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1871

Rom, 19. Januar

Heute bin ich 50 Jahre alt geworden; diesem Ereignis zu Ehren schrieb ich den Schluß der ›Geschichte der Stadt Rom‹ nieder. Mir bleibt noch eine Nacharbeit von wenigen Monaten, um die Revision des Bandes zum Druck zu besorgen. So stehe ich am größten Abschnitt meines Lebens. Es stürmte heute und regnete in Strömen, die Glocken der Stadt läuteten.

Gestern schloß ich das Decennium durch einen Gang in den St. Peter, wo man das Fest der Cathedra beging. Durch den leeren Dom scholl feierlicher Gesang, der meine Empfindungen erhob.

Es ist ein furchtbares Verhängnis, welches jetzt über Paris hereinbricht. Es sind die apokalyptischen Reiter, Hunger, Pest und Tod, die jene Weltstadt mit feurigen Ruten geißeln. Dies Schicksal will von dem höchsten tragischen Standpunkt des Äschylus, des Shakespeare und der Bibel gesehen sein. Man wird nach Jahrhunderten darauf zurückblicken, wie auf den Fall von Jerusalem, Karthago und Rom.

Der Bruder schrieb am 9. Januar noch aus Rouen, wo er seinen verwundeten Fuß zu heilen sucht.

 

Rom, 5. Februar

Der Bruder schrieb am 20. Januar aus Rouen. Er ist wieder aktiv geworden.

Am 23. Januar kamen nach Rom der Prinz Umberto und seine Gemahlin, um hier im Quirinal wohnen zu bleiben. Sie wurden glänzend empfangen. Der Papst, so sagt man, schwindet täglich mehr zusammen. Er hat den Vatikan nicht verlassen.

Schack ist hier angekommen. Er kam mir gealtert vor. Sein Roman in Versen, ›Durch alle Wetter‹, hat viele schöne Stellen, auch Züge geistreichen Humors.

 

Rom, 5. März

Die Weltgeschichte saust mit Dampfkraft daher; auch der furchtbare Krieg gehört nun schon der Vergangenheit an. Thiers unterzeichnete die Friedenspräliminarien in Versailles am 1. März.

Völker steigen nur auf, weil andere fallen. Ôte-toi, que je m'y mette, ist das Gesetz des Lebens. Auf den Trümmern Karthagos weinte Scipio, da er an den Fall Roms dachte.

Der letzte Brief des Bruders war vom 24. Februar, aus der Nähe von Havre. Er hatte die Küste gesehen und seine Hand in den atlantischen Ozean getaucht.

Im Karneval, welcher diesmal sehr belebt gewesen ist, hat man die klerikale Partei durch Masken verhöhnt. Man stellte die neuen Kreuzritter auf Eseln dar in Porträts; Kreuz und Schwert wurden einhergetragen. Die Polizei verbot den Zug. Doch jeder Tag wirft neue Karikaturen aus: Antonelli, Merode, die Jesuiten, Kanzler, selbst der Papst sind in den abscheulichsten Verzerrungen zu sehen. Man hat auch Napoleon abgebildet, als Karikatur des Gekreuzigten; der Kaiser Wilhelm stößt ihm die Lanze in die Brust.

Man unterschreibt eine Petition zur Austreibung der Jesuiten. Sie zerren den Papst und treiben ihn zur Flucht, man sagt nach Korsika. Gestern erschien eine Karikatur, La fuga in Corsica; Antonelli sitzt auf einem Esel und hält unter einem großen Sonnenschirm den Papst, welcher zu einem Kinde zusammengeschrumpft ist; den widerstrebenden Esel zieht der Jesuit Curci an einem Stricke fort.

Ich glaube, der Papst wird bleiben, denn wohin soll er gehen? Jedes Land bebt vor ihm zurück. Die italienische Kammer hat das Garantiegesetz votiert, wonach dem Papste die Rechte eines Souveräns zuerkannt werden. Man wünscht, daß er im Vatikan bleibe. Kommt nun im Sommer Viktor Emanuel, hier zu wohnen, so wird in Rom ein japanischer Zustand entstehen, weltliche und geistliche Gewalt, Taikun und Mikado.

Ich halte die Italiener nicht für fähig, den Katholizismus zu reformieren und durch eine geistige Anstrengung von dem Götzenkultus ihrer Heiligen und Dogmen sich zu befreien. Es könnte aber sein, daß die alte Kirche hier im Indifferentismus abstirbt, während bei uns eine Nationalkirche entsteht. Nach dem Frieden, so denke ich, wird in unserem neuen Reich die kirchliche Arbeit beginnen.

Graf Arnim reiste von hier ab; er soll die spezialisierten Friedensunterhandlungen mit Favre in Brüssel führen. Alle Welt ist über diese Berufung erstaunt. Graf Tauffkirchen hat nun hier die diplomatischen Geschäfte.

Ich arbeite an der Vervollständigung meines letzten Bandes, und daran ist doch noch viel zu tun. Wenig in der Welt gewesen; wieder auf einem Ball bei Teano, wo ich das junge prinzliche Paar sah. Die Prinzeß Margherita ist eine sympathische Erscheinung; Umberto ein schlichter, bürgerlich aussehender junger Mann.

Man bemächtigt sich jetzt nach und nach der öffentlichen Gebäude und der Klöster, um darin die Ministerien einzurichten. Antonelli schreibt Note auf Note, wahrhaft kläglich zu lesen, wie Artikel eines Journalisten; niemand achtet darauf.

Man hat die Porta Salaria eingerissen, das alte ehrwürdige Tor, wodurch einst die Goten eingezogen waren. Man entdeckte in beiden Rundtürmen alte Grabmäler; eines mit griechischer Inschrift. Ganz Rom ist so verrottet wie das Papsttum. Man müßte es völlig umbauen, um es als eine moderne Residenz wohnlich zu machen.

 

Rom, 12. März

Unerquickliches Treiben, da die Parteien täglich zusammenstoßen. Die Fastenpredigten eines Jesuiten Padre Tommasi in Gesù brachten die Italiener so sehr auf, daß ein Tumult in der Kirche entstand. Die Nationalgarde hält den Platz besetzt. Das Gift kocht in den Priestern – wer kann es ihnen verdenken; denn eben herrschten sie noch. Auf acht Klöster hat man die Hand gelegt, sie für die Ministerien zu verwenden; in 15 Tagen sollen sie geräumt sein. Es befinden sich darunter S. Silvestro in Capite, die SS. Apostoli, die Augustiner der Scrofa und die Minerva.

Jeder Tag bringt neue Karikaturen. Ein Blatt trägt die Aufschrift Museo Archeologico: der Papst sitzt wie ein Götzenbild auf dem Thron; Antonelli dreht neben ihm die Leier und fordert das Publikum auf, dieses letzte Stück zu sehen; es kommen zerlumpte Gestalten, die am meisten katholischen Länder vorstellend, Bayern, Belgien, Frankreich usw.

Die Priester träumen von einem katholischen Kreuzzug zur Befreiung des Papsts, und dieser soll in Belgien ausgerüstet werden.

Es kamen wenig Fremde.

Ich bin tätig an der Redaktion des letzten Bandes und halte mich still bei dieser Arbeit.

 

Rom, 9. April

Am 18. März haben wir Deutsche in Rom das Friedensfest gefeiert, in demselben Palast Poli, wo wir vor 11 Jahren das Jubiläum Schillers feierten. So wird meine Verheißung erfüllt. Ich habe auch diesmal eine Festrede gehalten.

Die öffentliche Aufmerksamkeit wurde durch die Commune in Paris ganz in Anspruch genommen. Vor den Augen ihrer Überwinder, der Deutschen, welche noch die nördlichen Forts besetzt halten, zerfleischen sich die Franzosen im greulichen Bürgerkrieg. Dies zeigt der Welt sonnenklar, wie gerecht und sittlich der Sieg Deutschlands gewesen ist.

Der Papst fährt fort, sich in den Vatikan zu verschließen, und was soll er sonst tun? Er hat die Osterfeierlichkeiten nicht öffentlich abgehalten, sondern nur in der Paolina zelebriert.

Er empfing eine englische Deputation, den Herzog von Norfolk an ihrer Spitze; sie brachte ihm zwei Millionen Lire und eine Ergebenheitsadresse.

Die Waldenser predigen jetzt in einem Hause am Corso; ich war in einer ihrer Versammlungen, wo der Prediger gut auseinandersetzte, daß Petrus nie in Rom gewesen sei. Ich sah keine Römer dort. Hier gibt es kein Bedürfnis religiöser Belehrung, und außerdem wagt man sich noch nicht hervor, aus Furcht, die Pfaffen könnten doch wieder emporkommen.

Mit großer Demonstration der Garibaldiner und Republikaner wurde hier Montecchi begraben; die Leiche dieses aus der Revolution von 1848 bekannten Mannes kam aus England.

Der letzte Brief des Bruders ist noch aus Rouen datiert.

Gervinus starb am 18. März. Wie es scheint, ist er in dem Konflikt seiner doktrinären Überzeugung mit den Tatsachen der Gegenwart untergegangen. Ich beklage seinen Verlust; eine bedeutende persönliche Beziehung ist für mich erloschen. Gervinus war ein durchaus edler Mann, fest in sich begründet und unerschütterlich, von weitumfassendem Verstand, ein groß angelegter prosaischer Geist. Die Witwe schrieb, und ich habe seine Büste in Gips, welche Emil Wolff im Jahre 1848 gemacht hatte, glücklich in dessen Atelier auffinden können. Dem Vaterland läßt Gervinus ein unzerstörliches Denkmal seiner Geisteskraft und seines Patriotismus zurück: die Geschichte der poetischen Nationalliteratur, die er philosophisch gegründet hat.

 

Rom, 30. April

Die französische Anarchie ist ein Glück für Italien: mors tua, vita mea. Wäre Frankreich stark, so würde das Papsttum an ihm einen Halt finden. Thiers hat einen Minister nach Rom geschickt, den Marquis d'Harcourt. Die hiesige Regierung fand gestern die Kraft, eine republikanische Demonstration zu verbieten, welche zu Ehren Ciceruacchios stattfinden sollte. Man wollte diesem 1849 von den Österreichern erschossenen Volksmann in seiner Wohnung einen Denkstein setzen, und dazu ist einer der italienischen Donquixotte der Anarchie, Menotti Garibaldi, hier angelangt.

Reumont kam her, wütet gegen die Umwälzung Roms, nimmt aber eine liberale Miene in Betreff des Konzils an, welches er für eine große Dummheit erklärt.

Die Professoren der römischen Universität haben eine Ergebenheitsadresse an Döllinger erlassen, leider aber konnte ihnen die papistische Presse nachweisen, daß unter diesen Döllingerianern sich Leute befinden, welche im vorigen Jahre dem Papst eine Gratulation zu seiner Infallibilität überreicht haben. Die Anti-Infallibilitäts-Adresse verfaßte der geistreiche Lignana.

Briefe vom Bruder aus Les Andelys in der Normandie. Er hat das eiserne Kreuz erster Klasse erhalten.

 

Rom, 21. Mai

In Rom fortdauernde Aufregung und Spannung der Parteien. Harcourt tritt als Feind Italiens auf. Wenn sich in Frankreich die Monarchie wiederherstellt, wird sie zu Gunsten des Papsts auf Italien drücken und dies Land die Probe abzulegen haben, ob es selbständig sei oder nicht. Man beschleunigt die Arbeiten zur Herstellung der Lokale für die Ministerien, welche im Juli in die neue Kapitale einziehen sollen. Es ist fast lebensgefährlich, in den Straßen umherzugehen. Wenn ich in der Bibliothek des Augustinerklosters sitze, wo ebenfalls gebaut wird, höre ich die Maurer klopfen; dann scheint es mir, als wären es Hammerschläge auf den Sarg des Papsttums. An jenem Kloster hatte man eines Tages ein hohes Gerüst aufgestellt, um die Wände zu tünchen; ein Omnibus stieß daran, so daß das Gerüst fiel und den Wagen zertrümmerte. Als ich des Morgens dort die Trümmer der Maschine und des Wagens sah, sagte zu mir ein Weib, welches an der Treppe von S. Agostino Heiligenbilder verkauft: «Vedete, Iddio non vuole che si polisca il convento.»

 

Rom, 8. Juni

Freitag am 26. Mai führte ich meine Reise mit Lindemann in das Abruzzenland aus, wonach ich lange getrachtet hatte.

Um 7 Uhr des Morgens nach Terni. Dort zu Mittag im Gasthaus Alle tre colonne, und weiter mit der Post nach Rieti.

Am 27. nach Aquila. Tags durch die Stadt und nach S. Maria in Collemaggio.

Am 28. Mai nach Popoli.

Am 29. über das wilde Gebirg und den Furcapaß zum Fuciner-See. Zu Mittag in Cerchio. Dann am See entlang – er ist schon zwei Miglien weit zurückgewichen –, Celano vorbei nach Avezzano.

Am 30. Alba vorbei nach Scurgola. Es war dritter Pfingsttag. Ich stellte mir das Schlachtfeld Konradins fest, welches nichts mit Tagliacozzo zu tun hat.

Mittags in Tagliacozzo.

Von dort zu Pferde durch die Wildnis über Stock und Stein nach Arsoli, welches wir im Mondschein erreichten. Dieser Ort, wo die Massimi Herren sind, liegt schon im Römischen.

Am 31. Mai bis nachmittags 4 Uhr in Arsoli; dann nach Tivoli. Ich ließ Lindemann in Tivoli und kehrte in der Morgenfrühe des 1. Juni nach Rom zurück.

Ich fand hier Schlözer, welcher von Mexiko gekommen war. Gestern reiste er wieder nach Berlin, um dann seinen Posten in Washington anzutreten.

Am 5. Juni feierte man das Fest des Statuts. Im Kapitol waren alle Räume geöffnet. Ich sah im Konservatorenpalast die neuen Inschrifttafeln zum Gedächtnis der letzten Umwälzung Roms. Auf einer steht Urbs Roma Antiquissima Dominatione Squalente Liberata etc. Squalet Capitolium, sagte einst auch Hieronymus. Undankbare Enkel! Was taten nicht die Päpste für Rom, was bauten sie nicht in dieser Stadt! Ein zweiter St. Peter wird nimmer mehr entstehen. Und doch ist das Squalere richtig. Denn Rom ist alt und verrottet, moralisch wie architektonisch.

In Paris führt man einen Hexensabbath auf. Der Franzose ist noch der alte Tigeraffe. Die Zivilisation dieses Jahrhunderts! Das Mensch-Tier hat noch keine Religion gezähmt. Die massenhaften Hinrichtungen zeigen die Regierungspartei gerade so wild und grausam wie die Kommunisten.

Die Fremden sind aus Rom fort. Ich bin tätig an den letzten Arbeiten. Antonelli in Venedig hat den Kontrakt wegen der italienischen Ausgabe der ›Geschichte der Stadt‹ wieder aufgenommen, und diese soll nun rüstig betrieben werden.

 

Rom, 18. Juni

Der Papst hat das 25. Regierungsjahr erlebt und so die Mythe non habebis annos Petri zu Schanden gemacht. Man fürchtete Exzesse, doch verlief der 16. Juni ruhig. Nur wenige Deputationen waren angelangt; tiroler und bayerische Pfaffen hatten einiges Landvolk mit sich geführt, welches durch seine Erscheinung in den Straßen auffiel. Viktor Emanuel hatte den General Bartolè-Viale an den Papst mit Glückwünschen geschickt, aber er wurde nicht angenommen. Gestern war Funktion im St. Peter. Der Fürst der Apostel wurde mit pontifikalen Gewändern bekleidet, und viel Volk drängte sich herzu, um dem bronzenen Götzen den Fuß zu küssen. Ich sah ein junges Mädchen, welches im Gedränge nicht zum Fuß gelangen konnte; sie warf ihm ein Kußhändchen zu – welch ein prächtiger Stoff zu einem Genrebild für Passini!

Das Domkapitel hat über der Apostelfigur das Medaillon Pius des IX. angebracht; Engel tragen dasselbe; eine Inschrift sagt, daß dieser einzige Papst die Regierungsjahre Petri erreicht habe. Ist es ein Glück für ihn, St. Peter und sich selbst zu überleben?

Man hatte die Absicht, die Stadt zu illuminieren, um eine Demonstration zu machen, doch dies unterblieb.

Rom ist ein übertünchtes Grab geworden. Man streicht die Häuser, selbst die alten ehrwürdigen Paläste weiß an; man kratzt den Rost der Jahrhunderte ab, und da zeigt sich erst, wie architektonisch häßlich Rom ist. Rosa hat sogar das Kolosseum rasiert, d. h. von allen Pflanzen reinigen lassen, die es so schön schmückten. Dadurch ist die Kolosseum-Flora zerstört worden. Der Engländer Deakin hat vor Jahren darüber ein Buch verfaßt. Dies Umwandeln der heiligen Stadt in eine weltliche ist die Kehrseite jener Zeit, wo das heidnische Rom mit gleicher Leidenschaft in das geistliche verwandelt wurde. Die Klöster werden zu Bureaus umgeschaffen; man öffnet die versperrten Klosterfenster oder bricht neue in die Wände, oder macht neue Portale. Nach Jahrhunderten dringt wieder Sonne und Luft in diese Klausen der Mönche und Nonnen. So sind S. Silvestro, die Klöster der Philippiner, der Minerva, der Augustiner im Marsfeld, der Santi Apostoli in kurzer Zeit gewaltsam umgewandelt worden. Die noch darin wohnenden Mönche werden wie Dachse herausgehämmert. Es ist ein kläglicher Anblick, sie so geisterhaft herumschleichen zu sehen, in ihren Kammern und Kreuzgängen und Korridoren. Einige sollen sich doch freuen, bald aus ihrem Bann erlöst zu sein. Das alte Rom geht unter. Nach 20 Jahren wird hier eine neue Welt sein. Ich aber bin froh, daß ich im alten Rom so lange gelebt habe. Nur in ihm konnte ich mein Geschichtwerk schreiben.

Zum Festtage des Papsts brachte das radikale Blatt ›La Capitale‹ das Porträt Döllingers und seine Biographie. Gestern erklärte es in einem fanatischen Artikel, daß es an der Zeit sei, die Monumente Roms von den christlichen Symbolen zu säubern. Diese Herren würden die Säulen Trajans und Marc Aurels zwar nicht einstürzen, aber doch von ihrer Spitze St. Peter und Paul herabwerfen, um an ihre Stelle Mazzini und Garibaldi zu stellen.

Herr von Tallenay kam aus Versailles und Paris zurück und erzählte uns von seinen gräßlichen Eindrücken.

Der Bruder schrieb zuletzt am 2. Juni aus Gournay bei Amiens, auf dem Rückmarsch, wie ich annehme.

Ich lernte hier die Dichterin Emilie Ringseis aus München kennen. Sie dramatisiert Legenden streng katholischer Richtung und schwärmt trotz ihrer guten Bildung für Jesuiten und Infallibilität.

Das Fiasco der Jesuiten bei der Jubelfeier konnte nicht vollständiger sein. Sie hatten auf eine Massendemonstration von mindestens 40 000 Pilgern gerechnet, und es trafen deren kaum 3000 und meist aus den niedrigsten Ständen ein. Da der König am 2. Juli hier sein wird, drängen die Fanatiker den Papst, nach Korsika ins Exil zu gehen. Er aber wird bleiben. Er hat gesagt, daß für ihn nirgend mehr eine Hilfe vom Ausland zu hoffen sei. Alle Mächte haben ihren Ministern den Befehl gegeben, dem Könige von Florenz nach Rom zu folgen, und selbst Thiers, der früher so eifrige Verteidiger des Dominium Temporale, hat den Herzog von Choiseul dazu angewiesen.

Folgende Lokale sind für Ministerien etc. eingerichtet worden. Ministerium des Innern: S. Silvestro in Capite. Krieg: Kloster SS. Apostoli. Äußeres: Palast Valentini. Finanzen: Konvent der Minerva. Ackerbau usw.: Tipografia Camerale. Gnaden, Justiz und Kultus: Palast Firenze. Marine: Konvent von S. Agostino. Öffentliche Arbeiten: Palast Braschi. Unterricht: Palast der Post auf Platz Colonna. Deputiertenkammer: Palast von Monte Citorio. Senat: Palast Madama. Staatsrat: Palast Bolsani. Archive: Palast Mignanelli. Apellhof: Konvent der Filippini. Präfektur: Palast Sinibaldi. Quästur: S. Silvestro in Capite.

 

Rom, 2. Juli

Heute (Sonntag) um 12 Uhr 30 Minuten kam der König aus Neapel. Er zog mit großem Gefolge von Wagen, worin Minister, Generale und Hofleute in Gala saßen, und mit Gardereiterei in seine neue Hauptstadt ein. Die Bevölkerung war in Bewegung. Es regnete Blumen von den Balkons herab in den Wagen des Königs, welcher starr, finster und häßlich aussah. Der Zug ging über die Piazza di Spagna durch den Corso, dann nach dem Quirinal. Der Corso ist mit den Standarten der Städte Italiens geschmückt. Der besonnene Viktor Emanuel hatte sich durch ein Telegramm an den Syndikus Pallavicini jede Feierlichkeit verbeten, doch war der Schmuck der Stadt, der Bau eines Circus auf Popolo, die Errichtung einer Galerie auf dem Kapitol bereits in Angriff genommen. Der weltgeschichtliche Einzug des ersten Königs Italiens in Rom hatte einen improvisierten Charakter. Es war wie ein gelegentlicher Reisezug von der Eisenbahn her; alles ohne Prunk und Schwung, ohne Größe und Majestät; und das war sehr klug. Der heutige Tag ist der Abschluß der tausendjährigen Papstherrschaft in Rom.

Wenn wir Deutsche nicht die französische Macht zertrümmert hätten, dann wäre Viktor Emanuel heute nicht in Rom eingezogen. Die italienische Nation, die unsere alten Kaiser des heiligen römischen Reichs so lange beherrschten, empfing ihre neue Zukunft, dem Zusammenhang der Geschichte gemäß, aus der Hand auch des neuen deutschen Nationalreichs.

Die Kanonen von der Engelsburg donnerten beim Einzuge des Königs. Wie wird da das Herz des Papsts bei jedem Schuß gebebt haben. Es ist ein Trauerspiel ohnegleichen, das hier aufgeführt wird. Und dieser letzte geistlich-weltliche Herrscher Roms mußte auch die längste Regierungszeit unter allen Päpsten haben.

 

Rom, 28. Juli

Ich arbeite viel am Ende meiner ›Geschichte‹ und schrieb zuletzt ›Eine Pfingstwoche in den Abruzzen‹ nieder.

Vor acht Tagen, oder vielmehr am 16. Juli, besuchte ich Caetani in Frascati. Es war schwüler Scirocco. Fahrend überdachte ich die Bestimmungen für mein Testament, welches ich jetzt aufsetzen will. Als ich zum Herzog kam, rief er mir entgegen: »Sie kommen zur rechten Stunde, denn Sie können jetzt der eine Zeuge meines Testaments sein, welcher mir eben fehlt.« Ich setzte also meinen Namen unter dies caetanische Aktenstück.

Mit Unlust verlasse ich Rom. Ich habe alles so eingerichtet, daß ich auch den Winter draußen bleiben kann.

 

Venedig, 10. August

Sonntag am 30. Juli nachts reiste ich nach Florenz. Ich blieb den Montag dort und erfuhr durch die Zeitungen den plötzlichen Tod Gars, der am 27. Juli in Desenzano am Gardasee gestorben ist. Ich kam nach Venedig am 1. August. Meine Arbeiten im Archiv wie auf der Bibliothek wurden durch den Tod Gars erschwert; doch war ich tätig und genoß diese entzückende Stille der Stadt.

Am 7. August kam der Bruder mit Colrepp, so fanden wir uns seit Metz hier wieder zusammen. Er ist durch den Krieg sehr gekräftigt. Wir reisen morgen nach München.

Mit Rebospini, dem Verwalter Antonellis, habe ich die italienische Ausgabe der ›Geschichte der Stadt Rom‹ besprochen; sie soll nun kräftig angegriffen werden.

 

München, Glückstraße 1b, 24. August

Am 11. August nach Bozen, wo wir nächtigten.

Wir blieben einen Tag in Kufstein und kamen nach München am 13.

Wir besuchten Erhardts, die in Feldafing sind.

Bei Döllinger war ich öfter. Ich speiste einmal bei ihm mit Villari aus Florenz. Unumwunden erklärte Döllinger, daß er sich selbst vernichten würde, wenn er sich noch unterwürfe. Eine Versöhnung mit Rom sei unmöglich; man wolle noch Monsignor Nardi zu ihm schicken, den er übrigens nicht anhören werde, da er ihn als unsittlichen Menschen verachte. Es schmerze ihn, sich von seiner Kirche zu trennen, was er niemals beabsichtigt habe; doch wisse er nicht, zu welchem Ziel die Bewegung führen werde. Die Regierung in Bayern schwanke; das Losungswort werde von Preußen her erwartet. Döllinger ist ein Mann des kalten Verstandes, nicht der Begeisterung für ein hohes Ideal. Seine Rektorwahl ist eben vom Könige bestätigt worden. Villari überzeugte Döllinger, daß von Italien nichts für diese Bewegung zu erwarten sei, da sein Vaterland nur politische Zwecke verfolge.

Man hat mich zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften gemacht, um mich hier festzuhalten.

Der Bruder fuhr nach Wildbad am 17. August. Ich folge ihm morgen.

Ich arbeitete, doch unlustig, auf der Bibliothek.

Schack kam von London. Er hat zwei Häuser angekauft, um sich daraus einen Palast mit Galerie zu bauen.

 

Wildbad, 1. September

Am 25. August nach Stuttgart, wo ich bis zum 27. blieb. Ich fand den alten Baron Reischach im Cotta'schen Hause und meine anderen Bekannten.

Am 27. nach Wildbad. Ein schönes, aber enges Tal. Viel Leidende und Krüppel aus dem Kriege. Bleiche Mädchen sitzen in Rollwagen, Gram und Schmerz im Angesicht. Gelähmte hinken oder fahren in Wagen. Die Musikbande spielt dazu: »Freut euch des Lebens, so lang noch das Lämpchen glüht« und andere schöne Sachen.

Ich fahre heute nach Berg bei Stuttgart.

 

Berg, 17. September

Ich lebte hier still und gut im Hause Offinger vom 1. September bis zum heutigen Tage. Der Bruder kam vor fünf Tagen von Wildbad. Wir machten Spaziergänge mit unseren Freunden. Cotta war in der Schweiz. Reischach kam vorgestern.

Heute nach Würzburg, der Schwester entgegen.

 

Bamberg, Deutsches Haus, 25. September

Die Schwester und Harders empfingen uns auf dem dortigen Bahnhof. Nach elf Jahren vereinigten wir Geschwister uns wieder.

Wir machten viele schöne Gänge. Würzburg ist eine Stadt von massiv kräftigem Wesen. Das fürstbischöfliche Schloß (gebaut von Schönborn) eine der prächtigsten Residenzen. Dom, Neumünster, die Marienfeste, die Kapelle gesehen. Merkwürdige Votivgeschenke in jener Wallfahrtskirche. Ich sah kleine Schweine von rotem Wachs in großer Menge und glaubte, sie bezögen sich auf die Trichinenkrankheit. Man sagte mir: wenn ein Bauer ein krankes Schwein hat, so gelobt er ein solches wächsernes Bild. Also die Madonna Tierarzt: eine für mich neue Vorstellung.

Harders reisten nach Wiesbaden zurück am 19. Wir gingen am 20. nach Bamberg, wo wir bis zum 23. blieben. Prächtige Kirchen des Mittelalters, darunter der Dom mit vier ganz vollendeten Türmen. Viele Brücken. Viel Rokokobau. Eine der am meisten malerischen Stellen die Brücke vor dem Rathause auf der kleinen Insel. Wir besuchten die Altenburg, ein gotisches Schloß mit rundem Turm, halbzerstört. Auf der Bibliothek sahen wir Alcuins Bibelcodex und schöne Handzeichnungen Dürers und Holbeins. Es gibt hier 1300 Protestanten, welche ihre Kirche haben.

Am 23. nach Coburg. Im Waggon traf ich den Dichter Julius Grosse aus Weimar. Wir erreichten Coburg über Lichtenfels um 8 Uhr. Die kleine Stadt war festlich geschmückt; ihr Bataillon kam eben aus Frankreich zurück und hielt seinen Triumpheinzug, den Herzog an der Spitze. So sah ich wohl den kleinsten aller Einzüge in Deutschland überhaupt: ein Familienfest auf dem größten weltgeschichtlichen Hintergrunde. Ehrenjungfrauen, fast alle blond, in weiß und grün gekleidet, ein paar Gewerke mit Fahnen empfingen das Bataillon am Bahnhof. Dann ging der Zug vor das Rathaus, wo der Bürgermeister aus dem Fenster herab eine Rede hielt. Der Herzog zu Pferd vor der Front des Bataillons. Nachmittags Tanz im Volksgarten: alles in den Formen eines Familienfestes vom deutschesten Gepräge. Abends Illumination. Auf dem ersten Triumphbogen aus grünem Laub las ich diese Verse:

Willkommen, Heldenkrieger, in der Heimat Auen,
Des Vaterlandes Stolz, der Feinde Schreck und Grauen.

Auf dem alten Turm am Eingang der Stadt war Napoleon hinter einem Eisengitter abgebildet, an dem er rüttelte. Überall die Porträts des Kaisers, Bismarcks und Moltkes. Diese sind populär wie in Italien Viktor Emanuel, Cavour und Garibaldi. Die neue Reichsfarbe ist durchgedrungen. Das Einheitsgefühl lebendig, selbst in Bayern.

Schöner Gang zur Altenburg, wo Luther das Lied dichtete: ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ (Anno 1530). Coburg ist ein reizendes Ländchen; der Herzog dort wie ein glücklicher Gutsbesitzer und Familienvater. Dem Prinz-Gemahl Albert hat die Königin von England eine bronzene Statue auf dem Hauptplatz errichtet.

Abends nach Lichtenfels. Dort trennten wir uns. Bruder und Schwester fuhren nach Berlin, ich nach Bamberg zurück. Hier will ich noch ein paar Tage bleiben und dann nach Nürnberg gehen.

 

Nürnberg, 30. September

Am 27. traf ich hier ein. Ich geriet durch Zufall auf den Johanniskirchhof, wo Dürer begraben liegt. Es war gerade ein Begräbnis; ich trat an die Gruft, in welche Leidtragende über den Sarg Blumen schütteten. Eine schwarzgekleidete Frau bat sich meinen Stock aus, womit sie in der naivsten Weise den Blumen im Grabe nachhalf. Dann reichte sie mir ihn dankend wieder.

Gestern suchte ich Professor Bergau auf, welcher mich in das städtische Leselokal (Museum) führte. Dort fand ich den Direktor der Kunstschule, von Kreling, Kaulbachs Schwiegersohn, der eben vom Diner herunter kam, wozu sich jährlich um diese Zeit die Kommission des Germanischen Museums vereinigt. Ich lernte durch ihn den Vorstand kennen, Herrn Essenwein, sodann von Eye, Ledebur aus Berlin, Baron von Welser aus Augsburg und den Gründer des Museums Freiherrn von Aufseß. Dieser merkwürdige alte Mann, ein kleiner, bärtiger Franke, lebt meist in Kreßbrunn, wo er sich mit gelehrten Arbeiten, Baumzucht, Musik und anderen Dingen beschäftigt. Im Jahre 1830, so sagte er mir, faßte er den Plan seiner Stiftung, die er dann Anno 1852 mit den geringsten Mitteln begonnen hat. Jetzt hat sie ein Einkommen von 30 000 Gulden. Sie ist noch embryonisch, kann aber doch mit der Zeit eine deutsche Zentralanstalt werden, aus welcher eine Geschichte der deutschen Kultur hervorgehen möchte.

Heute führte mich Kreling zu einem wunderlichen alten Herrn, dem Baron von Bibra, dessen altfränkisch eingerichtetes Haus ich sehen sollte. Der Besitzer kaufte es vor vielen Jahren und stellte in ihm ein Muster Nürnberger Wesens her: finstere, luftlose Kammern, worin tausend fränkische Dinge, Gläser, Majolica, Waffen, Bücher, aufgestapelt sind. Eine faustische Atmosphäre über dem Ganzen; draußen Regen und schwankende verschattende Pflanzen um die Fenster hängend. Ich konnte nicht in die Bewunderung Krelings über diese geschnörkelten Dinge einstimmen. Der Freiherr selbst hat große Reisen in Amerika gemacht. Geschirre, Schädel und Werkzeuge wilder Indianer sorgsam aufgestellt. In seiner dumpfigen Arbeitsstube, die mit Urväter-Hausrat vollgestopft ist, stehen zahllose Gläser, Retorten, Instrumente, Flaschen und ein Schmelzofen. Dort macht er vormittags Analysen. Um 4 Uhr nachmittags setzt er sich nieder und schreibt – Romane. In seiner verstaubten Bibliothek steht ein ganzes Fach voll zierlich gebundener Bücher, 60 Bändchen und mehr, lauter Romane, die er in den Jahren 61 bis 71 geschrieben hat. Dieser sonderbarste aller Freiherrn, die ich noch sah, ging in diesem Wust seines Hauses als ein glücklicher Sterblicher umher, angetan mit einem grauen Hausrock, den Hals bloß, mit ruhiger Gelassenheit, feste Selbstbefriedigung auf seinem Angesicht. Ein Buch schlug er auf, worin ich meinen Namen schreiben mußte.

Regen hielt mich ab, heute nach Regensburg zu fahren.

 

München, 2. Dezember

Seit dem 1. Oktober bin ich hier geblieben. Der Winter ist hereingebrochen; nach langen Jahren sah ich alle seine Erscheinungen wieder: Schnee, Eis, Schlitten, Schlittschuhlaufen, in Pelz gehüllte Menschen. Die frische Luft entzückte mich wie der Anblick dieser Schneeflächen und der dunkeln oder bereiften Bäume auf dem Hintergrunde eines oft lilafarbigen Schneehimmels. Der alte ostpreußische Eisbär erwachte in mir. Ich war am 12. November bei Kaulbach zu Tisch, als der erste Schnee fiel. Er bedeckt nun München. Am 27. November fuhr ich nach 19 Jahren wieder in einem Schlitten.

Ich habe die klimatische und moralische Lebensprobe für München gemacht. Es gibt hier viele bedeutende Menschen, aber die Gesellschaft ist zerstückt, ohne Stil, ohne Schwung und ohne Weltbezug. Sie lehnt sich an keinen Zustand an, und sie erneuert sich nicht.

Was die Leichtigkeit der Gesellschaft hindert, ist die Essensstunde, 1 Uhr nachmittags, dadurch wird der Tag zerbrochen, und man muß beim Souper festgenagelt sitzen, wobei endlich Zigarrenqualm das in der Regel kleine Zimmer füllt.

Die Großfürstin Helene traf ich hier. Sie hat sehr gealtert.

Den Diplomaten lernte ich kennen, von hiesigen preußischen Gesandten Herrn von Werthern. Nach München haben sich zurückgezogen von Werthern, vor Ausbruch des Krieges preußischer Botschafter in Paris, und Graf Usedom.

Die Kreise, in denen ich mich bewegt habe, waren die von Liebig, Kaulbach, Staatsrat Maurer (ein Greis von 82 Jahren und noch sehr rüstig), Angelo Knorr, Professor Seitz, Giesebrecht, Buchhändler Oldenbourg, Baron von Werthern, Paul Heyse, Riehl, in dessen Hause man sehr musikalisch ist, Baron Liliencron, Frau von Pacher etc. Schack lebt als Eremit, in seine dichterischen Arbeiten und seine Bildergalerie versenkt. Er reiste nach Venedig, um dann mit dem Großherzog von Mecklenburg nach dem Orient zu gehen.

Mit Döllinger habe ich mehrmals weite Spaziergänge gemacht. Er ist jetzt 72 Jahre alt. Drei Stunden lang pflegten wir spazieren zu gehen, ohne auszuruhen. Im Gespräch ergreift er nicht gern die Initiative; er läßt sich fast immer auf die Bahn des Diskurses bringen. Ein feines, geistreiches Lächeln begleitet seine Bemerkungen. Er sagte mir, daß er gegenwärtig an einer Kritik der Fälschungen des Liber Pontificalis beschäftigt sei und außerdem einen Vortrag über die Versöhnungsversuche beider Kirchen, namentlich zur Zeit des Leibniz, ausarbeite. Als ein entschiedener Theoretiker denkt er sich noch heute die Möglichkeit einer Reform des Papsttums. Seine Feinde verleumden ihn. Ich halte ihn für wahr. Er will Katholik bleiben; deshalb hat er sich in den Hintergrund der Bewegung gestellt, die er selbst veranlaßt hat, nachdem sie auf dem Altkatholikenkongreß zu München, am Ende des Oktober, Grundsätze angenommen hatte, die ihm diejenigen einer aus der Kirche scheidenden Sekte zu sein schienen. Jüngere Kräfte, wie Huber, Friedrich, Reinkens, Michelis, werden die Sache weiterführen.

Die kirchliche Bewegung erlahmt an dem Indifferentismus der Massen. Wäre die Regierung gleich anfangs energisch aufgetreten, so hätte sie ihr den Sieg gesichert. Sie tat es zu spät. Und doch ist die Deklaration des bayerischen Unterrichtsministers von Lutz vor dem Reichstage von großer Bedeutung. Das Strafgesetz wider die Geistlichen, welche mit der Kanzel zu politischen Zwecken Mißbrauch treiben, ist angenommen worden, und die deutsche Staatsgewalt hat der Welt klargemacht, daß sie den Romanismus bekämpfen wird. Wie kläglich sind die Bischöfe, welche wie Handschuhe ihr Gewissen umkehren! So tat auch Haynald, den man für einen großen Mann hielt. In allen gebildeten Kreisen herrscht nichts als Verachtung gegen sie.

Unterdeß hat Viktor Emanuel das erste italienische Nationalparlament in Rom vor dem Angesicht des Papsts eröffnet.

Während meines Aufenthalts in München habe ich auf der Bibliothek manche Nachträge gemacht. Die vier ersten Kapitel des Bandes VIII sind abgeschickt, und der Druck desselben hat begonnen. Vollendet ist der Druck des Bandes VI in neuer Ausgabe. Revidiert habe ich die ›Siciliana‹ zur dritten Auflage. Begonnen hat der Druck der Luxusausgabe des Gedichts ›Euphorion‹.

Ich war als Ordinarius bei der ersten Jahressitzung der hiesigen Akademie der Wissenschaften zugegen, am 2. November. Döllinger präsidierte als Sekretär der historischen Abteilung.

Am 28. November erhielt mein Bruder das Patent als Oberst des ersten Regiments ostpreußischer Festungsartillerie in Königsberg und ich den Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft. Dessen Kapitel bilden Liebig, Döllinger, Giesebrecht, Schack, Kaulbach, Lachner und noch ein paar andere Herren.

Im Theater sah ich ›Macbeth‹, die ›Komödie der Irrungen‹, ›Heinrich IV.‹ erster Teil, ›Wilhelm Tell‹ und einige Opern. Mein schönster Kunstgenuß war das Händel'sche Oratorium ›Josua‹, welches im Odeon wahrhaft glänzend ausgeführt wurde.

Curtius kam von Kleinasien her durch München. Ich lernte auch Ranke kennen. Er ist ein kleines Männchen mit einem leise markierten Buckel, wie ihn Schleiermacher hatte; bei 76 Jahren noch sehr frisch und munter, fast wie ein Lebemann. Ein geistreiches Lächeln belebt seine Züge. Er imponiert nicht, aber er interessiert sehr. Ranke ist einer der interessantesten Menschen, die ich sah. So mag ungefähr Thiers aussehen, für dessen jüngeren Bruder ich ihn halten würde. Ich war bei Giesebrecht zu Tisch mit ihm, und da war auch Döllinger, stumm und in sich gekehrt, während Ranke von witziger Rede sprudelte. Ich erstaunte, in ihm auch einen Enthusiasten zu finden. Denn ganz in Feuer und Flammen rief er aus: »Das deutsche Imperium ist die größte Tat der Menschheit!« Meiner ›Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter‹ warf Ranke vor, daß sie italienisierend sei. Ich erzählte darauf als Anekdote dies: Ein geistreicher Italiener sagte mir einst wörtlich folgendes: »Ihre Geschichte ist ganz vortrefflich, aber sie ist zu deutsch.«

Ich sah Hegels Sohn flüchtig und Dr. Wegele aus Würzburg, der die Geschichte der deutschen Historiographie schreibt.

Ich lernte Abbé Loyson oder Père Hyacinthe kennen. Er hält hier Vorträge. Wie sonderbar, daß sich ein Franzose in dieser Zeit ganz der deutschen Bewegung angeschlossen hat. Die Religion hat keine Nationalität. Loyson lebt hier in sehr ärmlichen Verhältnissen.

 

Aufenthalt in Mantua und Heimkehr nach Rom

Ich verließ München am 3. Dezember bei 18 Grad Kälte. Der Waggon wurde durch Wärmeflaschen, aber jämmerlich schlecht geheizt. Da ich nichts hatte, mir die Füße zu schützen, geriet ich bald in einen kläglichen Zustand; auch erfror mir die linke Hand.

So erreichte ich Bozen, welches schneefrei war. Dort nächtigte ich und fuhr am 4. Dezember über Verona nach Mantua.

Ich war so durchkältet, daß ich mich durch nichts mehr erwärmen konnte. Auch dort war es kalt, 3 bis 4 Grad unter Null, aber ein stets strahlender Himmel. Die Seen und Sümpfe um Mantua begannen sich mit Eis zu bedecken, worüber Wasservögel jammernd flatterten.

Vor 19 Jahren war ich in dieser Stadt, aber nur so flüchtig, daß sie mir kein Bild mehr zurückgelassen hat. Sie hat mittelalterliche Türme und Paläste genug, meist aber reich aussehende Rokokobauten aus dem 17. Jahrhundert. Die Straßen tragen die Bezeichnung von Stadtvierteln mit wunderlichen Tiernamen.

Das reiche Archiv des Hauses Gonzaga ist in einem Teil des Schlosses in mehreren Sälen aufgestellt und in so vortrefflicher Ordnung, daß es der österreichischen Verwaltung Ehre macht. Von ihr ging dasselbe in das Eigentum der Stadtgemeinde über.

Direktor ist dort Zucchetti, ein liebenswürdiger Greis, und Sekretär ein noch junger Mann, Davari, welcher die Feldzüge Garibaldis in Neapel mitgemacht und auch im letzten lombardischen Kriege gekämpft hatte.

Ich arbeitete daselbst täglich von 9 bis 3 Uhr. Meine Ausbeute ist so groß, daß ich noch einmal hierher zurückkehren will. Für die Epoche Hadrians VI. und Clemens' VII. fand ich Korrespondenzen der mantuanischen Gesandten aus Rom, sogar aus den Hauptquartieren, und eigenhändige Briefe fast jeder bedeutenden Persönlichkeit jener Zeit. Ich habe damit die drei letzten Kapitel des achten Bandes bereichert und namentlich für den Sacco di Roma so viel Neues beibringen können, daß sich Ranke darüber freuen soll, welcher mir in München sagte, es sei nichts Neues mehr hinzuzufügen, er habe das alles schon verwertet. Er hat jedoch das Archiv Mantua nicht gesehen, und wenige haben es gesehen, da unter dem österreichischen Regiment der Zugang zu ihm schwierig war. Archivio Vergine nannte es der Graf Arco. Die Korrespondenzen Castigliones, des Nuntius Clemens VII. in Madrid, liegen dort, und viele seiner Briefe sind unediert; desgleichen die Berichte Suardinos, des Gesandten Mantuas in Madrid. Ich kopierte mehrere Briefe von Cäsar Borgia.

Ich habe nie so gefroren wie in Mantua. Ich glaubte, nicht lebend aus diesem Ort zu kommen; nur die Freude über die Entdeckungen im Archiv erhielt meine Lebenskraft.

Ich sah den Palast del Te wieder und die berühmten Fresken des Giulio Romano. Eine Dame lief dort aus dem Gigantensaal entsetzt hinweg. Ich sah das kleine Haus, welches sich Giulio Romano gebaut hatte und das noch unverändert dasteht. Derselbe Schüler Raffaels hat auch große Gemälde im Palast Gonzaga ausgeführt; dort sind seine schönsten Fresken im Trojanersaal. Er malte hier das Urteil des Paris in origineller Auffassung, nicht den Akt selbst, sondern was ihm vorausgeht: Merkur führt die Göttinnen dem Schäfer zu, welchen man in der Ferne neben seiner Herde sitzen sieht. Merkur trägt den Apfel in der Hand. Ebendaselbst ist Laokoon gemalt. Der Künstler hat, was er als Maler durfte, die Gruppe aufgelöst; die drei Figuren stehen hintereinander; die Schlange steigt aus dem Meer, sie zu überfallen.

Zeichnung: Gregorovius

Monte Cassino, 6. 10. 1859

Das Schloß der Gonzaga, dessen einen Teil in den letzten Jahren der unglückliche Erzherzog Maximilian wiederhergestellt hat, ist ein kolossales Viereck von Gebäuden aus verschiedenen Epochen, mit Höfen, Gärten und einem Labyrinth von Gemächern – ein Vatikan im Kleinen. Er glänzte während der Renaissance von Pracht, Schönheit und den edelsten Geistern des Landes. Keine berühmte Persönlichkeit jener Zeit, wo Castiglione seinen ›Cortegiano‹ schrieb, hat in diesen Sälen gefehlt. Mittelpunkt der Gesellschaft war Isabella d'Este, die Schwester Alfonsos, und Gemahlin des Giovanni Francesco Gonzaga. Johann von Medici von den schwarzen Banden starb dort in den Armen Aretinos.

Am Anfange des 16. Jahrhunderts und noch früher glänzte Mantua auch durch eine Akademie, die Fortsetzung der ersten Humanistenschule des Vittorino. Noch heute trägt eine Straße der Stadt den Namen Via Pomponazzi, von jenem Philosophen, welcher die Unsterblichkeit der Seele leugnete, zur Zeit Julius' II. und Leos X.

Die Herren vom Archiv führten mich auch in die Gefängnisse des Schlosses und zeigten mir das Gemach, aus welchem Orsini mit so großer Kühnheit entfloh, um dann durch seine Mordbombe Napoleon zur Befreiung Italiens aufzuregen. Diese Gefängnisse sind nicht schreckliche Kerker, sondern saubere Räume, was ich zu Ehren Österreichs den mich führenden Herren bemerkte und sie auch anerkannten.

Wir nahmen eines Tags ein gemeinsames Mahl im Palast Bonacolsi ein, welcher später an die Castiglione kam. Von alten Familien gibt es in Mantua noch Zweige dieses Geschlechts, ferner die Colloredo, dal Bagno, Cavriani, Arco. Ich besuchte den letzteren. In einem wüsten, kalten Zimmer unter Büchern und Schriften fand ich einen hochbetagten Mann sitzen, halberblindet, den Krebs im Gesicht, das klägliche Jammerbild menschlicher Leiden. Mit tiefer Betrübnis beobachtete ich diesen um die Geschichte Mantuas, namentlich die seiner Gemeindeverfassung, hochverdienten Greis. Noch am Rande des Grabes und auf der Folter seiner Schmerzen setzt er seine vaterländischen Studien fort.

So oft ich meine Arbeit im Archiv beendigt hatte, wanderte ich in der Stadt umher, an die Seen, auf denen langsam große schwarze Kähne zum Po hinabfuhren, nach der Zitadelle, wo ich das einsame Denkmal des Andreas Hofer sah. Abends war großes Gewühl in der Hauptstraße unter den schönen Arkaden und Lärmen der Jugend, wie in Rom bei der Befana. Das nahe Fest Santa Lucia ist der Weihnachten Mantuas.

Morgens am 12. Dezember mit der Post nach Modena, dort die Eisenbahn zu erreichen. Es war noch dunkel und bitter kalt; die Wagenfenster überfroren. Welches Entzücken, die Nacht sich in die Alba und Morgenröte auflösen und dann die Sonne prachtvoll aufsteigen zu sehen! Alsbald über den Po bei S. Benedetto auf der Fähre, derselben, welche mich vor mehr als 19 Jahren hier hinübergeführt hatte, als ich diese Straße zog, in der tiefsten Dunkelheit über meine Zukunft und Bestimmung.

Hinter S. Benedetto brach die Achse des Wagens, und dieser blieb auf der Chaussee stehen. Da saßen wir ratlos. Ein Zug hoher zweirädriger Karren, beladen mit Steinen zum Chausseebau, kam eben daher, geführt von kräftigen Arbeitern in roten Mützen. Sie halfen die Achse mit Stricken festbinden, was nichts nützte und nur Zeit kostete. Ein Knecht wurde auf einem Pferde nach der nächsten Poststation Moglia vorausgeschickt, unser Unglück zu melden, während Briefschaften und Gepäck auf die Karren verladen wurden.

Im warmen Sonnenschein wanderte ich auf der trefflichen Straße rüstig fort, weit hinter mir folgte der Zug der Karren. Nach vier Miglien kam mir ein kleiner Wagen, geführt von zwei schönen jungen Männern, den Söhnen des Posthalters, entgegen. Er brachte mich nach Moglia. Auf demselben Wägelchen ging es fort nach Carpi.

Carpi ist die Hauptstadt des Fürstentums der Pii, welche sich dort ein schönes Schloß erbauten. Ich hatte nur so viel Zeit, in den Schloßhof zu treten, des Alberto Pio gedenkend, welcher hier den großen Aldus in seine Druckerei aufgenommen hatte. Dann weiter mit der Post nach Modena.

Abends nach Bologna, wo ich im ›Hôtel Brun‹ übernachtete. Am 13. besuchte ich Frati im Archiginnasio und ließ mir die nun vollendete Einrichtung dieses herrlichen Lokals, auch das neu aufgestellte Museum etruskischer Altertümer zeigen. Es war bitter kalt. Schnee lag auf den Dächern. Um 8 Uhr erreichte ich Florenz.

Um 10 Uhr nachts am 13. Dezember weiter nach Rom.

Ich fand hier meine Freunde guter Dinge, selbst Frau L. in einem besseren Gesundheitszustande, als ich erwartete. Wenig Menschen suchte ich auf, darunter den Herzog von Sermoneta und Donna Ersilia, deren Mann mich in die Aula des Parlaments führte.

Am 17. begann indeß die durch so lange Zeit in mir aufgesammelte Kälte auszutreten. Statt wie die Trompete Münchhausens im Auftauen die Stimme zu bekommen, verlor ich sie und wurde ganz sprachlos. Ich habe fünf Tage lang das Zimmer hüten müssen.

 

Rom, 31. Dezember

Der erste bekannte Mensch, dem ich begegnete, war sonderbarerweise der Erzbischof Stroßmayer. Er wanderte im Sonnenschein des Mittags auf der Piazza di Spagna mit seinem Theologen Morsack; er erschien mir physisch und geistig gebrochen.

Der bayerische Gesandte beim italienischen Hof, Herr v. Dönniges, wohnt in meiner Nähe. Er liegt an den Blattern krank, so daß ich ihn noch nicht gesehen habe. Ich vermied die Gesellschaften. Nur bei Graf Tauffkirchen war ich auf der Donnerstagsoiree.

Alle meine Schätze aus Mantua habe ich bereits für die drei letzten Kapitel des achten Bandes verwertet. Sobald ich die Schlußbetrachtung werde umgeschrieben haben, ist auch der letzte Strich an meinem Lebenswerk getan. Dies verändert meine Stellung zu Rom. Ich löse mich von Rom ab, welches für mich zur Legende meines kleinen Lebens zu werden beginnt. Nichts kann mir das Vergehen und den Unbestand menschlicher Dinge so schmerzlich ins Bewußtsein bringen.


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