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Zur Einführung

Wie sich in einem wohlbestellten Haushalt irgendwo ein vornehmes, zugleich mildes und kräftiges Getränk birgt, das, in guter oder böser Stunde hervorgeholt, mit sanfter Gewalt auf Gaumen und Gemüt fällt, so gibt es in besseren Familien – oder sollte es doch geben – schmackhafte, geistreiche Bücher, die man in widerwärtigen Umständen oder bei einer schwebenden Freude vom Brett herunterlangt, um sie, wo nicht ganz, so doch in schicklicher Auswahl und mit desto andächtigerer Hingabe zu genießen. Als der Glaube noch blühte, entsprach die Heilige Schrift, in welcher so viele Stimmen ertönen, als es Stimmungen in der menschlichen Seele gibt, solchen edlen Zwecken vollkommen. Einer freieren, gegenständlicheren Anschauung, der es lästig fällt, alle Dinge Himmels und der Erden einseitig in Gott gefärbt zu betrachten, entfremdet sich die Bibel, als Erbauungsbuch genommen, mehr und mehr. Die Propheten sind unseren großen Dichtern und Denkern gewichen, und jeder ist uns ein Heiland, der die Begabung in sich hegt, uns zu belehren, zu erheben, zu begeistern. Wir fühlen daher das Bedürfnis nach anders beschaffenen Hausbüchern, unbeschadet und trotz der noch teilweisen Geltung der Heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments. Freilich sind die Werke, die den Ehrenplatz in der Familie verdienen, dünn genug gesät, und zumal unsere deutsche Literatur ist im Vergleiche mit der englischen und französischen arm an dergleichen Kernbüchern. Bringen wir unsere Klassiker in Abzug, die von Rechts wegen im Vordergrund prangen, weil sie uns nach einem Zustande geistiger Dumpfheit die Zunge gelöst, die Empfindung und den Gedanken entfesselt haben, so ist es im übrigen nicht zum besten bestellt mit unserer Hausliteratur. Allerdings hat ein gütiges Geschick uns einen Dichter beschert wie Schiller, durch dessen unvergleichliche, keiner anderen Nation zustehende Werke der Geringste in unserem Volke an den höchsten Dingen teilnimmt, welche Herz und Kopf der Menschen bewegen: Schiller allein ist eine ganze Hausbibliothek; wer vermöchte aber auf der Höhe des Dichters standzuhalten und fühlte nicht auch den Wunsch, einige Staffeln abwärts zu steigen? Für solche geistige Mittelregion ist literarisch nur übel gesorgt. Zwar bringen manche Jahrgänge Lieblingsbücher mit sich, an die sich jedermann herandrängt und die man gelesen haben muß, will man anders nicht als Ungebildeter erscheinen. Doch von solchen Erzeugnissen, welche die nächste Zeitwelle hinwegspült, um ähnliche wiederzubringen, soll in diesem Zusammenhänge nicht die Rede sein. Den Modeschriften gegenüber gibt es Bücher, die eine Zeitlang fast niemand liest und die doch jeder sollte gelesen haben. In ihnen liegen die Bedingungen zu dem, was wir Hausbücher nennen, Bücher, in welchen eine bedeutende Ansicht von einer tüchtigen, liebenswerten Persönlichkeit vorgetragen wird, die, indem sie bloß zu lehren, zu unterhalten scheint, uns zur Verehrung ihres Charakters zwingt. Kein Buch ist bedeutend, das bloß Unterhaltung oder Belehrung gewährt; soll es wirklich bedeutend sein, so muß hinter den Buchstaben ein Mann aufsteigen, der uns die Hand reicht und dessen Führung wir uns völlig anvertrauen. Das beste an einem guten Buche ist immer der Verfasser.

Um aus den bloßen Allgemeinheiten herauszutreten, will ich dem Leser gleich ein solches Buch, das ein Hausbuch im edelsten Sinne ist, aufschlagen. So weit ist die Bildung bei uns wohl gediehen, daß die dargereichten Blätter mit Vertrauen begrüßt werden, wenn man sagt, sie sind von Jacob Grimm. Einem guten Deutschen, die Frauen mit eingeschlossen, die ja seine und seines Bruders Märchensammlung kennen, kann der Name dieses Mannes nicht über die Lippen schweben, ohne daß es ihnen warm und sonnig im Gemüte wird. Man weiß, er ist ein großer Gelehrter gewesen, aber es hat viele ebenso große Gelehrte gegeben, ohne daß sie eine so hervorragende Bedeutung wie Jacob Grimm gewonnen hätten. Er ist der Gründer der germanistischen Wissenschaft, die vor ihm ohne festen Boden war; er ist in gewissem Sinne auch der Vollender dieser Wissenschaft, weil er einige Ziele erreicht und die Erreichbarkeit anderer Ziele gezeigt hat. Mit scharfer Axt ist er durch den Urwald des deutschen Altertums gebrochen, und wo mit rücksichtslos vordringender Tatkraft nichts zu erreichen war, da stand er, die Zweige vorsichtig auseinanderbiegend, still, um die verschämtesten Geheimnisse des Volksgeistes zu erlauschen. Nie waren in einem und demselben Menschen rastlose Energie des Forschens und den Atem anhaltende, sinnige Betrachtung so eng verschwistert, wie bei ihm. Die germanische Philologie aus dem Rohen herausarbeitend, führte er sie, indem er das Wort mit der bezeichneten Sache verband und die Sache am Worte erörterte, bis auf den Punkt, wo sie zur Wissenschaft vom deutschen Volke ward. Als er seinen an eindringenden Vorstudien geschärften Blick auf die deutsche Sprache warf, ordnete sich das durch die Jahrhunderte hintönende Gewirre wie durch einen Zauberschlag zur Harmonie, und in ebenmäßigem Rhythmus, bewegt von einem einfachen Gesetz, stieg unsere heimatliche Sprache aus fernem Altertum herauf bis in unsere Tage. Die breite Gleichgültigkeit in Raum und Zeit ward zur Entwicklung, zur Geschichte. Mit genialem Instinkt – oder soll man es den Scharfsinn der Liebe nennen? – drang Jacob Grimm in seine Muttersprache ein; jedes Wort ward ihm zum lebendigen Wesen, und er besprach und unterhielt sich damit, wie mit einem Menschen, ja die einzelnen Buchstaben verwandelten sich in interessante Personen, die von merkwürdigen Schicksalen zu erzählen hatten. Kein Gelehrter ist je dem Genius der deutschen Sprache so nahe gestanden wie Grimm; er besaß, mochten seine Wortanklänge noch so fehlgehen, ein Wort- und Wurzelgefühl ohnegleichen, gerade als ob er in dem Rat der Geister gesessen hätte, die unsere Sprache erfunden haben. Sinnlich und geistig empfand er die Worte, wenn er sie auch nicht mehr verstand. Stets aber ist er durch die Schale des Wortes zum Kern, zur Sache durchgebrochen, von der Bezeichnung zum Bezeichneten, und so hat der Schöpfer der historischen deutschen Grammatik, worin, nach Heinrich Heines Ausspruch, sämtliche germanische Mundarten wie in einem hochgewölbten Dome erklingen, auch eine deutsche Mythologie wie aus dem Nichts hervorgezaubert, die Rechtsverfassung unserer Altvordern klargelegt und unzählige Beiträge zur Sittengeschichte unseres Volkes geliefert. An poetischer Empfänglichkeit hat ihn kein Mitstrebender übertroffen. Mit seinem feinen Spürsinn, mit seinem Verständnis für alles Ursprüngliche, Ungemachte, ist er tiefer als irgendeiner seiner Vorgänger in das Wesen der Volksdichtung eingedrungen, die ihm eigentlich die einzige echte Poesie einschloß. Ist er doch selbst halb Dichter und ganz Volk gewesen.

Auf die sprachliche Darstellung Jacob Grimms konnten seine Studien nicht ohne Einfluß sein, zumal er sie mit vollem Herzensanteil betrieb. Keiner vor ihm hat so tief wie er in den deutschen Sprachschatz hinabgegriffen, hat so viele deutsche Wörter durch die Finger laufen lassen. Auf das Lautwesen der deutschen Sprache hat er sinnig hingehorcht, und die schöne Vokalmusik ihrer Umlaute klang ihm unverlierbar im Ohre nach; wie die deutsche Sprache denkt, wie sie ihre Formen bildet, ihre Worte zu Sätzen reiht, das hat er aufs feinste nachgedacht und noch feiner nachempfunden. Der schöpferische Geist, aus welchem die deutsche Sprache hervorgebrochen, war ihm unmittelbar nahe. Auf seine eigene sprachliche Darstellung wirkten alle diese Elemente lebendig ein, die sinnliche Kraft der Bezeichnung nicht weniger als der über ihr schwebende geistige Hauch. Er zog, wenn er sprach oder schrieb, die starke Form der schwachen vor, das sinnlich bezeichnende Wort dem abstrakten, und wenn er einen Begriff nicht mehr mit dem Verstände zu erhaschen vermag, fängt er ihn in einem Bild oder Gleichnis ein. Bei keinem anderen deutschen Schriftsteller wuchert der bildliche Ausdruck so stark wie bei Jacob Grimm: man glaubt oft durch ein Blumenfeld zu waten; und was diese Bildlichkeit noch steigert, ist das Bestreben Grimms, bei dem einzelnen Worte dessen sinnliche Bedeutung durchblicken oder doch durchfühlen zu lassen. Vor den Regeln des reinen Geschmacks besteht solche Schreibweise freilich nicht; wer aber wollte sich diese Bilder und Gleichnisse rauben lassen, die sich in ihrer Herzlichkeit und ihrem kindlichen Wesen so warm ans Gemüt schmiegen? ... Von der Freiheit der Wortfolge – diesem Segen und Unsegen unserer Sprache – macht Grimm den vollsten Gebrauch. Hier sieht man in den Mechanismus seines Denkens hinein, weil die Wortfolge den Gedankenablauf in der Zeit und damit die Abstufung der Vorstellungswerte anschaulich macht. Ein Schriftsteller, in welchem das Eigenwesen der Persönlichkeit so stark durchschlägt, will mit Hingebung und Liebe gelesen sein; wer dies aber tut, den lohnt hundertfältiger Genuß. Jacob Grimm ist nicht in dem Sinne wie Lessing oder Goethe ein mustergültiger Schriftsteller; aber das schöne germanische Vorrecht, das zu sein und zu scheinen, was man ist, nimmt er auch in der schriftlichen Darstellung für sich in Anspruch, und wer dürfte sich nackt zeigen, wenn nicht dieser herrliche Mann, in welchem die edelsten Säfte unserer Nation pulsierten? Jacob Grimm wühlte den heimatlichen Sprachgeist in seinen Tiefen auf, und in seinen Schriften hört man alle Brunnen der deutschen Sprache rauschen.

Ich wollte vor dem Leser ein Buch aufschlagen, nun ist aber der Autor davorgetreten und hat es mit seiner Gestalt verdeckt. Das Buch ist eine Auswahl aus den kleineren Schriften von Jacob Grimm; wir öffnen es, und wir finden sofort den Mann wieder, den wir soeben verlassen. Er hat seinen gelehrten Apparat beiseite geschoben und tritt uns, in der Form freier und edelster Darstellung, nun mit Resultaten seiner Studien entgegen. Der Stoff ist mannigfaltig genug: eine Selbstbiographie; über seine Entlassung in Göttingen; Reiseeindrücke aus dem Süden und dem Norden; Denkreden auf Lachmann, auf Schiller; Abhandlungen über Schule, Universität und Akademie, über den Ursprung der Sprache, über das Pedantische in der deutschen Sprache. So viele Stücke, so viele Perlen. Wer immer mit reinem Sinn und aufgeschlossener Empfänglichkeit an die Lektüre des Buches herantritt, den wird es anziehen und festhalten; und hat er es gelesen, so wird die Sehnsucht in ihm bleiben, zu dem Buche zurückzukehren und es wieder und wieder zu lesen. Dem Genius Jacob Grimm wohnt ein unwiderstehlicher Zauber inne; seine Nähe übt einen sanften Zwang, und wir glauben besser zu sein, solange wir unter seiner Wirkung stehen. In diesem starken Manne lebt die Seele eines Kindes, in diesem großen Gelehrten sind Adern der köstlichsten Naivität. In seinem Charakter finden wir Lauterkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, in seinen politischen und religiösen Anschauungen den reinsten Freisinn. Wer einen solchen Mann lieben und verehren gelernt, hat sich für sein ganzes Leben einen Schatz erworben.

Und wieder, indem ich von einem Buch sprechen wollte, rede ich von einem Menschen. Das aber ist ja gerade das Zeugnis für ein gutes Buch, daß es uns auf den Menschen zurückführt. Eine Schrift, die jeder könnte geschrieben haben, ist keine. Und nun, indem ich das Ende mit dem Anfang verschlinge, nenne ich das Buch von Jacob Grimm ein echtes Hausbuch. Schlagt es nur auf in euren Familien, und gute Geister werden seinen Blättern entsteigen.

24. Mai 1874
Ludwig Speidel


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