen Hauptstriche hinaus. Alle die zahlreichen Beispiele längerer Lebenszeit sind entweder einzelne, seltne Ausnahmen oder mythisch, unbeglaubigt und unglaubhaft. So berichtet die nordische Sage von einem König Ani, der durch Hinopferung seiner Söhne ein höheres Alter errungen hatte, zuletzt wieder, einem Kinde gleich, Milch trinken und, weil er nicht mehr gehn konnte, im Bett getragen werden mußte: nach ihm hieß ein schmerzloses, gebrechliches Alter Ana sôtt, Anis Krankheit, und im Namen selbst scheint die Vorstellung von âi, Großvater oder Urgroßvater, gelegen. Doch nicht Opfer, nicht Gebete können das Alter fernhalten, wohl aber vermag ihm die stärkere und genährte oder die schwächere und verschwendete Lebenskraft jedes Menschen längeren oder nur kürzeren Widerstand zu leisten, und wie jene Stufen des Lebens herüber- und hinüberschwanken, ist kein Wunder, daß es im einzelnen Fall bald früher oder später eintritt. Nimmer aber bleibt es aus, kündigt sich durch Zeichen, gleichsam geheime Boten, unversehens an und läßt sich als unwillkommner, uneingeladner Gast zuletzt nicht mehr abweisen. Man sagt, es schleiche schneller heran, als einer gedacht hätte, obrepere eam citius ajunt quam putassent, wie die langsamen, aber unablässigen Schritte eines Wanderers plötzlich an der Schwelle stehn, und wie es Goethe ausmalt:

Das Alter ist ein höflich Mann,
Einmal über's andre klopft er an,
Aber nun sagt niemand herein,
Und vor der Türe will er nicht sein,
Da klinkt er auf, tritt ein so schnell,
Und nun heißt's, er sei ein grober Gesell.

Denn zu allen Zeiten haben die Menschen das nahende Alter übel empfangen, gehaßt, gescholten und verflucht, oder sind doch in Wehklage darüber ausgebrochen; vielleicht bei keinem andern Volke war es so in Abscheu, wie bei den an der Fülle des Lebens schwelgenden Griechen. Hesiod Theog. 225 das Alter personifizierend und als Tochter der Nacht aufführend, nennt es Γῆρας οὐλόμενον, das verderbliche, und Euripides im Hercules fur. 637

Αἴτνας σκοπέλων βαρύτερον,

schwerer als die Bergspitzen des Ätna, Sophokles O. C. 1237 γῆρας ἄφιλον, Das freundlose Greisenalter. der Hymnus in Venerem 246

οὐλόμενον, καματηρὸν, ό τε στυγέουσί ϑεοί περ,

verderblich, lästig, den Göttern verhaßt; unser Wolfram Parz. 5, 13 sagt:

Jugent hât vil werdekeit,
daz alter siuften unde leit,
ez enwart nie niht als unfruot,
sô alter unde armuot,

unfruot ist hier unsælic. Solcher Stellen wären eine Menge anzuführen, aber auch leicht ihnen andere beizufügen. in welchen weise und erfahrne Männer das Alter günstig beurteilen und die von ihm abhängigen Vorteile ins Licht setzen. Man lese, was Plato zu Eingang der Republik ausgeführt hat.

Jener, man könnte sagen volksmäßige Widerwille und Abscheu vor dem Alter ist auch ungerecht, da es nicht wie der Tod Kinder, Jünglinge, Männer und Greise auswählend dahinrafft, sondern gleichmäßig und allmählich über das ganze Menschengeschlecht erst im letzten Ziel, folglich als allgemeine, unvermeidliche Notwendigkeit der verlaufenden Zeit eintritt, so daß Alter gleichviel mit Zeit bedeutet und wir die Abschnitte der Zeit selbst Zeitalter benennen. Es liegt ein Widerspruch darin, daß, während alle Menschen alt zu werden wünschen, sie doch nicht alt sein wollen. Der Greis sollte von Dank erfüllt fühlen, daß ihm zur letzten Lebensstufe vorzuschreiten vergönnt war; er hat nicht nötig zu jammern, wenn sie annaht, es ist ihm gestattet, mit stiller Wehmut hinter sich zu blicken und nach dem schwülen Tag in abendlicher, labender Kühle gleichsam auf der Bank vor seiner Haustür sitzend, sein verbrachtes Leben zu überschlagen. Solch ein Hochbejahrter, den das Schicksal aufgespart, dem Verwandte und Freunde vorausgestorben sind, nur noch deren Nachkommen zur Seite stehn, darf sich dann auch einsam und verlassen fühlen, Freude und Trauer mischen. Ich kann nicht umhin, eine Stelle Walthers von der Vogelweide hier auszuheben, worin mit tiefer Empfindung ausgesprochen wird, wie der nach langer Abwesenheit endlich in seine Heimat zurückkehrende Dichter alles, außer der Natur selbst, verändert findet, gleich den aus Zauberschlaf Erwachten, die eine Stunde geschlummert zu haben meinen und hundert Jahre verschlafen haben, so daß niemand von den Leuten sie wiedererkennt. Das Lied geht sicher auf Walther selbst und ist sein schönstes, echtestes, obschon es Lachmann in das vierte Buch zweifelhafter Gedichte setzt; doch kann man sich den Platz am Schluß, wohin es schon an sich gehört, gefallen lassen; man vernehme die Worte in ihrer alten, von der heutigen nur wenig abstehenden Gestalt:

Owê war sind verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet oder ist ez wâr?
daz ich ie wânde daz iht wære, was daz iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwaht und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut und lant, dannen ich von kinde bin geborn,
die sint mir fremede reht als ob ez sî verlorn,
di mîne gespilen waren, die sint træge und alt,
bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt,
wan daz das wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr ich wânde mîn ungelücke wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge, der mich kande ê wol,
diu werlt ist allenthalben ungenâden vol.
als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac,
die mir sint empfallen gar als in daz mer ein flac,
iemer mêre ouwê!

Kenner sehn, daß ich in dieser Strophe mehrfach von dem Lachmannischen Text abgehe, worüber sich meine Anmerkungen rechtfertigen. Hier sei zweierlei hervorgehoben. Die Worte »bereitet ist das velt« ändert Lachmann gegen die Handschrift ohne allen Grund in » vereitet«, und recht erwogen, ist das widersinnig. Der Heimkehrende findet das Aussehn der Gegend von vormals verändert, was unangebautes Feld, also Wiesengrund war, ist jetzt »bereitet«, d. h. umgebrochen in Äcker, der Wald ist ausgehaun, das Wasser, worunter man sich zunächst den fränkischen Main in der Gegend von Würzburg zu denken hat, fließt noch wie ehedem. Wie sollte doch das Feld » vereitet«, d. i. verbrannt ausgesehn haben? Einen Wald kann der vorschreitende Landbau aushaun, reuten oder schwenden, nicht aber das Feld. Das Feld würde höchstens nach einem verheerenden Krieg verbrannt heißen können, Walther schildert aber, was die Zeit, nicht was ein Heerzug verändert hat. In der Schlußzeile nehmen alle neueren Herausgeber die falsche Lesart slac statt des allein richtigen der Pariser Handschrift auf. Nun ist allerdings das Wort » flac«, unser heutiges »Flagge«, in der alten Sprache sonst nicht aufzuweisen, was jedoch bei manchen andern Ausdrücken eintritt. Slac wurde geschrieben, weil allerdings gesagt wird » ein slac in den bach« von einer vergeblichen, entschwindenden Sache; wenn man in einen Bach schlägt, so trübt sich dessen glatte Oberfläche, doch schnell verschwindet die Spur des Schlags, und die Glätte ist wiederhergestellt. Wer aber kann in das wogende Meer aus dem hohen Schiff einen Schlag tun? Das würde gar nichts in den Wellen bewirken, und wie mag von einem solchen Schlag gesagt werden, daß er »entfalle«? Ausgezeichnet schön aber bleibt das Bild einer von dem Mast des segelnden Schiffs niederfallenden Flagge. Sie kann nicht wieder eingeholt werden, so wenig als die vergangnen Tage des Lebens.

Es ist nicht meine Absicht, in dieser Schilderung allgemeiner Eindrücke, die das Alter auf uns macht, fortzufahren, vielmehr will ich suchen, näher auszuführen, was im einzelnen zu seinen Gunsten oder Ungunsten behauptet werden kann.

Am schwersten wiegt aber die unmittelbare Schuld, die ihm gegeben wird, daß es Leib und Geist des Menschen schwäche, verwüste und dahinschwinden lasse; Hugo im Renner 23 030 sagt geradezu:

Alter nimt allen dingen ir kraft,

und von Aeson, den Medea verjüngen sollte, heißt es bei Konrad tr. Kr. 10 870:

Sîn dürrez alter hât gelôst
von sîme herzen blüende jugent.
ez ist an kreften und an tugent
verweiset und verarmet.

Wir tragen alle Vorstellungen des Wachstums und des Vergehens der Pflanzenwelt treffend auf die menschlichen Zustände über; wie Blätter gilben, Blumen welken, Bäume dorren, wird auch unserm Leib seine Frische und Grüne benommen; die Kraft, welche von Kindesbeinen an sich erhoben, eine ganze Jugend hindurch sich erhöht, im Mannesalter ihren Gipfel erreicht hatte, beginnt von da an erst unmerklich und langsam, dann immer sichtbarer zu sinken. Der Leib verfällt oder fällt ein, der Rückgrat biegt oder krümmt sich unter der Jahre Last, den Gliedern entgeht Glanz, Gelenkigkeit, Stärke. Alle Sprachen besitzen eine Menge von natürlichen, althergebrachten Ausdrücken und Bildern, um diese leiblichen Erscheinungen zu bezeichnen, und zumal die lebendige Volksmundart versteht hier harmlosen Witz aufzuwenden für das fallende, erbleichende Haar, die geschlichteten, aufgelösten Locken, für die einschrumpfende Haut, die faltenziehende Stirne, für die in der Zahnreihe vorstehenden Lücken. In der Geschichte der Sprache und Poesie weiß man aus diesen Wörtern Gewinn zu ziehn, und eine kleine davon angelegte Sammlung, welche gegenwärtig mitzuteilen unpassend scheinen würde, bleibt in eine Beilage verwiesen. Fehlt. Mehr oder weniger pflegt die Abnahme leiblicher Schönheit oder Fülle ins Auge zu fallen, läßt sich aber geübtem Blick kaum verbergen: man sagt, daß vorzugsweise Frauen die Gabe eigen sei, auf alle Zeichen und Erscheinungen des leiblichen Verfalls zu achten und aus der äußern Bildung eines Menschen fast untrügliche Schlüsse auf sein Alter zu machen.

Noch bedeutsamer erscheint aber die den innern Sinnen durch Abnahme der äußern im Alter drohende Gefahr und der ihnen zustoßende Schade. Das Auge büßt seinen Glanz ein, dunkelt und trieft, oder beide Augen, deren Sehkraft nicht mehr genau zusammenstimmt, sehn in gewissen Wendungen unrichtig und doppelt. Das Ohr verliert seine feine Schärfe und empfindet Sausen oder Pfeifen; die Stimme wird dünn, heiser und rauh, sie mag nicht mehr lauter und rein aus der Brust gezogen werden. Jene Mängel des Gesichts und Gehörs können sich bis zu voller Blindheit und Taubheit steigern, wie die Steifheit der Glieder und des Gefühls übertreten in machtloses Zittern, wovon das höhere Greisenalter das zitternde, bebende genannt wird.

Es ist wahr und unwidersprochen, daß im Alter eine merkbare Minderung dieser leiblichen Vermögen erfolge, und daß zwar nicht schwere Krankheiten, dagegen die Menge von leichten es öfter heimsuchen als zur übrigen Lebenszeit. Doch gilt hier Einspruch und vielfache Beschwichtigung. Jene Abnahme ist noch keine Niederlage, oft nur ein neues Glühn und Auftauchen der Lebenskraft. Die meisten ungeleugneten Übel und Gebrechen des Alters treten dann als Einzelangriffe vor, die mit allem Gewinn einer glücklichen Verteidigung ganz oder teilweise abgeschlagen werden. Gibt doch die Natur keinen Menschen so preis, daß sie ihm alle Mittel der Gegenwehr alsbald entzöge und für erlittne Einbuße nicht auch mannigfache Vergütung bereit hielte. Nehmen wir die sinnlichen Entbehrungen zum Beispiel. Man sagt, im Blinden verfeinert sich das Gefühl nicht selten bis auf den Grad, daß er mit allen Fingerspitzen gleichsam sehe; bei tauben Leuten soll sich Geschmack und Geruch höher als sonst ausbilden, und bei Verwachsenen oder schon bei Hinkenden mag der auf ihre innere Gliederung durch das teilweise Hemmnis ausgeübte Druck wohl in Zusammenhang stehn mit einer angestrengten und gestärkten Geisteskraft, die sich häufig an ihnen gewahren läßt. Jedes Übel und Leiden führt leicht im stillen irgendeinen zugut kommenden Ersatz mit sich.

Man könnte also, ohne paradox zu sein, aufstellen, daß im Alter, so oft es die Gesundheit angreife und erschüttere, dazwischen ein Gefühl des Wohlseins reger walte, als in den vorausgegangnen Lebensstufen. Die Empfindung beiwohnender Kraft und Stärke ist auch, wenn sie ihrer unbewußt bleibt, köstlich; doch übertroffen wird sie noch von dem Eindruck der Erholung nach eingetretner Müde, von der Wonne der Herstellung oder des Genesens da, wo die Gesundheit einmal gewichen und ausgeblieben war. Ruhe ist durch vorausgegangnes Ermatten, Heilung durch Krankheit bedingt, und mitten in der Ruhe oder Genesung wirkt noch ein sie steigerndes Nachgefühl des müden und kranken Zustands. Kindern sagt man nach, daß sie in ihre Gesundheit toben, Jünglinge schlagen sie oft in die Schanze, und Männer haben nicht recht Zeit, ihrer zu gedenken.

So wie ein Mann, der durchaus bis zum innersten Kerne gesund ist.
Nie der Gesundheit denkt, noch des Gangs ein rüstiger Wandrer.

Voß 2, 193.

Den alten Wandrer labt es aber, über seinen vollbrachten Gang nachzudenken, und Greisen erhöht sich zusehends die Sorgfalt auf ihre Leibespflege. Sie lernen sich vor allem hüten, was ihnen Gefahr droht, und alle günstigen Einflüsse bringen ihnen Behagen.

Ich möchte vom Erblinden und Ertauben, die zwar in jeder Zeit des Lebens, doch meist gegen dessen Schluß stattfinden, etwas näher reden. Das Licht ist stärker, edler, schneller als der erst hinter ihm ausbrechende, ihm nachfolgende Schall. Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht, jenes schaut um, wohin es will, dieses nimmt auf, was ihm zugeführt wird. Darum hat auch die Natur das Auge reicher ausgestattet und der Sehkraft viel größere Tragweite gegeben als der Hörkraft; ein Augenzeuge ersieht noch, was der Ohrenzeuge nicht mehr hört. Künstliche Hilfe kann dem Ohr nur geringe, dem Auge die bedeutsamste geleistet werden. Durch ein Fernrohr erblickst du auf entlegnem Pfade einen Wandersmann dahergehn, du vermagst seine Gesichtszüge und Gebärden zu unterscheiden, die Knöpfe seines Rockes zu zählen, aber was er spricht oder ruft, bleibt dir unvernehmbar. Dem Gesicht wird solche Macht zugegeben, dem Gehör versagt. Des Hörens bedürfen wir zu vielem, des Sehens fast zu allem. Wer will es leugnen, daß die Verhüllung des Auges ein schwereres Leiden sei als die Verdumpfung des Ohres, Blindheit den Menschen härter treffe als Taubheit. Wem das Gehör stockt, der kann, es ist wahr, nicht mehr die liebliche Stimme, die vertraute Anrede der Menschen vernehmen und meidet ihre Kreise; allein sein Auge schaut noch offen in die Welt wie zuvor, das Neugeschehende wird ihm heutzutage frisch auf der Stelle gedruckt zugetragen, und alles, was ihm bestimmt verkündigt werden soll, kann ihm ohne Beschwer schwarz auf weiß hinterbracht werden. Seine Kenntnisse, seine bisherigen Arbeiten lassen nicht nach, sondern haben einen desto ungestörteren Fortgang, als ihn überflüssige Rede, unnützes Geschwätz nicht mehr unterbricht. Ganz anders und weit stärker angegriffen stellt sich hingegen die gewohnte Wirksamkeit des Erblindenden dar. Mit einemmal sind ihm seine vorher gepflognen und betriebnen Geschäfte wie abgeschnitten, er darf nicht mehr den eignen, sondern muß fremden Augen trauen, die ihm aufschlagen sollen, der Stimme eines andern, der ihm vorliest, was er lieber im Buch sähe, um einhalten oder zweimal lesen zu können, wo er Lust dazu hat. Alle hergebrachte Leichtigkeit und Sicherheit seines Lebens ist dahingeschwunden; trauliche Bezüge seines Umgangs mögen unbenommen und unabgeändert fortbestehn, nur die freie Selbsttätigkeit wird ihm mit dem entzognen Augenlicht wo nicht gehemmt, doch auf das schwerste beschränkt und verkümmert. Der Blinde vermag keine Blicke mehr, wohl aber die Worte mit andern zu tauschen, während dem Tauben die Gabe der Rede dauert und ihm Entgegnung bloß durch Gebärde und Zeichen zuteil wird.

Doch nirgends hat sich die Verschiedenheit des Altertums von unserer Gegenwart stärker ausgeprägt, als in den ganz abweichenden Richtungen, die den einfachsten Verhältnissen des Lebens durch neue, in ihrer fernen Wirkung unaufhaltbare Anstalten gegeben wurden. Die seit Erfindung der Druckerei bald allgemein durchgedrungne Verbreitung des Lesens, das dem Geist unablässige Nahrung zuführt, mußte hier zu innerst eingreifen. Im Altertume, dünkt mich, war das Los des Blinden günstiger, das des Ertaubten schwerer. Der Blinde, dem sein früheres Leben eine Menge von Bildern eingedrückt hatte, bewahrt sie treu im Gedächtnis, was brauchte er noch viel Neues zu sehen? Er zehrte am alten Gut, und aus dem Mund anderer wurde es ihm unaufhörlich gemehrt. Da die Kraft des Gedächtnisses durch innere Sammlung, unter Abgang des zerstreuenden Augenlichtes unglaublich steigt, so waren aufgeweckte Blinde vorzugsweise für den Gesang und das Hersagen der Volkslieder geeignet, und es ist kein bloßer Zufall, daß nicht nur unsern Vorfahren Blinde von dem hürnen Siegfried sangen, auch bei den Serben findet sich bis auf heute der Volksdichtung edelste Blüte eben im Mund und Gedächtnis blinder Greise aufbewahrt. Nur ein Blinder vermag eigentlich die von der Volkspoesie, wie wir sie uns vorstellen, ausgehnden Strahlen in der Stille seiner Seele zu hegen und zu vereinbaren, wo sich hernach sehende Augen einmischen, verderben sie es leicht wieder. Wird nicht dem blinden Manne von Chios das größte Epos aller Zeiten, dem blinden Ossian das wundervolle Gewirk der kostbaren Lieder des schottischen Hochlands beigelegt? Der unvergängliche, diesen augenlosen Greisen zugefallne Ruhm offenbart sich in ihm nicht allein der hohe Wert des Alters selbst, sondern auch die allerreichste Vergeltung des verlornen äußern Lichts? Den blinden Rhapsoden umsteht ein bewegter Kreis, der ihm lauscht und den er befeuert; seine Lebenskraft hat sich nicht verringert, sondern gesteigert. Wir gewahren, erst dem höheren Alter war es beschieden, eine ewigjunge Dichtung hervorzubringen. Versetze ich aber einen seines Gehörs verlustig Gegangnen zurück in jene alte Zeit, so erscheint er mir fast als ein verlorner Mann, dessen eingeschränkte, freudenleere Tage sehnsüchtig dem Ende des Lebens entgegenschleichen mußten. Das alles hat sich in der gegenwärtigen Zeit umgedreht, und das Verhältnis der Blindheit zur Taubheit, kann man sagen, steht wieder auf dem der Natur angemessenen Fuß.

Wir haben die Schwächung oder Entziehung edler Sinne erwogen, von der vorzugsweise das Alter betroffen wird; unmittelbar an Glieder des Leibs gebunden, greift sie doch wesentlich zugleich den Geist an. Es bleibt übrig, der eigentlich geistigen Nachteile zu gedenken, die dem Alter vorgehalten, der Vorteile, die ihm eingeräumt werden.

Um auch hier mit den Vorwürfen anzuheben, so erschöpfen sich alle Sprachen in Ausdrücken, die ungünstig lauten. Bei Cicero heißen Greise morosi, anxii, difficiles, iracundi, avari; amariorem me senectus facit, stomachor omnia. Mürrisch, ängstlich, schwierig, zornig, geizig; das Alter macht mich bitterer, ich ärgere mich über alles. Aus einheimischen Schriftstellern ließe sich eine lange Reihe einstimmiger Beiwörter entnehmen; mürrisch, grämlich, eigensinnig, altfränkisch, ableibig, protzend, sauersehend, Karger, Knicker, Erbsenzähler, Filz, Unke, betrübte Hausunke,

Verzehren die Zeit einsam wie ein Unk.

Hans Sachs I, 370 b,

was zunächst auf einen harthörigen Stubenhocker geht; gleich altem Wein nehmen Greise auch Säure an, doch wird nicht jeder alternde Wein sauer. Altfränkisch, an Bräuchen und Gewohnheiten seines frühern Lebens festhangend, erklärt sich von selbst und ist auch nicht ohne guten, wahren Sinn, denn welchem Menschen erschienen nicht Erinnerungen aus seiner Jugend wert und höher beleuchtet? Welche Tracht hält er für kleidsamer, als die man in seinen Jünglingstagen trug?

Seltsamer und am gehässigsten lautet das Laster und der Schmutz des Geizes; Cato bei Cicero begreift ihn gar nicht, avaritia senilis, quid sibi velit, non intelligo, Was der Geiz der Greise bezwecke, verstehe ich nicht. was könne törichter sein, als je weniger des Wegs übrigstehe, um desto größere Wegzehrung zu sorgen; einer, der weiß, daß er bald aus der Welt weichen muß, warum häuft er ängstlich Geld und Schätze, die nach seinem Ableben lachenden Erben zufallen? Dieser Zug und Trieb scheint aber fester gegründet, als daß ihm ein so allgemeiner Einwurf etwas anhaben könnte. In allen Lustspielen sind die Geizigen immer Greise, die Verschwender Jünglinge, welchen die Zeit lang wird, bis das zusammengescharrte Gut ihnen zuteil werde. Während fast alle andern Leidenschaften im Alter erblassen und sich abstumpfen, wächst die Habsucht und nimmt mit den Jahren zu, sie ist gerichtet auf einen Gegenstand, der sich im Liegen mehrt, d. h. durch unablässige Wachsamkeit verdoppelt oder verzehnfacht werden kann, woraus ein zwar ängstliches, aber behagendes Gefühl der Sicherheit in allen noch bevorstehenden Lebensverhältnissen entspringt. Der Geizige liegt auf seinem Gold einem hütenden Drachen gleich, wie der nordischen Sage zufolge Attila auf dem Nibelungenhort eingesperrt Hungers starb. Man erzählt von Sterbenden, die sich ihren Kasten voll Ringe und Geschmeide auf das Todesbett bringen ließen, um ihr brechendes Auge noch daran zu weiden und mit erstarrenden Fingern darin zu wühlen, doch mögen mancherlei schwer erkennbare, verschiedenartigste Ursachen bei diesem unleugbaren Geiz des Alters mitwirken, und es verlohnt sich darüber nachzudenken. Unter dem Volk können abergläubische, fortüberlieferte Triebfedern in aller Stille festkleben oder nachzucken. Denn vollen Sinn hatte es, daß die Heiden in ihre Grabhügel Knechte, Rosse, Waffen, Ringe mit bestatten ließen, deren sie, im andern Leben angelangt, sich also gleich wieder bedienen könnten. Warum sollte einer nicht das beste seiner Habe aufsparen wollen, um es mit sich hinüberzunehmen? Athenäus p. 159 berichtet von einem Geizhals, der sich Geld in den Chiton einnähte und ausdrücklich weder ausgekleidet noch verbrannt sein wollte, damit sein Schatz nicht gefunden, noch von den Flammen ergriffen würde. Bis in unsere Tage tauchen hin und wieder Erzählungen auf von Leuten, die kostbare Ringe an ihrem Finger behalten wollten und Gold, ja Papiergeld in den Sarg bergen und einschließen ließen, sei es, um diese Habe mitzunehmen oder wenigstens sie verhaßten Erben zu entziehn. Von einer besseren, ohne Zweifel auch begründeteren Seite angesehn, läßt sich die Geldliebe des Alters am leichtesten so deuten, daß an strenge Ordnung in ihrem Haushalt gewöhnte Männer eine lobenswerte Genauigkeit allmählich in tadelhafte Kargheit übertreten lassen; der Alte, weil er selbst weniger braucht, bildet sich ein, daß auch Jüngere damit ausreichen müßten.

Doch ab von allen diesen leiblichen oder sittlichen Gebrechen und Fehlern, bei deren Betrachtung, wenn sie auch mildere Seiten darbot, immer eine empfindbare Herbe hinterblieb, richten wir den Blick auf Tugenden und Vorzüge, die das Alter mit andern Lebensstufen noch gemein hat, oder die ihm sogar als eigen zuerkannt werden mögen. Jene Vorstellung eines müden, ohnmächtigen, harten, unseligen Alters wird sich umbilden in ein Bild von Linde, Milde, Behagen, Mut und Arbeitslust, das ist die lenis, placida, fortis senectus. Das gelinde, ruhige, starke Greisenalter.

Und wie selbst einfallende Gesichtszüge sich noch veredeln, früher unbemerkte Ähnlichkeiten mit den Voreltern erst jetzt heraustreten lassen, weshalb es auch wohl heißt, daß alte Leute manchmal schöner werden, als sie vorher waren, ebenso müssen wir ihnen auch zugestehn, daß der lange Verkehr des durchlaufenen Lebens sie aufgeheitert, feiner gemacht, eine freundliche und liebreiche, keine verdrossene Stimmung der Seele hervorgebracht haben kann. Von unseren Nachbarn über dem Rhein gilt für ausgemacht, seien sie schon als junge Leute brausend, anmaßend und oft unleidlich, so gebe es doch keinen angenehmeren, liebenswürdigeren Gesellschafter als einen ins Alter eingetretnen Franzosen, der fortan unvergleichlichen Takt mit der gutmütigsten Aufmerksamkeit zu verbinden wisse und überall vergnügend anrege.

Vorhin schon wurde aufgestellt, daß im Alter mit der sinkenden Lebenskraft sich zugleich die Empfindung der Gesundheit erhöhe, und das ist kein Widerspruch, da bei allem, was seinem Verlust entgegengeht, ein geheimer und glücklicher Trieb waltet, es bis zur letzten Frist zu sichern und aufrechtzuerhalten. Man darf weiter sagen, daß in Greisen das Gefühl für die Natur steige und vollkommener werde, als es im vorausgehenden Leben war, und daß alles sie zum sichern Verkehr mit dieser stillen und fesselnden Gewalt dränge oder anweise. Mit welcher Andacht schaut der Mensch im Alter empor zu den leuchtenden Sternen, die seit undenkbarer Zeit so gestanden haben, wie sie jetzt stehen, und die bald auch über seinem Grab glänzen werden. Wie schön begründet ist es, daß Greise die stärkende Gartenpflege und Bienenzucht gern übernehmen; ihr Impfen, Pfropfen geschieht alles nicht mehr für sie selbst, nur für die nachkommenden Geschlechter, die erst des Schattens der Neupflanzung froh werden können; was rührt mehr, als daß der heimkehrende Odysseus seinen von der Sehnsucht nach ihm verzehrten Vater Laertes mitten in der Gartenarbeit überrascht? Nicht gesagt zu werden braucht, daß Cicero den Cato, der uns selbst ein köstliches Buch über den Landbau hinterlassen hat, allen Greisen auch die Gärten ans Herz legen läßt.

Eins aber ist bis auf heute und solange die Welt stehn wird, recht für das Alter gemacht und wie geschaffen, der einsame Spaziergang. Schon der Knabe streift gern über Feld, suchend nach Vogelnestern und Schmetterlingen, der Jüngling schweift durch Wald und Wiesen in seinen Träumen und Gedanken an die Geliebte, und der Mann, der findet am seltensten Muße, sich ins Freie zu ergehn, denn hundert Pläne und Geschäfte halten ihn in der Stadt zurück. Für den Greis hingegen wird jeder Spaziergang zum Lustwandel, diese Verdeutschung könnte steif aussehn, diesmal hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf allen Schritten, die solch ein Lustwandelnder tut, bei jedem Atemzug aus der reinen Luft schöpft er sich Lebenskraft und Erholung; in jüngeren Jahren meint man wohl auch Zeit zu verlieren mit dem Spazieren, nunmehr bringt es keinen Verlust, sondern lauter Gewinn. Denn dazwischen gehn die eignen mit sich getragnen Gedanken ungestört und unbeeinträchtigt immer fort: ich habe es wohl an mir erfahren, daß, wenn entlegne Pfade mich über Flur und Äcker führten, selbst unter verdoppeltem Schritt, gute Einfälle mir zuflossen, waren irgendwo Zweifel zu Hause hängen geblieben, plötzlich wurden sie im peripatetischen Nachsinnen gelöst, und unterwegs einem lieben Bekannten zu begegnen! Wie freute ich mich innig, im Tiergarten auf meinen Bruder, wenn er plötzlich von der andern Seite herkam, zu stoßen; nickend und schweigend gingen wir nebeneinander vorüber, das kann nun nicht mehr geschehn.

Wenn zu beschaulichem Naturgenuß höchst aufgelegt, warum sollte das Alter strengen Arbeiten sich nicht mehr gewachsen fühlen, weshalb untaugend dafür geworden sein? Seine Rüstkammern stehn ja angefüllt, an Erfahrungen hat es jahraus, jahrein immer mehr in sie eingetragen, soll sein gesammelter Schatz nur in fremde Hände fallen? Doch nicht bloß am Vorrat zehren will es, es hat auch unaufhörlich fortgesonnen und seine Ausbeute zu vertiefen getrachtet. Einer unserer ehrlichsten alten Dichter, Hugo von Trimberg, selbst ein hochbetagter Greis, spricht die schönen Worte:

Alters freude und âbentschîn
mügen wol gelîch einander sîn,
sie trœstent wol und varnt hin
als im regen ein müediu bin.

Renner 23 009.

Er vergleicht das Alter der tröstlichen Abendröte und einer im Regen heimfahrenden müden Biene, sie läßt nicht nach in ihrer Arbeitsamkeit, fällt ihr schon das Arbeiten schwerer. Junge Brut fliegt schnell aus und ein und wird nicht so leicht vom Wetter überrascht, die alte Biene kommt spät, aber sie kommt doch. In begabten, auserwählten Männern halten Kraft und Ausdauer fast ohne Abnutzung weit länger nach; welche Fülle ununterbrochner Tätigkeit und geistiger Gewalt hat ein Humboldt bis ins fernste Alter allen zu staunender Bewunderung kundgegeben, und die Herrschergabe des großen Königs, dessen ruhmvolles Andenken wir heute feiern, erschien sie nicht bis zum Schluß seines Daseins unermattet, unversiegt? Andern steigt der Mut über die Kraft hinaus. Es mag Arbeiten und Unternehmungen geben, die sich für das Alter besonders eignen, die emsig eingeholte Erfahrung voraussetzen und stillen, ruhigen Abschluß verlangen: ein Philolog durfte wagen, zuletzt an ein Wörterbuch die Hand zu legen, dessen fernliegendes, fast zurückweichendes Endziel in der engen Frist des ihm noch übrigen Lebens, wo die Regentropfen schon dichter fallen, leicht nicht mehr zu erreichen steht. Diese aus dem bescheidnen Gefühl menschlicher Unzulänglichkeit entsprungne Erwähnung wird nicht mißgedeutet werden.

Zu also ungetilgter Arbeitsfähigkeit und ungetrübter Forschungslust gesellt sich aber ein anderer und höherer Vorzug, der zusamt mit dem Alter wachsenden und gefestigten freien Gesinnung. In wem (und welchem Menschen sollte das versagt sein?) schon von früh an der Freiheit Keim lag, in wessen langem Leben die edle Pflanze fortgedieh, wie könnte anders geschehn, als daß sie im Herzen des Greises tief gewurzelt erschiene und ihn bis ans Ende begleitete? Je näher wir dem Rande des Grabs treten, desto ferner weichen von uns sollten Scheu und Bedenken, die wir früher hatten, die erkannte Wahrheit, da wo es an uns kommt, auch kühn zu bekennen. Auf ihrem Verleugnen beruht der Fortbestand und die Verbreitung schädlicher und großer Irrtümer. Nun ist uns in vielen Verhältnissen Gelegenheit geboten, eine freie Denkungsart zu bewähren, hauptsächlich aber zu äußern hat sie sich in den beiden Lagen, wo das menschliche Leben am Innersten erregt und ergriffen ist, in der Beschaffenheit unsers Glaubens und der Einrichtung unsers öffentlichen Wesens. Einem freigesinnten alten Mann wird nur die Religion für die wahre gelten, welche mit Fortschaffung aller Wegsperre den endlosen Geheimnissen Gottes und der Natur immer näher zu rücken gestattet, ohne in den Wahn zu fallen, daß eine solche beseligende Näherung jemals vollständiger Abschluß werden könne, da wir dann aufhören würden Menschen zu sein. Wünschenswerteste Landesverfassung aber erschiene ihm, die es verstände, mit dem größten Schutz aller einen ungestörten und unantastbaren Spielraum für jeden einzelnen zu schaffen und zu vereinbaren. Sicher ist nun, daß hinter allen Wünschen die Wirklichkeit, an die wir zunächst gebunden sind, in unermessenem Abstande stehen bleibt; doch sollen uns jene Ideale vorschweben als Leitsterne, und wer wollte dem Alter den Wahn abschneiden, daß es sie schon am Rand des Horizonts aufschimmern sieht?

Bei den meisten Völkern stand das Alter in Ehren und bereits im Hirtenleben, dessen Häupter Väter und Greise waren, sein Ansehn begründet. Es war uralter Brauch, durch seinen Mund das Recht sprechen zu lassen und sich Rats bei ihm zu erholen; im Gericht und in allen Versammlungen gebührte ihm Vorsitz, süße Worte flossen von Nestors Lippen, und wer in grauer Vorzeit hätte Gesetze entworfen und Weisheit gelehrt, wenn nicht durch Weisheit und Gedankenreichtum ausgerüstete Männer? Doch im Fortgang menschlicher Bildung liegt es unausbleiblich, daß allmählich Vorgewicht und Einfluß von dem bloßen Stand übergingen auf die, deren Geistesgaben und Tatkraft auch schon im Mannesalter vorragten, und es bezeichnet die Überlegenheit athenischer Zustände, daß sie dem Alter geringere Ehre erwiesen, als ihm in Sparta zuteil wurde. Genaue und ins einzelne gehende Darlegung der Verschiedenheiten, welche bei allen Völkern in bezug auf das dem Alter gewährte größere oder mindere Ansehn bestehn, müßte anziehende und belebende Ergebnisse liefern; es ist z. B. bezeichnend, daß die sonst allgemein eingeführte Rangbestimmung nach dem Alter heutzutage einer zwar leichteren, aber kälteren nach Folge des Alphabets zu weichen pflegt, doch nicht in unserer Akademie, die den Turnus ihrer Vorlesungen nach dem Alter des Eintritts ihrer Mitglieder regelt.

Ich nähere mich dem Schluß meiner Betrachtungen und glaube manches zur Stütze der Ansicht vorgebracht zu haben, daß das Alter nicht einen bloßen Niederfall der Virilität, vielmehr eine eigne Macht darstelle, die sich nach ihren besondern Gesetzen und Bedingungen entfalte; es ist die Zeit einer im vorausgegangnen Leben noch nicht so dagewesenen Ruhe und Befriedigung, an welchem Zustand dann auch eigentümliche Wirkungen vortreten müssen.

»Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle!« ruft uns ein großer Dichter zu, der selbst eins der reichsten, gesegnetsten Alter durchlebte. Der Jugend gehören die Wünsche, dem Alter fällt in vielem die Erfüllung zu. Wenn im Alter Wehklage und Sehnsucht nach dem Tod ertönt, so liegt, wie wir oben sahen, die Ursache weniger in dem Alter selbst als in herbeigeführten andern Verhältnissen, Laertes wünschte zu sterben, weil sein geliebter Sohn ausblieb, nicht wegen Hinfälligkeit des Leibs. Ein gesundes Alter ist zugleich lebensfroh. Selbstmord ist verabscheuungswürdig, gegen die menschliche Natur und wider den mächtigsten, im geringsten Tier regen Trieb des Lebens, denn kein Tier tut sich selbst ein Leid an. Gleichen Abscheu flößen uns ein die noch unausgerottete, ehmals weitverbreitete Witwenverbrennung, die Aussetzung der Kinder und die Tötung alter Greise, der wir selbst in der Vorzeit edler Völker begegnen und die uns wilde Stämme noch heute als einen Vorwurf wie im Spiegel vorhalten. Wahr ist, daß alte Greise heiter sich vom Felsen niederstürzten, Witwen freiwillig und freudig den Scheiterhaufen bestiegen; das war einer grausamen Sitte Wahn und ist rein menschlichen Begriffen von Grund aus widerstrebend.

Wie menschlich gedacht ist dagegen die äsopische Fabel vom Greis, der in den Wald ging Holz zu fällen, und nun von seiner Bürde überwältigt und den Tod herbeirufend sie hin zu Boden warf. Als der Tod schnell nahte, hatte der Greis nichts zu bitten, als daß er ihm die Last wieder auf die Schulter helfe. Keinen Alten, sagt man, gibt es, der nicht noch ein Jahr zu leben gedächte. Einigemal findet sich der Widerwillen ausgedrückt, das vollbrachte Leben noch einmal durchzuführen, der Greis möchte nicht wieder ein Kind werden und in der Wiege schreien ( repuerascere et in cunis vagire). Hugo ruft:

Got müeze mir ein sæligez ende geben,
Wan ich sô lenge niht wolde leben
Uf erden als ich gelebet hân.

Renner 21 297.

Das ist wahr empfunden, aber eitle Sorge, nimmer hat ein Greis zum zweitenmal gelebt. Kindisch werden mag er wohl, nicht wieder zum Kind.

Wir sind da angelangt, wo eingeräumt werden soll, was niemand leugnen mag. Das Alter liegt hart an des Lebens Grenze, und wenn der Tod in allen Altern eintreten oder ausbleiben darf, im Greisenalter muß er eintreten und kann nicht länger ausbleiben. Wir wissen, daß der Tod in den ersten Jahren ihres Lebens eine Menge unschuldiger Kinder wegrafft, doch er schont ihrer oft, des Greises schont er zuletzt nicht mehr. Alles was begonnen hat, muß auch aufhören, der Stab, den du oben fassest, unten geht er zu Ende. Die Natur, gütig und grausam zugleich, mit dem einen Auge scheint sie froh auf das neugeborne Kind niederzuschaun, mit dem andern unerbarmend auf die Leiche des alten Manns. Jede Abweichung von ihrem festen Gang brächte ihr Störung, wider den Tod ist kein Kraut gewachsen. Was ist nun trauriger, eines Jünglings Tod oder des Greises? Jener ist nach Ciceros schönem Gleichnis, wie wenn man unreife Äpfel vom Baum abreißt, dieser, wie wenn sie reif vom Zweig selbst herunterfallen. Des Jünglings Tod, wie wenn du Wasser auf eine Flamme gießest und sie gewaltsam auslöschest, des Greises, wie wenn ein Feuer in sich verglimmt. Dies Verglimmen stimmt mit dem der Abendröte am Himmel, die wir schon einigemal zum Greisenalter hielten, nach ihr folgt düstere Dämmerung, und dann bricht Nacht ein. Senectus crepusculum est, quod longum esse non potest, Das Alter ist eine Dämmerung, die nicht lang sein kann. sagte auch schon Fronto. Solange uns die Sonne leuchtet, ist Zeit des Wirkens, bis unsere Tage ausgelebt und wie einzelne Tropfen vom Dach niedergefallen sind. Wir treten auf die Erde und schreiten über den Grund hin, bis wir in den mütterlichen Schoß zurücksinken. Unsere heidnischen Voreltern legten einem Sterbenden die Worte in den Mund: Heute abend werde ich beim Wodan zu Gaste sein, und noch heute hat das Volk die derben, aber treffenden Redensarten: Sein letztes Brod ist ihm gebacken, sein letztes Kleid geschnitten. Goethe, mit einem heilem aber tiefsinnigen, Glück und Leben zusammenstellenden Euphemismus sagt:

Der Mensch erfährt, er sei nun wer er mag,
Ein letztes Glück und einen letzten Tag.


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