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1870

Rom, 7. Januar

Am Neujahrstage war ich zum angezündeten Baum bei der Prinzessin Teano. Dann gingen wir hinauf zu Tisch zum blinden Herzog.

Ich begann die Revision des Bandes IV für die zweite Auflage und bin so an mehreren Epochen der Stadt zugleich beschäftigt. Am Neujahrstage traf ich mit Schack zusammen, welcher sich hier auf seiner Reise nach Damaskus nur kurze Zeit aufhält. Seither machen wir Gänge und Fahrten an den Nachmittagen. Wir fuhren nach Ponte Salaro, die zerstörte Brücke zu sehen und das im Abendglühn leuchtende Bild der Campagna zu betrachten.

Zeichnung: Gregorovius

Rom, Kaiserpaläste, 13. 7. 1855

Am vorigen Donnerstag war ich mit Lindemann und der Frau von Tallenay auf dem Palatin. Da ich eben das Bild Roms um das Jahr 1500 hergestellt hatte, sagte ich Herrn Rosa scherzend: er grabe Rom aus, und ich schütte es wieder zu; er sei der Verderber der Ruinen Roms, da er den Palatin umwühle, um alles Gemäuer herauszugraben und dann für neugierige Fremde auf einen Präsentierteller zu stellen. Er entgegnete lachend, daß ich der Barbar Roms sei, er aber die Stadt von der Barbarei wieder reinige, um die wahre Poesie ans Licht zu bringen. So führte er uns zu den von ihm entdeckten Zimmern, von deren Wänden auf pompejanischem Rot uns die graziösen Gemälde entgegenglänzten.

Die Römer bleiben ohne Anteil am Konzil. Niemand bekümmert sich um das Geschwätz dort im St. Peter. Man sagt, daß eine liberale Stimmung durch die Versammlung gehe; doch dies wird wohl wenig zu bedeuten haben. Die privaten Zusammenkünfte der Bischöfe sollen jetzt nicht nach Nationen, sondern nach Sprachen gehalten werden, wozu man ein passendes Lokal sucht. Die Gruppen würden sich dadurch vergrößern und die Entstehung nationaler Fraktionen vermieden werden. Man hat noch keine dogmatischen Fragen zur Sprache gebracht, nur allgemeine Dinge und diese aus der vorbereitenden Kommission unter dem Kardinal Bilio, welche eine große Klasse von Fragen unter dem Begriff Schemata behandelt hat. Sie betreffen das Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft, zur Philosophie, zur Zivilisation überhaupt. Monsignor Tizzani soll bei dieser Gelegenheit eine gute Rede gehalten haben, ebenso der Bischof Stroßmayer. Unter den Papisten bezeichnet man den Spanier von Urgel als einen der Stimmführer. Manning und sein Anhang sind noch nicht besonders hervorgetreten. Darbois, Maret und Dupanloup halten sich auch noch zurück. Den Deutschen fehlt ein Führer; man hofft auf Hefele. Ich glaube, daß diese ganze Opposition wenig Erfolg haben wird. Rom wird auf dem Syllabus bestehen bleiben, womöglich auch die Infallibilität proklamieren, und die Opponenten werden sich sodann als laudabiliter subjecti auf den Boden werfen und des Infallibeln Füße küssen. Man meint, daß das Konzil Jahre lang dauern werde. Ich bekomme immer wieder Aufforderungen von Deutschland her, etwas darüber zu schreiben: was ich ablehne.

Heute schrieb ich an Thile, dessen einziger Sohn plötzlich gestorben ist. Gestern erhielt ich den ersten Brief Schlözers aus Mexiko, wo er sehnsuchtsvoll nach Rom zurückdenkt.

 

Rom, 30. Januar

Der Papst ist von seiner Infallibilität durch die Jesuiten so überzeugt worden, daß er sie schon mit Händen greifen kann. Er hat gesagt: früher, ehe ich Papst war, glaubte ich an die Infallibilität, jetzt aber fühle ich sie (io la sento). Der Pater Piccirillo, ein Neapolitaner, beherrscht ihn. Merkwürdigerweise gibt es im Orden Jesu nicht einmal einen hervorragenden Geist von persönlicher Wirkung. Es ist nur die Sekte oder das System, eine Prätorianergarde, die sich des Einflusses bemächtigt hat.

Haynald sagte mir, daß die Kämpfe im Konzil groß seien. Neben ihm glänzt Stroßmayer als liberaler und schlagfertiger Redner, da ihm das Latein wie eine Art Nationalsprache geläufig ist. Die Dunkelmänner mißhandeln ihn. Von Freiheit der Diskussion ist keine Rede. Drucken lassen dürfen die Bischöfe nichts. Dupanloup, der eine Ansprache wollte in Rom drucken lassen, wurde abgewiesen, worüber er außer sich geraten ist.

Die Infallibilisten, deren Sekretäre Fessler aus Tirol und der Jesuit Schrader aus Wien sind, haben ihre Petition um Erklärung der Infallibilität der Postulaten-Kommission überreicht und abdrucken lassen. Ihre Häupter sind Manning und Deschamps. Die Opposition bereitete eine Gegenadresse vor, aber die Nationen konnten sich nicht in einer allgemeinen Formel vereinigen. Schließlich wurden die Deutschen von den Franzosen und Italienern im Stich gelassen, und sie haben zunächst allein für sich ihre Adresse abgefaßt. Diese Schrift trägt an der Spitze der Opponenten die Namen des Kardinals Schwarzenberg, sodann Rauscher, Haynald, Hefele, auch Ketteiler und andere. Die Infallibilisten zählen 450 Stimmen, darunter alle Spanier, viele Orientalen, viele Italiener, fast sämtliche Engländer, welche Manning führt. Da es viele Vikare oder Missionsbischöfe gibt, arme Prälaten, welche hier auf Kosten Roms verpflegt werden, Bischöfe ohne Diözese, nur mit Titulatur, so haben die Jesuiten es leicht, aus ihnen Masse zu bilden. Ihre Intrigen sollen grenzenlos sein. Man wirkt mit Bestechung, mit Schmeichelei, mit Terrorismus, mit Benefizien und Aussicht auf den roten Hut.

Man sagte mir gestern, daß Dupanloup, der übrigens stets ein Verfechter des Papismus gewesen ist, im Begriffe sei abzufallen, und das gleiche behauptet man von Darbois. Sie werden einen Schwarm von anderen mit sich ziehen. Man intrigiert mit Frankreich, das große Stück durchzusetzen. Graf Trautmannsdorff schreibt beruhigende Berichte an den Kaiser nach Wien, wonach von der Weisheit des Heiligen Vaters nichts als heilsame Entschlüsse zu erwarten seien.

Die Opposition beruht wesentlich auf dem germanischen Element, auf den 40 oder 50 Bischöfen, welche noch zusammenhalten, bis sie schließlich nachgeben, ermüdet und weich gemacht, durch ihre Vereinsamung abgeschreckt oder durch einen mezzo termine beschwichtigt.

Gestern kam Dr. Pichlerzu mir, der Verfasser der auf den Index gesetzten Geschichte des griechischen Schisma, herausgemaßregelt durch die Ultramontanen aus München, und genötigt, einen ehrenvollen Ruf als Bibliothekar nach Petersburg anzunehmen, von woher er eben nach Rom kam. Er wagte sich hierher, und seltsamerweise hat man ihn noch nicht belästigt. Wir sprachen von Döllinger, welcher in Folge jener Infallibilistenpetition zum erstenmal persönlich hervorgetreten ist. Er veröffentlichte am 21. Januar einen scharfen Artikel gegen jene Adresse der Jesuitenpartei in der ›Augsburger Zeitung‹. Man erkennt den Verfasser des ›Janus‹ wieder, und Pichler selbst bestätigte mir, daß er für diesen ›Janus‹ Vorarbeiten gemacht habe, daß aber die Redaktion Döllinger angehöre. Der Artikel ist durch alle Journale gegangen; bereits hat die ›Civiltà Cattolica‹ Dr. Wieland angegriffen, und hier fürchtet man sich weniger vor dem deutschen Episkopat, als vor der sogenannten Münchner Schule, deren Stimmführer Döllinger, Frohschammer, Huber und Pichler sind. Von Döllinger rühren vielleicht auch die vortrefflichen Artikel der ›Allgemeinen Zeitung‹ über das Konzil her; Material dazu liefern ihm, so glaube ich, Lord Acton und der junge Graf Arco von hier. Die Stadt München hat Döllinger zum Ehrenbürger ernannt. Pichler sagte mir, daß von Döllinger nichts zu hoffen sei, weil er voller Widersprüche stecke und nicht den Mut des Prinzips habe. Er bewies das aus seiner Vergangenheit und aus den Grundsätzen des genannten Artikels selbst, welche im Widerspruch mit den von Döllinger verfochtenen Ansichten über den Primat des Papstes ständen, den er noch in seinem Buch über das Kirchentum aufrecht halte. Überhaupt sei keine Hoffnung auf eine deutsche Bewegung zu fassen.

Wir haben Wintertage in Rom, bei sonnenheller Luft. Eine Scheibe des Fensters in meinem Schlafzimmer war überfroren, was ich noch nie gesehen habe, solange ich hier bin. Ich habe mich von den Gesellschaften für diese Zeit zurückgezogen, nur dann und wann gehe ich auf die Gesandtschaft. Bei Frau L. kommen viele Menschen zusammen. Zwei Polinnen musizieren dort, Gräfin S. aus Litauen und Frau J. aus Warschau, welche ihre Kinder verlassen hat aus Fanatismus für Liszt und dessen Schülerin geworden ist. Sie ist eine kleine, geistreiche, närrische Person und liszttoll. Liszt hat sich nach Tivoli in die Villa d'Este zurückgezogen.

Der erste Korrekturbogen vom Bande VII kam am 24. Januar.

 

Rom, 6. Februar

Der Papst hat die Minoritätsadresse mit 130 Unterschriften abgewiesen und keinen dieser Prälaten empfangen. Dies beweist, wie er das Verhältnis der Papstgewalt zum Konzil auffaßt, als das nämlich des Herrn zu Dienern. Die Opposition fängt an zu zerbröckeln; selbst Ketteler von Mainz will abfallen, wie mir Pichler versichert hat. Die noch heute die Liberalen spielen, werden zuletzt Baal anbeten wie die anderen. Es ist im Grunde gut, daß die Dinge und Menschen sich erklären und daß Masken nicht mehr geduldet werden. Das Absurdum, wohin die Kirche treibt, ist nur der Schluß einer historischen Entwicklung, von der Zeit der pseudoisidorischen Dekretalen und der Diktatur Hildebrands abwärts bis zum Syllabus.

Auf der letzten Soiree bei Arnim saß ich nahe bei Manning und beobachtete diesen Fanatiker genau; ein graues Männchen, wie von Spinngewebe umzogen. Ein Graf Hahn, Bruder der Ida Hahn-Hahn, welche augenblicklich hier ist, küßte ihm mit mystischer Andacht die Hand, welche dieser ihm mit den Manieren einer an Huldigungen gewöhnten alten Kurtisane entgegenhielt. Mich überfiel ein Ekel – aber solche Szenen lehren die Macht der Pfaffheit über die Schwächlinge, welche ihre Werkzeuge sind und als Kolporteure der Finsternis in der Gesellschaft umherschleichen, Zwielichtsmenschen, unfähig, das Tageslicht zu sehen.

Ich lernte dort auch den neuen bayerischen Gesandten kennen, Graf Tauffkirchen, der noch jung ist, Zeitgenosse Kaiserlings, mit dem er in Petersburg zusammen war.

 

14. Februar

Haynald bestätigte die Wahrheit dessen, was die ›Augsburger Zeitung‹ berichtet hat: einer der orientalischen Bischöfe hielt eine Rede gegen die Infallibilität, mit der Erklärung, daß sie der Lehre im Orient zuwiderlaufe. Der Papst hat ihn zu sich gefordert, ihn wie einen Sklaven behandelt, und von ihm gefordert, zu widerrufen oder auf seine Benefizien zu verzichten. Das letztere hat der Bischof getan. Die Opposition erkennt, daß ihre Bemühung nichts fruchten wird. Gestern, im Salon der Frau von Tallenay, erschien Liszt und brachte die Sensationsnachricht von der Vertagung des Konzils, wo der Kampf zu heiß wurde. Heute soll eine neue Geschäftsordnung oktroyiert werden, welche auch die letzte Möglichkeit freier Diskussion beseitigen wird.

Die ›Allgemeine Zeitung‹ kam in Besitz von Aktenstücken, darunter die Adressen pro et contra infallibilitatem, und zwar ehe sie noch der Papst selbst kannte, worüber er in den heftigsten Zorn geraten ist. Man fahndet hier nach dem Verräter, wie nach dem Verfasser der ausgezeichneten Artikel über das Konzil, welche die ›Allgemeine Zeitung‹ bringt. Man hat Professor Friedrich, einen Geistlichen aus München, ausgewiesen, welcher der Theologe des Kardinals Hohenlohe war, und dieser selbst soll beim Papst in Ungnade gefallen sein. Dies ist möglich, schon des Verdachts wegen, wozu sein Bruder in München Veranlassung gibt. Viele Korrespondenten sind ausgewiesen; Dr. Dressel wurde vorgefordert, als Verfasser der Artikel beschuldigt und mit dem Exil bedroht, was diesen fast erblindeten Mann vernichten würde. Er ist der (sehr unschädliche) Tageskorrespondent der ›Allgemeinen Zeitung‹. Er gab mir dies zu wissen, und ich nahm deshalb Rücksprache mit der Fürstin Wittgenstein und Liszt – doch sagte mir Tauffkirchen, daß die Sache beigelegt sei.

Vor einigen Tagen schickte Louis Veuillot, der Fanatiker und kleine Voltaire der Finsternis, einen Geistlichen zu mir und ließ mich fragen, ob mein Band VII, der die Epoche der Borgia behandelt, schon gedruckt sei; er habe gehört, wie gerecht ich das Papsttum behandle, wolle einen Artikel schreiben und wünsche deshalb jenen Band einzusehen. Ich sagte dem Geistlichen, was nötig war, und betonte auch stark die Ansicht, daß die Menschheit heute nur mit der vollen Freiheit zu regieren sei.

 

Rom, 18. Februar

Stroßmayer und Haynald sind die besten Redner im Konzil und Dornen im Auge der Kurie. Mit dem letzteren war ich gestern bei der Gräfin Bismarck. Als wir auf den Verfasser der Artikel über das Konzil in der ›Allgemeinen Zeitung‹ zu sprechen kamen, sagte er, daß die allgemeine Stimme Lord Acton als solchen bezeichne. Man wagt es nicht, gegen ihn vorzugehen, aber man weiß, daß er schreibt und die ihm zugeführten Materialien hoch bezahlt. Es war stets meine Ansicht, daß Acton und Arco Materialien nach München schicken, wo sie zu Artikeln verarbeitet werden. Tauffkirchen widerstritt derselben, indem er meinte, sie würden hier an Ort und Stelle geschrieben.

Die drei Schemata sind gedruckt und an die Bischöfe gegeben worden. Das erste de fide wird bereits besprochen, so weit dies auf diesem Konzil möglich ist; das zweite umfaßt die Artikel de disciplina; das dritte de ecclesia et potestate papae enthält des Pudels Kern.

Schwarzenberg hat in einer Rede die regelmäßige Wiederkehr der Konzile verlangt.

Als der freisinnigste römische Kardinal gilt de Pietro; Papisten unter den Kardinälen sind vor allen Bilio, de Luca, de Angelis und Capalti.

Die Opposition scheint zu wachsen. Mehrere Anglo-Amerikaner sind zu ihr getreten. Die Norditaliener haben den Protest der Deutschen angenommen. Diese überhaupt, vereinigt mit den Ungarn, deren Bildung eben deutsch ist, vertreten auf dem Konzil die Vernunft. Sie machen daher Deutschland Ehre. Aber was wären sie wohl sonst, wenn ihnen nicht das Absurdum der Infallibilität zur Folie diente?

Die Belgier und die Engländer, vielleicht mit Ausnahme von MacHale, sind unisono mit den Jesuiten; die Franzosen teilen sich.

Die Adresse der Infallibilisten ist hervorgegangen aus einer Kommission von Manning, Deschamps, Senestrey von Regensburg, Martin von Paderborn, Mermillod von Genf, Canossa von Verona und anderen. Unterzeichnet haben sie 400.

Man sagte mir gestern, daß Daru eine Note hierher gesandt habe mit der Drohung, die französische Armee zurückzuziehen.

Es kam zu mir Dr. Schmidt, Direktor der Sternwarte in Athen, welcher das abschreckendste Bild vom griechischen Volk entwarf.

 

Rom, 10. März

Die Jesuitenpartei führt ihr Stück durch.

Am 23. Februar ist eine neue Geschäftsordnung erlassen, welche den Rest freier Diskussion beseitigt. Die Opposition hat ihre Waffen abgenutzt. Pichler brachte mir den Artikel, welcher das Schema de Papa krönt und mit baren Worten die Infallibilität ausspricht; dieser Artikel soll nun votiert, das heißt von der Majorität zum Dogma gemacht werden. Das Schema ist an die Bischöfe verteilt, welche ihre schriftlichen Bemerkungen innerhalb 14 Tagen einzureichen haben. Der Papst hat neuntägige Gebete in S. Maria Maggiore für die Durchführung des Dogmas angeordnet. Niemand zweifelt mehr, daß es geschieht; die französische und die österreichische Regierung haben Noten an den Vatikan geschickt; namentlich soll mit der Zurückziehung der französischen Truppen gedroht sein. Antonelli hat sie einfach ad referendum genommen.

Der Papst ist felsenfest überzeugt, daß er von Gott prädestiniert sei, das Dogma als Krone auf das Gebäude der Hierarchie zu setzen. Er hält sich für ein göttliches Instrument in der gestörten Weltordnung, für das Sprachrohr des heiligen Geistes.

Ich sah ihn gestern auf dem Corso zu Fuß einhergehen und betrachtete ihn genau. Er kam mir sehr fallibel vor, sein Gang wackelnd, seine Gesichtsfarbe fahl. Daß solche schon begrabene Menschen noch fortdauern müssen, die Welt zu verfinstern! Der Kardinal de Angelis begegnete ihm; beide große Auguren entblößten ihre Häupter, redeten miteinander. Als der Papst den Kardinal entließ, stand auf dessen Antlitz ein Glanz wie Reflex von Infallibilität und Nachfolge im Papsttum.

Die Aufregung ist groß, selbst unter den Römern. Der alte Graf F. sagte mir gestern: ich prophezeie Ihnen, daß drei Viertel Italiens sich vom Papsttum trennen werden. Das aber glaube ich nicht.

Pichler glaubt nicht an das Ausharren der Minorität oder nur der wenigsten Bischöfe, wie Stroßmayer. Die anderen würden sich unterwerfen.

Er reiste gestern nach Petersburg zurück. Kurz zuvor gab Paul Friedmann ihm zu Ehren ein Frühstück im Hotel di Roma, wo anwesend waren Odo Russell, der russische Agent Kapnist und Lord Acton, der Verfasser der Briefe über das Konzil, welcher mir sagte, daß er nächstens eine direkte Postverbindung nach München für sich einrichten werde.

Döllinger empfängt Adressen aus allen Teilen des katholischen Deutschlands, wo die Bewegung stark wird. Ich hoffe auf einen Ruck der Weltgeschichte nach vorwärts, in Folge dieser monströsen und letzten Grenze, welche das Papsttum erreicht.

Ich habe durch den deutschen Kurier abgeschickt Band IV, revidiert bis Bogen 20, und das Kapitel V vom Band VII.

 

Rom, 12. März

Am 9. große Soiree bei Frau Platner: viele Bischöfe, auch Mechitaristen und Orientalen mit langen Bärten, umringt von jungen Damen, wie Pyramiden von Efeu umschlungen. Ich lernte dort Stroßmayer kennen: ein Mann mit hoher klarer Denkerstirn. Haynald ist lebhafter Weltmann; Stroßmayer ruhig und fest; in seinen Augen liegt die Verschmitztheit des Slawen. Im Grunde halte ich den einen wie den anderen für echte Pfaffen, voll Ehrgeiz und Eitelkeit.

Es kam dorthin auch Ernst von Bunsen.

Gestern sah ich Hefele im Quirinal, wo er wohnt. Er ist ein Mann von angenehmem Äußeren, von blühender Gesundheit, so daß sie den deutschen Gelehrten nicht kundgibt, der über Büchern und Papier alt geworden ist. Da ich seine Zurückhaltung merkte, sprach ich nur von seiner Konziliengeschichte, die er nicht zum Tridentinum fortzuführen gedenkt, weil ihm fortan die Muße dazu fehlen wird.

Die Infallibilisten jubeln. Am 19., am Tag St. Joseph, so denken sie, wird das große Götzenbild erhoben werden.

Stroßmayer hat einen männlichen Brief an Gratry geschrieben, den die ›Allgemeine Zeitung‹ abdruckt, Montalembert einen Brief veröffentlicht, worin er sich von der Idolatrie der Ultramontanen lossagt. So geht denn auch solchen Leuten ein Licht im Dunkel auf.

Die Briefe Darus an Dupanloup bestätigen sich als echt.

 

Rom, 27. März

Die Definition der Infallibilität ist verschoben worden, und darin erblickt man die Wirkung von energischen Erklärungen Frankreichs und Österreichs. Das Benehmen der Staatsgewalten in bezug auf das Konzil ist ganz unrichtig gewesen; entweder mußte man dasselbe mit Geringschätzung behandeln oder es durch Bevollmächtigte überwachen. Dies jetzt zu tun, wo die Bischöfe in die Fesseln der Geschäftsordnung geschlagen und die Dinge bis zur Formel der Infallibilität vorgedrungen sind, ist unnütz, weil zu spät.

Pasquino hat folgendes Epigramm auf diese Infallibilität gemacht:

Quando Eva morse, e morder fece il pomo,
Gesù per salvar l'uom, si fece uomo;
Mà il Vicario di Crist, il Nono Pio,
Per render schiavo l'uom, si vuol far Dio.

Ich war öfter mit Stroßmayer und Haynald zusammen und vor einigen Tagen zum Diner bei Tauffkirchen mit mehreren französischen Bischöfen, darunter La Place von Marseille, Callot von Oran, Landriot von Reims. Die Gesellschaft dieses Winters wird ganz von Bischöfen beherrscht, die man in allen Salons findet – ein solcher Zustand ist in Rom seit langen Zeiten nicht gesehen worden. Trotzdem, daß katholische Bischöfe außerhalb der Familie stehen, zeigen sie doch mehr gesellige Gewandtheit als die protestantischen Geistlichen auch der höchsten Grade.

Es hat stürmische Sitzungen gegeben; einmal wurde auch der Kardinal Schwarzenberg durch die Glocke des Präsidenten Capalti zur Ordnung gerufen, aber er gehorchte nicht, sagend, daß er Kardinal sei und noch dazu Erzbischof und Primas.

Mit der Zeit stumpft sich der Anteil am Konzil ab, auch befestigt sich die Ansicht, daß auf die Definition der Infallibilität kein Schisma, sondern stupide Unterwerfung der Renitenten folgen werde. Es kam Hase aus Jena und Baron Reyher aus Konstantinopel, welcher sich als ein eingefleischter Absolutist zu erkennen gab.

Auch Tchicherine aus Moskau kam, der seiner Professur entsagt hat und in private Verhältnisse zurückgetreten ist.

Maltzahn, berühmt als Mekka-Pilger, schickte mir durch den General von Schweinitz sein Buch über Sardinien. Dasselbe hat mich von meinem früheren Wunsch, diese Insel zu sehen, geheilt. Maltzahn schildert sie als eine verpestete Fieberwüste, aber er hat wenig Sinn für landschaftliche Schönheit. Es ist auffallend, wie selten die Fähigkeit plastischer Darstellung angetroffen wird.

Die beiden letzten Kapitel des Bandes VII habe ich druckfertig gemacht und die Aufzählung der römischen Stadtgeschlechter nach den Regionen vervollständigt. So will ich in diesen Tagen meine Arbeiten zum letzten Bande wieder vornehmen und diese so weit fördern, daß mir nur eine leichte Winterarbeit übrig bleibt.

Für den jüngst verstorbenen Montalembert hatte dessen Schwager Merode Exequien in Araceli angeordnet, wo Dupanloup eine Rede halten sollte; die Jesuiten, erbittert über die letzten Absagebriefe jenes berühmten Mannes, hintertrieben dies, und der kleinliche Papst befahl, die Totenfeier abzustellen. Er selbst ging tags darauf um 9 Uhr nach S. Maria Traspontina, wo er ohne alle Vorbereitung eine Totenmesse für einen gewissen Signor Carlo zu rüsten befahl. Montalembert war bis zur letzten Zeit einer der eifrigsten Kämpfer für das Papsttum, aber kaum hatte er jene Briefe geschrieben, so vergaßen die Jesuiten alle seine Verdienste, und sie bewarfen den Sterbenden mit Kot. Es ist ein altes Wort, daß es keine undankbareren Menschen als die Priester gibt.

In der letzten Kongregation ging es so stürmisch her, daß ein amerikanischer Bischof erklärte, der Skandal im Konzil überbiete selbst die Tumulte amerikanischer Versammlungen. Stroßmayer verteidigte die Protestanten gegen die frechsten Angriffe, indem er sagte, daß es unter ihnen wahrhaft religiöse Männer gebe, auch hätten sich manche, wie Leibniz und Guizot, um die Kirche verdient gemacht. Er wurde durch einen Höllenlärm unterbrochen; man schrie: «tu es protestans, tu es haereticus, descendas». Man ballte die Fäuste gegen ihn wie auf der Räubersynode. Der Tumult war so stark, daß man ihn im St. Peter hören konnte. Am folgenden Tage empfing Stroßmayer viele Besuche, selbst von spanischen Bischöfen; auch Ketteler kam zu ihm und sagte ihm, daß nur seine Unfertigkeit im Lateinischen ihn verhindert habe, für ihn aufzutreten. Stroßmayer ist der Held des Konzils. Wenn er nicht an Österreich einen Rückhalt hätte, würde man ihn hier wohl schon festgesetzt haben wie zwei armenische Bischöfe, die im Palast der Inquisition gefangen sitzen.

Am Sonntag hörte ich Hefele in der Anima predigen; er hat einen ruhigen, gebildeten Vortrag. Eine exaltierte Dame verglich ihn auf seiner Kanzel mit einem Lenker auf der Biga, der seiner Gedankenrosse mächtig ist, aber zu erkennen gibt, daß er sie könnte dahinrasen lassen, wenn er es wollte. Ob dieser Mann aber überhaupt Gedankenrosse besitzt? Er verglich unser Leben mit dem Passahfest der Juden, welche, mit dem Ranzen und den Stab in der Hand, ihr Freudenmahl hastig einnehmen und dann weiterziehen. Den Vergleich hat bereits Chateaubriand in seiner ›Reise in Amerika‹ schön ausgesprochen. Ich ging auf der Navona umher, mein eignes Leben überblickend. Der Platz wird umgebaut. Der Markt soll von dort nach Campo di Fiore verlegt werden.

Am 28. März verweigerte man mir gewisse Handschriften auf der Vaticana; dort ist nämlich ein Jesuit, Pater Bollig, als Scriptor eingedrungen; ich sah sein boshaftes Lächeln und erkannte daraus, welche Stunde für mich geschlagen habe. Wahrscheinlich bin ich zum letztenmal auf der Vaticana gewesen, doch auch ich kann lächeln, denn mein Werk ist fast fertig geworden. Monsignor Martinucci war unhöflich und grob. Ich kehrte ihm den Rücken und ging davon.

 

Rom, 14. April

Ich habe die Nachträge zum letzten Bande in den Bibliotheken begonnen. Von meinem Prinzip, mich der Gesellschaften zu enthalten, mußte ich leider abgehen, was mir schlecht bekam.

Es kam Ulrici aus Halle, der bekannte Kenner Shakespeares, und mit ihm aß ich einmal bei Lord Acton. Er ist ein bejahrter Mann, professorlicher Erscheinung. Nach dem Diner verteidigte ich aus Satire die Infallibilität des Papsts und brachte auch die Gesellschaft dahin, daß sie aus historischen Prämissen die Logik dieses Absurdums anerkennen mußte. Bei Acton lebt noch rüstig seine Großmutter, einst die Gemahlin des Ministers Acton aus der Zeit Karls III. und Ferdinands von Neapel.

Heute ist eine Generalsitzung des Konzils, worin das Prooemium de fide und vier Glaubensartikel proklamiert werden.

Banneville kam mit einer würdevoll und kräftig gehaltenen Note Frankreichs zurück, welche er dem Papst überreichte, und diese ist von den Gesandten der Mächte in corpore unterstützt worden, also der erste Schritt der Zivilgewalt in Angelegenheiten des Konzils.

Der Selbstmord Jaffés, der sich in Wittenberg erschoß, hat mich tief erschüttert. Die Ursache ist mir noch dunkel. Vielleicht genügte seinem Geist die bloß kritische Forschung und das Sammeln von Material nicht, während ihm die Natur das versagt hatte, was den Geschichtsforscher macht, die Phantasie, welche Kunstwerke erzeugt. Seine Leistungen als Forscher sichern Jaffé die Fortdauer in den Bibliotheken.

 

Rom, 1. Mai

Die Überreichung der Note Darus hat nur diese Wirkung hervorgebracht, daß die Präsidenten des Konzils den Vätern das Schema de ecclesia zugeschickt haben, worin der Artikel der Infallibilität zur Sprache kommt. Zunächst berät man über den kleinen Katechismus; jenes Dogma selbst soll nach 14 Tagen an die Reihe kommen. Der Papst ist entschlossen, diese Herausforderung der Welt ins Gesicht zu schleudern und als ein infallibiles Wesen zu sterben. Die Bischöfe der Minorität sind außer sich; sie sandten eine Deputation in den Vatikan. Aber diese ward nicht angenommen.

Die Stadt leert sich, die große Hegira hat begonnen, und so kehren wir Bleibende wieder zu uns selbst zurück.

 

Rom, 15. Mai

Vor acht Tagen empfing ich Schlözer auf der Eisenbahn. Er kam von Mexiko, seine Freunde wiederzusehen, und blieb hier ein paar Wochen. Er war berauscht von Entzücken, sich in Rom wiederzufinden. Er ist begeistert von der Machtentwicklung Deutschlands auch jenseits des Ozeans, wo der Großhandel in den Händen der Deutschen sei.

Am 5. Mai machte ich eine Vergnügungsfahrt mit 11, sage elf englischen und amerikanischen Damen, nach Castel Fusano. Obwohl ich ungern mitgegangen war, erheiterte mich doch die große Natur, und auch die Gesellschaft war angenehm. Mistress Fellmann und ihre Nichte Ada sangen italienische Volkslieder zur Guitarre. Immer neue Menschen und neue Bilder auf alten Szenen.

Gestern kam die Fürstin Carolath durchreisend nach Florenz. Sie sprach viel über Reumont, den sie treffend und scharf charakterisierte.

Der Druck des Bandes VII schreitet vor; ich fürchte den Index, welcher mir, meiner Arbeiten zum letzten Bande wegen, sehr unbequem werden könnte und will Cotta vorschlagen, Band VII um einige Monate zurückzuhalten.

Vorgestern kam die Infallibilität zum erstenmal in der Kongregation zur Besprechung. Ihre Vorlage soll von der Majorität mit ungeheurem Jubel begrüßt worden sein. Haynald, dem ich im Corso begegnete, hielt mich fest und sagte mir, daß er eben 22 Franzosen und andere Bischöfe für einen förmlichen Protest gewonnen habe; denn mit solchem wolle man jetzt auftreten, aber er sagte nichts Näheres.

Antonelli hat die Noten Österreichs und Frankreichs mit diplomatischen Phrasen beantwortet, aus denen doch das ganze krasse Selbstbewußtsein der Omnipotenz des Papsttums hervorblickt. Die Jesuiten werden quand même ihr Stück durchsetzen und so die kolossalste aller Lügen in der Welt als Dogma aufrichten. Aus dieser Lüge wird ein ganzes unabsehbares Gewebe andrer Lügen und Heucheleien hervorgehen. Dem deutschen Geist wird dadurch nochmals die Aufgabe gestellt, die Welt vom römischen Betrug zu befreien.

 

Rom, 29. Mai

Am 21. war ich mit Lindemann und Dr. Rühl nach Bracciano gefahren, um den See und das alte Schloß der Orsini kennenzulernen.

Rühl reiste vorgestern nach Deutschland zurück, wo er bei einer reichen Familie eine Stellung als Erzieher angenommen hat. Er ist ein junger Mann von vielem Wissen im Fach der Philologie und Geschichte. Er wird das Register meiner ›Geschichte‹ ausarbeiten.

Die Debatten über das Absurdum dauern im Konzil fort. Der Primas von Ungarn und Darbois sollen gut geredet haben. Noch viele Redner von den 82 eingeschriebenen haben sich hören zu lassen, ehe die Diskussion erschöpft wird. Man beginnt von Vertagung des Konzils zu sprechen, aber andere behaupten, sie werde nicht stattfinden, weil es Taktik sei, die Opposition in der Hitze abschmelzen zu lassen und dann den Handstreich durchzuführen. Die Minorität soll heute auf 120 Stimmen zählen können. Doch was bedeutet sie? Unter ihr gibt es wohl nur wenige, welche, wie etwa Hefele und Stroßmayer, die Infallibilität aus rationellen Gründen bekämpfen; die meisten tun es wegen ihrer bischöflichen Stellung, weil sie die Rechte des Episkopats nicht dem Papst abgeben wollen. Die meisten sind Römlinge und haben hundertmal dem Papst Adressen des Gehorsams geschickt und ihm erklärt, daß er ihr Gebieter, das alleinige Haupt der Kirche sei, von dem diese ihr Licht und ihre Leitung empfange, daß sie glauben, was er glaubt, und verfluchen, was er verflucht.

Diese Monsignoren, welche plötzlich in den Geruch der Liberalität gekommen sind, weil sie eine Lächerlichkeit bekämpfen, lehren und glauben Dogmen, die noch lächerlicher und absurder sind. Schlözer hält Haynald für einen eiteln Schwätzer.

In Frankreich ist eine Broschüre erschienen: ›Ce qui se passe au concile‹; sie soll unter Direktion Marets entstanden sein – sie ist in Döllingers Sinne und sehr gut.

Die Noten der Regierungen an den Heiligen Stuhl sind nach und nach veröffentlicht worden, zuletzt die von Preußen, welche gut abgefaßt ist. Der spanische Diplomat Ximenez erklärte letzthin im Ernst, daß der Papst wirklich verrückt sei. Dies ist wahrscheinlich; die Vergötterung, die er erfahren hat, ist ihm zu Kopf gestiegen. Dazu kommt sein langes Pontifikat, welches ihm die Ansicht beibringt, daß er ein prädestiniertes Werkzeug Gottes sei. Ich sah ihn vor einigen Tagen in der Villa Borghese zu Fuße; er sah ganz verklärt und durchleuchtet aus, wie ein in Öl getränktes Transparent. Zuaven stürzten vor diesem wackelnden Halbgott in den Staub, seine Hände zu küssen; die Nobelgarden mußten ihm den Weg freihalten; als er endlich in die Karosse stieg, schrien Fanatiker: » Evviva Pio Nono Infallibile

Gestern fuhr Schlözer nach Deutschland zurück, um dann nach Mexiko zurückzukehren, wo er noch einige Jahre zu bleiben gedenkt. Er nahm das Manuskript des letzten Kapitels meines Bandes VII mit sich.

Alle Freunde haben Rom verlassen.

 

Rom, 7. Juni

Am Pfingstsonntage (vorgestern) war ich mit beiden Tallenay, Lindemann und Ximenes erst nach Frascati und dann nach Rocca di Papa gefahren. Leider regnete es fast immer.

Unterdeß hat die Inszenierung der Infallibilität einen Schritt vorwärts gemacht. Die Reden der Minorität brachten eine große Wirkung hervor; es sprachen Stattler, Darbois und Stroßmayer, welcher alles, selbst die Infallibilisten, hinriß. Diese hatten den Grundsatz angenommen, ihre Gegner sich totreden zu lassen; sie antworteten nicht; denn welche Gründe konnten sie entgegenstellen? So sollte sich diese Diskussion gegen eine stumme Wand noch lange hinziehen, als vor vier Tagen plötzlich die Legaten des Konzils die Rede Marets mit der Erklärung unterbrachen, daß die Diskussion beendigt sei. Nach der neuen Geschäftsordnung war dies ein Recht der Legaten. Die Minorität setzte sofort einen Protest auf, den man wird ad acta gelegt haben.

Was Veuillot und Margotti längst verkündigt haben, daß die unverzügliche Definition des Dogmas notwendig sei, wird nun trotz aller Noten der Kabinette geschehen. Man glaubt, daß die Abstimmung am 16. Juni, dem Wahltage des Papsts, vor sich gehen werde; an diesem wird man ihm die Infallibilität zum Geschenk bringen, am Fest St. Peter und Paul das Dogma selbst verkündigen.

Ich will so lange in Rom bleiben; denn solche schöne Sachen sieht man ja nur einmal im Leben.

Viele glauben im Ernst, daß der Papst verrückt sei. Er hat mit Fanatismus bei diesen Dingen Partei genommen und Stimmen für seine Vergötterung selbst geworben.

Ich denke, wir erleben noch Wichtiges, ehe dieses Jahr zu Ende geht.

Man spricht von einer neuen Note Frankreichs und der Erklärung, daß nach der Dogmatisierung der Infallibilität das Konkordat erloschen sei, die Kirche vom Staat getrennt, die Okkupationsarmee zurückberufen werden solle.

 

Rom, 19. Juni

Haynald ist mutlos geworden. Er sagte mir, daß die Opposition, welche beim letzten Protest 137 Stimmen betrug, auf 80 zusammengegangen sei. Er rechne überhaupt, daß nur 60 bleiben werden. Ich lächelte, denn auch diese Zahl ist zu groß. Haynald sagte, daß in ihren Zusammenkünften absichtlich von dem, was man nach dem Dogma zu tun habe, noch nicht die Rede gewesen sei, weil diese Frage wie eine Bombe unter die Minorität fallen würde. Natürlich; denn nicht zwei oder drei werden sich finden, welche ihre werte Person einsetzen wollen.

Der Papst nimmt die wichtigste Frage der Kirchenverfassung durchaus persönlich. Er richtet Briefe an den niederen Klerus, den er gegen die Bischöfe aufreizt. Da er zum Bischof aller Bischöfe erklärt werden soll, so wird er schon dadurch den Klerus für sich haben, welcher sich gern vom Episkopat emanzipieren läßt. So soll der gründlichste Despotismus in der Kirche eingeführt werden. Der Papst hat vor kurzem seine Infallibilität probieren wollen, wie die Franzosen ihre neuen Chassepots; auf einem Spaziergange hat er einem Paralytischen zugerufen: erhebe dich und wandle. Der arme Teufel versuchte es und stürzte zusammen. Dies hat den Vizegott sehr verstimmt. Die Anekdote wird bereits in Zeitungen besprochen. Ich glaube wirklich, daß er verrückt ist.

Theiner ist plötzlich abgesetzt worden und an seiner Stelle Cardoni zum Archivar ernannt. Man ließ ihm zwar die Schlüssel, als er aber eines Morgens das Archiv öffnen wollte, fand er das Schloß verändert. Dies ist echt römisch. Der Papst ließ Theiner rufen. Er überhäufte ihn mit Vorwürfen der Untreue, daß er Stroßmayer Dokumente über das Tridentinum gegeben und sogar Lord Acton in das geheime Archiv eingelassen habe. Er war so heftig, daß er zitterte; Theiner selbst sagte ihm: »Heiliger Vater, beruhigen Sie sich, es könnte Sie der Schlag rühren«.

Nun hat Theiner für alle seine im Archiv zusammengetragenen Bände über die Rechte auf das Dominium Petri den Lohn empfangen.

Der Fanatismus ist grenzenlos. Wir haben das Gefühl der Sicherheit verloren, und nach 18 Jahren meines Lebens in Rom fühle ich mich hier fremder als am ersten Tage. Die Luft ist moralisch vergiftet; mich ekelt vor dem Anblick dieses Götzendienstes, dieser alten und neuen Idole und dieses ewigen Zustandes von Lüge, Heuchelei und krassestem Aberglauben. Ich könnte an der Menschheit verzweifeln, nicht um der Priester willen, die doch ihr Handwerk forttreiben müssen, aber wegen ihrer Knechte.

Lord Acton ist abgereist.

Der Kardinal Guidi hat sich plötzlich gegen die Infallibilität ausgesprochen, worüber die Majorität entrüstet, die Minorität voll Jubel war. Der Papst machte ihm bittere Vorwürfe. Die Sache schien wieder ins Schwanken zu kommen; doch gestern sagte Haynald, daß man trotz alledem vorgehe. Man erwartet die Definition des Dogmas etwa um den 25. Juli. Die Bischöfe schmachten bei der großen Hitze nach der Abreise, aber keiner von ihnen erhält Pässe, auch nur nach Neapel zu gehen.

Ich habe meine Arbeiten geschlossen und reise morgen ab nach Arezzo und Florenz. Mit Trauer nahm ich in diesen Tagen Abschied von dem sommerlichen Rom, da mir ahnt, daß ich keine Sommerzeit mehr hier werde zubringen dürfen.

Nachmittag. Eben kam Haynald zu mir, im Begriff, in die internationale Versammlung der Bischöfe zu gehen, wo er versucht, noch einige der Redner zum Verzicht auf das Reden zu bringen. Sie alle hatten diesen, wie er sagt, gegeben, nur sechs Franzosen seien nicht dazu zu bewegen, namentlich Dupanloup. Haynald meinte, daß innerhalb zehn Tagen das Ganze beendigt sein werde, es sei denn der Papst stürbe zuvor. Eben hatte er ein Billett von Stroßmayer erhalten, welcher ihm mitteilt, der Papst fühle sich unwohl; doch habe ihn gestern ein Ungar im besten Wohlsein angetroffen. Haynald klagte bitter über den Leichtsinn des Papsts, der einst der Abgott aller Menschen gewesen sei und zu dem die Bischöfe alle so treu und fest gestanden; nun erfolge ein innerlicher Abfall am Ende seines Lebens. Er sagte mir in der Aufregung: »Ich werde meine bischöfliche Würde niederlegen, die Botanisierkapsel über die Schulter hängen und wieder Naturforscher sein.« Wir wollen das abwarten. Haynald ist der reichste Prälat in Ungarn und gewöhnt an großen Stil des Lebens, an Huldigungen und Ehren. Ein schöner, sanfter, wohlredender Mann von sinnlicher Wärme und Attraktion.

Mir ahnt, daß während meiner Abwesenheit von Rom Ereignisse eintreten werden, die ich gerne hier erlebt hätte.

 

Florenz, 10. Juli Fontana

Am 4. Juli abgereist nach Arezzo, wo ich abends ankam und den folgenden Tag verlor, da mich die heftigste Kolik überfiel, gleich jener vorigen Jahrs in Siena. Auch Fieber zeigte sich. Ich konnte Arezzo kaum durchschleichen. Dieser heftige Anfall war die Befreiung von innerer Entzündung infolge der großen Hitze, und seither fühlte ich mich wohler.

Ich langte am 5. in Florenz an; am 6. begann ich meine Arbeiten im Archiv. Diese schloß ich gestern. Bonaini war abwesend; Uccelli fand ich tot, Cesare Guasti an seinem Platz. Sabatiers waren fortgereist; nur Amari traf ich, aber im Begriff, an die Bocca di Pisa in die Bäder zu gehen. Ich fand hier niemand vor, als Theodor Heyse und Fournier von der Gesandtschaft. Die Hitze ist kaum erträglich.

So viel ich wahrnahm, herrscht hier vollkommenste Gleichgültigkeit wegen des Konzils. Die Infallibilität bekümmert hier niemand. Man vergnügt sich mit Karikaturen. Ich sagte darüber Canestrini, daß es diese kirchliche Gleichgültigkeit der Italiener sei, welche das Papsttum in seinem Wahnsinn unterstützt.

Seit einigen Tagen ist die Frage der spanischen Thronkandidatur Hohenzollerns als Gewitter am Horizont aufgestiegen. Sollte diese Veranlassung den Krieg herbeiführen und den viel verschlungenen Knoten europäischer Wirrsale auflösen helfen? Die italienische Presse ist in ihrer Ansicht geteilt, doch wittert man wieder eine Gelegenheit, Napoleon in die Zwickmühle zu setzen.

Ich habe das Grab Paulinens einige Male besucht. Der Kirchhof bleibt in der erweiterten Stadt stehen, als Garten, mit einem eisernen Gitter umschlossen.

 

München, Glückstraße, 24. Juli

Die Aufregung, in welche die Kriegserklärung das Vaterland versetzt hat, verschlingt alles Persönliche. Doch will ich kurz meine Stationen verzeichnen.

In Modena fand ich kaum etwas für meine Zwecke; am 11. ging ich nach Ferrara, wo ich nächtigte; von dort über Verona nach Innsbruck. München erreichte ich am 13.

Kaum war ich in München, so begann der Kriegslärm von neuem, und das Unerhörte ward Ereignis. Wie ein Mann erhob sich ganz Deutschland; Bayern, Württemberg, Baden anerkannten den casus foederis. Der Kampf in der bayerischen Kammer war heiß, aber der Sieg blieb den Deutschgesinnten. Mit 117 Stimmen gegen 47 wurden die Vorlagen der Regierung angenommen. Patriotische Kundgebungen des Volks vor dem König. Die Partei der Dunkelmänner und Preußenfeinde wurde wie durch Zauber überwältigt.

Der Geist von 1813 erwacht. Ein Enthusiasmus wie in der Väter Tagen.

Am 16. Juli führte der Bruder seine Batterien nach Graudenz zurück, dort mobilzumachen. Seine Bestimmung, ob zur Rheinarmee oder an die Küsten, kennt er noch nicht.

Ich habe keinen Sinn für die Arbeit, obwohl ich täglich zur Bibliothek gehe. Noch vor dem Schlunde der Kanonen druckte Cotta Band VII und IV fertig.

Ich sah alte Freunde wieder, Kaulbach, wo ich mit Döllinger zu Tische war, Jochmus, Schack, Willers. Riehl traf ich bei Giesebrecht.

Vorgestern kam Frau von Tallenay. Ich sah mit ihr den letzten Akt der ›Walküre‹.

Gervinus schrieb. Er bleibt in Heidelberg. Gräfe ist tot!

Der Kronprinz von Preußen soll morgen hier eintreffen, um die Südarmee zu kommandieren.

 

München, 29. Juli

Ich sah den Einzug des Kronprinzen, vorgestern 11 Uhr. Die tatsächliche Versöhnung zwischen Nord- und Süddeutschland, die tatsächliche Einigung des Vaterlandes ist da. Der Kronprinz fuhr unter endlosem Jubel des Volks neben dem jungen König zur Residenz.

Abends kamen sie ins Theater, wo ›Wallensteins Lager‹ gegeben wurde. Enthusiastischer Jubel überall.

In der Frühe 3 Uhr setzte der Kronprinz seine Reise nach Stuttgart fort.

Die Enthüllungen der Anträge Napoleons an Preußen gleich nach 1866 und auch in der Gegenwart haben dessen Politik förmlich entlarvt. Bismarck hat ihn wie einen Marsyas geschunden.

Die Mobilmachung ist vollendet. Wir haben, so scheint es, einen Vorsprung vor dem Feinde. Die patriotische Erhebung Deutschlands, seine Waffenstärke und schnelle Kriegsbereitschaft ist ein staunenswürdiges Schauspiel ohnegleichen.

 

München, 31. Juli

Vorgestern fuhr ich mit Dr. Erhardt und Frau über Augsburg nach dem Lechfelde, die noch dort liegenden bayerischen Regimenter zu sehen.

Der Oberst eines derselben kam mit seinem Adjutanten zu Pferde an und wurde mit Musik und Hurra empfangen. Wir hatten eine Lagerszene wie im ›Wallenstein‹. Kräftige Leute, ruhig und ernst. Einige Soldaten saßen auf Holzbänken und schrieben Briefe mit Bleistift.

Man exerzierte vor dem Lager. Eine weite ebene Landschaft ringsum, aus der Kirchdörfer und Baumgruppen hervorsehen. Ein prachtvolles Gewitter verdunkelte den Himmel. Wir sahen auf dem Grunde dieses Gewölks einen großen Eisenbahnzug mit zwei Dampfmaschinen, gefüllt von Militär, vorüberfahren – was ein imposantes Schauspiel war.

Gestern gab einer der Sängervereine Münchens eine Vorstellung im National-Café zum Besten der Verwundeten. Man sang patriotische Lieder. Arndts ›Vaterland‹ erregte noch jubelnden Enthusiasmus.

Dort sprach ich den General von der Tann, der erst morgen mit dem Stabe nach der Pfalz abgeht. Wunderlicherweise wollte er nur vom Konzil in Rom hören.

Auch Mohl, der badische Gesandte, kam an unseren Tisch. Er sagte, daß der König Wilhelm schon ins Hauptquartier nach Frankfurt gegangen sei, während der Kronprinz das seine in Speyer habe. Die Pfalz sei gefüllt auch von preußischem Militär; dort stehe ein Teil der Garde.

Den Beginn des Kampfes erwarten wir stündlich, und wie werden die Franzosen angreifen?

Ganz Deutschland flammt von Begeisterung. Es sind erhebende Zeiten. Die Opferwilligkeit ist groß. Nirgend Prahlerei. Wenn die Truppen hier abziehen, geschieht es ohne Vivatruf, mit furchtbarem Ernst. Man berechnet unsere Macht am Rhein auf 550 000 Mann; die der Franzosen nur auf 300 000. Rüstow hat mir das vorhergesagt. Keine Briefe vom Bruder.

Am 29. sah ich den letzten Bogen von Band IV durch auf der Eisenbahn und warf ihn in Augsburg in den Kasten.

 

München, Glückstraße 1b, 6. August

Gestern in der Frühe brachten Anschläge die erste Siegesnachricht. Der Kronprinz hat Weißenburg erobert und 800 Gefangene gemacht.

Ich fuhr mit Erhardts nach Starnberg in die Villa Angelo Knorr, wo wir ein solennes Freudenmahl einnahmen.

Unsere Armeen gehen vor in Feindesland, und dort, nicht in deutschen Gauen, wird die Schlacht der großen Katastrophe geschlagen werden.

Ganz Deutschland steht wie ein Mann gegen Frankreich; es war nie so stark, weil niemals so einig wie jetzt. Es herrscht eine gehobene, siegeszuversichtliche Stimmung.

Italien bleibt neutral. Die Franzosen schiffen sich in Civitavecchia ein, und Rom wird fallen, sobald Napoleon gestürzt ist. Ich kann nichts arbeiten. Vom Bruder keine Briefe.

 

München, 8. August

Am 6. abends war ich im »Goldnen Bären« mit einer zahlreichen Gesellschaft. Ein Adjutant trat herein und verlas eine Depesche vom Kriegsministerium: »Siegreiche Schlacht bei Wörth. MacMahon mit dem größten Teile seiner Armee vollständig geschlagen. Die Franzosen auf Bitsch zurückgeworfen. Auf dem Schlachtfelde bei Wörth 4 ½ Uhr nachmittags. Friedrich Wilhelm, Kronprinz.«

Schack kam am Morgen und stürzte mir in die Arme, so auch Erhardt. Dr. Thomas kam. Bald neue Meldung von der Schlacht; 2 Adler, 6 Mitrailleusen, 30 Kanonen, 4000 Gefangene. Neue Meldung von dem Siege über Frossard bei Forbach.

Gestern abends kamen französische Gefangene. Eine zahllose Menschenmenge erwartete sie. Man reichte ihnen gutmütig Lebensmittel, Zigarren, selbst Geld.

Unsere Heere ziehen gegen Metz, wo vielleicht in diesem Augenblick eine große Schlacht geschlagen wird.

Die ›Kölnische Zeitung‹ gibt eine Berechnung der Streitkräfte auf beiden Seiten. Danach zählt der Norddeutsche Bund allein 994 000 Mann, und mit dem Süden sind es 1 Million 120 000 streitbare Männer. Dagegen hat Napoleon nur einen Effektivbestand von 400 000 Mann und hinter sich nichts als die untüchtigen Mobilgarden. Kannte er seine Streitkräfte nicht? Wenn dies, so ist es eine Verblendung, die dem Wahnsinn gleicht. Auch wenn sich der Landsturm von ganz Frankreich erhebt, ist er machtlos gegen die disziplinierten Legionen Deutschlands, ihre Waffen und ihre vernichtende Taktik.

Der verzweifelte Spieler setzt sich und die Ehre Frankreichs auf die letzte Karte, die er verliert. Vielleicht heute schon ist die Schlacht vor Metz geschlagen. Vor Paris, so hoffe ich, diktieren wir den Frieden, und dann wird der deutsche Kaiser sagen, was eine Wahrheit ist: L'empire allemand c'est la paix!

Massenhafte Verwundete von unserem Heer. Heute telegraphierte der Oberbürgermeister von Karlsruhe, daß die Not an Lebensmitteln dort groß sei. Auch München schickt diese und anderes.

Heute ging Dr. Erhardt mit Ärzten nach Karlsruhe ab.

Vom Bruder gestern Nachricht. Er war am 4. August in Kassel. Seine Direktion wußte er noch nicht.

Ich lernte heute Oskar von Redwitz kennen, der mir sein Gelegenheitsgedicht ›Napoleon‹ mit wichtiger Miene schenkte.

Ich bin beschämt über meine Tatlosigkeit und daß ich hier nur als Zeitungsleser vegetiere. Aber wo darf ich nützlich sein? Was ist heute Schrift und Wort? Die Tat überflügelt sie. Frankreich taumelt wie ein Stier, auf dessen Stirn der Schlag eines Riesen fiel.

 

München, 10. August

Die französische Regierung ist ratlos. Nie zeigte sich eine große Nation in so tiefer moralischer Auflösung. Man traut seinen Sinnen nicht. Nach dieser himmelstürmenden Großprahlerei welch ein klägliches Ende! Man spricht von einer Revolution in Paris – sie ist wahrscheinlich. Die deutschen Heere rücken auf Metz, wo Bazaine die letzte Armee Frankreichs aufstellt. Stündlich erwarten wir die Kunde der Entscheidungsschlacht.

Für die ›Allgemeine Zeitung‹ schrieb ich den Artikel ›Nemesis‹.

Diese Spanne Zeit mit ihren weltgeschichtlichen Ereignissen ist ein Extrablatt der Weltgeschichte. Dann wird Rom an die Reihe kommen, die Erlösung der Menschheit von dem zweiten Inkubus des Größenwahnsinns vollständig zu machen.

Heute sah ich einen Zug von 800 französischen Gefangenen auf dem Bahnhof; sie gingen nach Ingolstadt. Es waren Soldaten jeder Waffe, doch nur wenige Turcos. Sie füllten etwa 30 Waggons; alle lagen sie in den Fenstern. Einige sahen munter aus. Ich sprach mit Franzosen und Korsen. Sie fuhren in Waggons dritter Klasse; drinnen und draußen Eskorte mit geladenem Gewehr. Nur einen Offizier sah ich. Die übrigen, etwa zwanzig, hielten sich verborgen. Man sagte mir, sie säßen auf dem Boden der Waggons, um sich nicht sehen zu lassen. So vergeht alle Größe in der Welt. Ich gedachte meiner französischen Freunde, zumal Ampères, der glücklich ist, weil tot.

Viele Menschen, aus dem Volk, gingen an den Waggons hin und reichten den Gefangenen Lebensmittel und Zigarren. Ich sah eine Frau, einen großen Korb am Arm, aus welchem sie unermüdlich hin- und hergehend Brote jenen hinaufreichte. Einer der Gefangenen wischte sich die Augen. Viele Verwundete kamen. Königliche Wagen holten sie in die Spitäler, schrittweise fahrend. Ein Verwundeter starb, da sein Wagen stille hielt.

Wir haben 4000 Mann bei Wörth verloren. Von dem Bruder noch keine Nachricht. Band IV 2. Auflage kam fertig gedruckt. Ich arbeite nichts in diesen Tagen.

 

München, 15. August

Der Bruder schrieb am 15. August aus Tholey, ein paar Stunden von Saarlouis, wo er mit seinen Batterien angelangt war. Eine derselben war am 6. im Feuer bei Saarbrücken.

Heute weiß ich ihn im Gefecht vor Metz. Denn eben wird eine Depesche ausgegeben:

»Berlin, 15. August 10 Uhr 5 Minuten. Der König an die Königin. Siegreiches Gefecht vor Metz durch Truppen des 1. und 7. Armeekorps. Details fehlen. Ich begebe mich auf das Schlachtfeld.«

Der Bruder steht im 1. Armeekorps unter Steinmetz. Während ich das schreibe, ist er vielleicht im Kampf.

Preußische Kavallerie steht in Nancy.

Die Franzosen verzweifeln. »Wir sind verloren«, so las man in einem Briefe eines französischen Hauptmanns. »Wir können nicht siegen; der Ungestüm der Preußen ist zu groß.«

Es ist ein Lavastrom, der in Frankreich hineinbricht. Er zermalmt diese einst stolzesten Heere der Welt. Begeisterung für eine hohe Idee, Bewußtsein der großen Zukunft, Waffenglück, praktische Intelligenz und Regulierung des Willens durch den kategorischen Imperativ Kants: alles dies vereinigt sich, um Deutschland unwiderstehlich zu machen.

Das Ministerium Ollivier stürzte, und Palikao tritt an dessen Stelle. Bazaine, der Mörder Maximilians, führt den Oberbefehl des demoralisierten Heeres.

Gestern führte man zwei eroberte Kanonen mit Jubelgeschrei durch die Straßen – ich war gerade zu Tisch bei Kaulbach mit Graf Moy. Die Geschütze stehen vor dem königlichen Schloß. Es sind Zwölfpfünder, aus der Fabrik von Toulouse. Sie tragen Namen; das eine heißt Nestor, das andere bedeutungsvoll le Naufrage.

Gestern kam Dr. Erhardt vom Kriegsschauplatz zurück. Er war bis Hagenau und Richthofen gegangen. Den Zug Verwundeter ließ er in Augsburg zurück.

In Rom scheint Arnim dem Papst Versprechungen gemacht zu haben. Bismarck ergreift die Situation, um die Ultramontanen in Deutschland und den Klerus in Frankreich zu gewinnen, indem er die Miene annimmt, den von Napoleon preisgegebenen Papst zu schützen. Ich hoffe, daß man in Berlin nicht in diese Schlinge fallen wird, die Napoleon gelegt worden war und die er jetzt Preußen als eine perfide Erbschaft zurückläßt.

Wäre der Krieg abgetan! Blutarbeit, sei sie noch so heroisch, ist eine Schande für unsere Zivilisation.

Gestern besuchte ich Liebig. Eine hohe Gestalt mit schönen, klaren, bedeutenden Gesichtszügen: es spricht daraus Vollendung des Lebens auf sicherstem Grunde. Wir fanden ihn im Gartenhause mit seiner Frau. Er war noch leidend, nach kaum überstandener Krankheit. In Berchtesgaden ließ ihn die Aufregung der Zeit nicht bleiben. Auch er hofft auf Elsaß und Lothringen.

Von Döllinger meinte er, daß er sich unterwerfen werde. Graf Moy bestritt diese Ansicht.

 

München, 20.

August Heute erhielt ich eine Korrespondenzkarte vom Bruder dieses Inhalts:

»Gestern ein großes Gefecht, eine Schlacht zu nennen, vor Metz gehabt. Bin tüchtig im Feuer gewesen, aber unversehrt herausgekommen. Auch im übrigen wohl und voll Vertrauen auf die Zukunft.

Bis zur Stunde habe ich weder von Dir noch aus der Heimat irgend eine Nachricht erhalten.

Bivouak Courcelles, den 15. August 1870.«

Um Metz werden Schlachten geliefert wie einst um Leipzig. Nach den Gefechten vom 14. folgten die vom 16. und endlich die große Schlacht vom 18. August; die Armee Bazaines wurde in die Festung zurückgeworfen und von ihrer Verbindung mit Paris abgeschnitten.

Zugleich rückt die Südarmee unter dem Kronprinzen auf Chalons, wo sich Napoleon hingezogen hat. Nur ein Teil der zertrümmerten Armee, meist Mobilgarden, stehen dort, unfähig, Widerstand zu leisten.

In Paris gärt es. Hiobspost folgt der Hiobspost. Vier preußische Ulanen nahmen die Stadt Nancy ein – dies ist Tatsache. Man verschwieg sie der Kammer; als sie offenbar wurde, folgte die stürmische Szene vom 14. Gambetta rief der Rechten die fürchterlichen Worte zu: »Schweigen Sie! Im Angesicht des Jammers von Frankreich geziemt Ihnen nur das eine: Schweigen und Gewissensbisse!«

Die Regierung Napoleons hat tatsächlich aufgehört. Sein Lügensystem stürzt zusammen. Im glücklichsten Fall erreicht er noch als Flüchtling Belgien und von dort England.

Am 19. August morgens hat man von Kehl aus die Beschießung Straßburgs begonnen.

 

München, 2. September

Gestern flaggte die Stadt zum erstenmal. Es war die Siegesdepesche von Beaumont gekommen; MacMahon, zum Entsatz von Metz gerückt, geschlagen und nach Sedan geworfen, wird dort, wie Bazaine, eingeschlossen und zur Kapitulation genötigt werden. Die Diplomaten rühren sich; sie kommen mit ihren Taschenspielerkünsten, dem deutschen Volke die Früchte seiner Siege zu stehlen wie Anno 1815. Schon regt sich der Unwille in vielen Städten. Eine Volksversammlung in Berlin erließ eine Adresse an den König Wilhelm; von hier aus ging eine ähnliche an den König Ludwig, fordernd: Ablehnung jeder fremden Einmischung in unsere Nationalsache, deutsches Parlament, Rücknahme von Elsaß und Lothringen.

Straßburg brennt. Das herrliche Münster soll stark beschädigt sein. Ich schickte gestern an die ›Allgemeine Zeitung‹ ein Gedicht: ›Straßburg‹ betitelt.

Der Bruder schrieb zweimal, am 21. August und 26. August aus Sainte Barbe vor Metz. Dort steht er im Belagerungskorps. Die Feldpost geht ihren regelmäßigen Gang.

Dr. Erhardt reiste nach dem Kriegsschauplatz ab, als Chef eines Sanitätszugs. Mehrmals bei Döllinger zu Tisch und Kaffee, wo auch Lord Acton war. Giesebrecht ist abgereist.

Graf Tauffkirchen kam vom Kriegsschauplatz und ging als Präfekt nach Bar le Duc ab. Andere Zivil- und Militärbeamte sind von Deutschland nach Elsaß und Lothringen beordert. Nach 300 Jahren werden diese Länder wieder von Deutschen verwaltet.

 

3. September

Unglaubliche Ereignisse.

MacMahon hat in Sedan mit 80 000 Mann kapituliert, Napoleon sich dem König Wilhelm als kriegsgefangen ergeben. Dies am 2. Eine Tatsache, größer als die von Pavia, unermeßlich in ihren Folgen – davon eine Weltepoche datiert.

 

4. September

München ist mit Flaggen bedeckt. Man zieht mit Musikchören durch die Stadt. Heute abend Illumination.

 

5. September

Der König an die Königin: Varennes, 4. September, Vormittag 8 Uhr: »Welch ergreifender Augenblick der Begegnung mit Napoleon! Er war gebeugt, aber würdig in seiner Haltung und ergeben. Ich habe ihm die Wilhelmshöhe bei Kassel zum Aufenthalt gegeben. Unsere Begegnung fand in einem kleinen Schlößchen vor dem westlichen Glacis von Sedan statt.«

Die letzten Briefe vom Bruder sind vom 29. August, Sainte Barbe vor Metz.

 

München, 10. September

Napoleon sitzt schon auf der Wilhelmshöhe. General v. Boyen brachte ihn dorthin, wo er Erinnerungen an Jérome vorfindet.

Die Kapitulation von Sedan wurde zwischen Moltke und Wimpfen abgeschlossen; 80 000 Mann mit allem Kriegsmaterial haben die Waffen gestreckt. Das ist in der Geschichte großer Völker beispiellos. Außerdem wurden 30 000 Mann während der Schlachttage gefangen. So sind es 100 000, welche an die Grenze gebracht wurden, um unter die deutschen Staaten verteilt zu werden. Auf Bayern sollen 10 000 kommen.

Sobald die furchtbare Hiobspost in Paris anlangte, brach das Volk in den Saal der Kammern ein. Die Dynastie wurde für abgesetzt erklärt, die Republik (zum dritten Male) proklamiert. An ihrer Spitze steht Jules Favre, als Minister des Auswärtigen, Arago und der Schwätzer Rochefort. Die Schweiz und Amerika beeilten sich, diese improvisierte Regierung anzuerkennen.

Die deutschen Armeen brachen schon am 5. September von Chalons nach Paris auf.

Der Bruder schrieb zuletzt vom 5. September aus Sainte Barbe. Aus den furchtbaren Kämpfen bei Metz kam er unversehrt heraus. Am 1. September kommandierte er die Korps-Artillerie. Ich las in der ›Nationalzeitung‹ den Tod des Dr. Hermann Papst; er fiel bei Mars la Tour; noch am 3. Juli besuchte er mich in Rom, einen Tag vor der Abreise.

Die Rücknahme von Elsaß und Lothringen steht fest.

Der junge König von Bayern zeigt sich nicht einmal jetzt in der Stadt. Die größten Ereignisse, die Heldentaten seines eigenen Volkes verträumt er in der romantischen Waldeinsamkeit seiner Schlösser zu Hohenschwangau oder Berg. Er ist eine Fabel im Lande, der Held einer Oper der Zukunftsmusik – rätselhafte psychologische Zustände, die vielleicht der Arzt allein erklärt.

Ich sah den Exkönig von Neapel einsam durch die Straßen Münchens gehen und betrachtete diesen armen Verschollenen, wie er die harten Wege des Exils tritt – vergessen von Neapel, von der Welt, wohl auch von den Seinigen. Er lebt in Feldafing.

Ich traf heute einen seiner Kavaliere; ich erkannte ihn als städtische Figur von Rom und er mich. Wir blieben stehen, redeten einander an. Der unglückliche Mann friert hier in der Fremde; er schien entzückt über den schimpflichen Fall Napoleons und erstaunt über den Untergang Frankreichs – »che caduta vergognosa; ma non ce n'era altro, che chiacchiere e fumo.« Es war der Duca del Popolo.

Dr. Erhardt kam zurück von Metz her, erfüllt von den Eindrücken des Erlebten.

 

München, 16. September

Die Tage des idealen Aufschwungs sind vorüber – Entnüchterung tritt schon jetzt ein. Die Heere ziehen nach Paris. Gegen Rom rücken die Italiener, wo sie vielleicht schon heute eingezogen sind. Ich hätte doch gern den Fall des Papsttums mit Augen gesehen.

Vom Bruder seit Tagen keine Nachricht.

In Berlin scheint man die Ansicht zu hegen, daß Napoleon noch immer der Souverän Frankreichs sei und mit ihm unterhandelt werden müsse; ja ungeheuerliche Stimmen werden laut, als ob man im Plane habe, ihn wieder auf den Thron zu setzen.

Die Republik in Paris haben übrigens fast alle Mächte anerkannt, selbst Italien.

Ich bin ermüdet und abgespannt. Die Tage sind auch schrecklich durch Finsternis des Wetters, Regen und Kälte. Schon sehne ich mich nach dem Himmel Roms und der Ruhe meiner Arbeit zurück. Wenn es dort Ruhe geben kann.

Hier schrieb ich für die ›Allgemeine Zeitung‹ folgende Artikel: 1. Die Kriegserklärung und Europa. 2. Nemesis. 3. Italien und die deutsche Nation. 4. Das Gedicht ›Straßburg‹. 5. Die Schuld und die Strafe Frankreichs. 6. Nochmals Elsaß und Lothringen. 7. Pavia und Sedan. 8. Paris und Rom.

 

Stuttgart, Hotel Royal, 23. September

Am 17. fuhr ich in Begleitung Erhardts nach Stuttgart. Ich fand hier nur Reischach und Familie; Cotta ist in Lausanne. Ich sah alle meine Freunde wieder, auch Freiligrath und Walesrode. Frau Freiligrath ist ganz Patriotin; sie will nichts von Sozialdemokratie wissen und fordert sogar die Annexion von Elsaß und Lothringen. Er schweigt dazu.

Am Sonntage kamen 1700 Gefangene hier durch.

Ich machte Besuch bei der Baronin von Massenbach, worauf die Königin mich und Erhardt zu Tische lud, am 20. Der König ließ durchblicken, daß er die Einheit Deutschlands aufrichtig wünsche und dem Anschluß der Südstaaten keine Hindernisse in den Weg legen werde. Wir gingen nach Tisch im Garten, dem sogenannten Olgazwinger, spazieren. Die Gesellschaft war klein, nur Valois und Reischach zugegen.

Am 20. September um 11 Uhr vormittags sind die Italiener in Rom eingezogen. Unter anderen Verhältnissen würde dies Ereignis die Welt aufgeregt haben, heute ist es nur eine kleine Episode des großen Weltdramas.

Ich habe meine Angelegenheiten mit Cotta geordnet. Band IV und VII werden jetzt ausgegeben. Band V ist in den Druck gegangen.

 

Karlsruhe, 27. September

Am 24. hier angekommen. Erhardts fand ich im Hause des Oberbürgermeisters Lauter. Wir machten am 25. eine Fahrt nach Rastatt, wo keine Gefangene sind, und weiter nach Gernsbach. Gestern nach Maxau, die große Stromlandschaft zu sehen. Züge von Landwehren aus Schlesien, auch Ulanen kamen vorüber. Ein preußisches Korps von 40 000 Mann wird in diesen Tagen, wie es heißt, nach Freiburg befördert, um von dort in das obere Elsaß zu rücken. Seit dem Falle von Toul ist auch die direkte Verbindung mit Paris hergestellt.

Ich besuchte gestern Viktor Scheffel, den ich von Rom her kannte. Er empfing mich mit den Manieren eines Wilden, brüllte mir ganz irrsinniges zusammenhangloses Zeug über die Weltereignisse entgegen, wobei er sich als Sozialdemokrat gebärdete – ich war erschreckt, glaubte, einen Betrunkenen oder Wahnsinnigen vor mir zu sehen, und ließ ihn toben, ohne auch nur ein Wort zu erwidern. Ein Hauptmann kam und befreite mich, so daß ich fortgehen konnte. Scheffel schrie, mit Fäusten auf den Tisch schlagend, daß er auswandern wolle in ein Land, wo man nicht Republikaner, wie jetzt in Frankreich, totschlägt; er riß sein Kind in die Höhe, und dies fragte: »Papa, in welches Land werden wir gehen?«

Ich begriff, daß Scheffel auch noch jetzt Studentenlieder dichten kann. Da er an meinem Schweigen und meiner Miene merkte, was ich über ihn dachte, schrie er einmal: »Sie können mich jetzt verachten« – ich sagte ruhig: »Bitte, denken Sie nur, daß ich ein stiller Beobachter der Menschen bin.« Menschen solchen Schlages sah ich schon zu anderer Zeit mit Ordensbändchen im Knopfloch fromm und still im Vorzimmer großer Herren warten.

 

Karlsruhe, 29. September

Gestern fuhr ich nach Heidelberg. Abends kam die Nachricht von der Übergabe Straßburgs. Heidelberg flaggte, Musikchöre zogen durch die Straßen.

Heute bei Gervinus. Er urteilte, daß nach den großen Siegen Elsaß und Lothringen beim Reich bleiben müssen und daß ihr Grundwesen so deutsch sei, daß sie in Kürze vollkommene Glieder Deutschlands sein werden.

Ich kam hierher zurück um 8 Uhr; Erhardt und Oberbürgermeister Lauter sind in Straßburg. Dorthin gehe ich morgen.

Vom Bruder ein Brief. Er hat das Eiserne Kreuz erhalten.

 

Karlsruhe, 2. Oktober

Am 30. September früh 5 Uhr abgefahren nach Kehl; da sind einige Straßen zerschossen; aus den Trümmern wehen hie und da die Fahnen des deutschen Reichs wie Blumen, die auf Schutt gewachsen sind. Wundervoller Morgen. Große Szene am Rhein. Gefangene uns entgegen. Hin- und hersprengende Offiziere. Durch die Allee, über die umgestürzten schönen Platanen in Straßburg eingezogen um 9 Uhr. Welche unsagbare Bilder, Gestalten, Erscheinungen in dieser zerschossenen Stadt. In der Steinstraße eine Zerstörung wie vom Erdbeben. Manche Teile von Häusern stehen noch; bronzene Balkone mit Bronzefiguren taumeln daran in der Luft. Frauen suchen altes Eisen in den Trümmern und anderes. Zuschauer starren den Ruin an. Ich wühlte im Schutt eines Hauses, als wäre es in Pompeji. Eine halbverbrannte Mappe nahm ich dort auf und ein Notenblatt, worauf Tänze. Aus der verbrannten Bibliothek sammelte ich verkohlte Schriften auf. Theater, Präfektur, alles zertrümmert. Ich wandelte hin und her und ließ die Gestalten an mir vorüberziehen, gefangene Franzosen, Turcos, Zuaven, Ärzte, Kranke, hereinströmende Landleute, eingeschüchterte Bürger, schwarze Särge, die man forttrug, hereinziehendes Militär. Am Mittag rückten die badischen Garden ein, große, schöne Männer. Dann folgte der Stab. Ich erkannte den Prinzen Wilhelm von Baden, welcher mir nahe vorbeiritt. Viel Militär folgte mit klingendem Spiel. Töne, Menschen, Ruinen, Frankreich und Deutschland durcheinander gewirrt; die vom Brandgeruch geschwängerte Luft – und nun der Atem der Geschichte über all das her!

Zur Zitadelle, die ein zermalmter Schutthaufen ist, konnte ich nicht gelangen. Am Arsenal vorübergehend, sah ich lange Reihen von Geschütz und zum Teil noch ungebrauchte Kanonen. Seitwärts davon eine Wiese, worauf im bunten Durcheinander Möbel standen. Auf rotdamastenen Kanapees und Stühlen saßen Soldaten.

Ich suchte das Gasthaus zum Rebstock auf; einen Knaben bat ich, mich dahinzuführen. Unterwegs fragte ich ihn, ob auch in seinem Haus Unglück geschehen sei. Er brach in Tränen aus; er erzählte, daß vor seinen Augen im Hofraum zwei seiner Geschwister von einer Bombe erschlagen wurden; und er selbst zeigte mir die Spuren von Pulver, die er noch von der Sprengung des Geschosses im Gesichte trug.

Im »Rebstock« fand ich Dr. Erhardt und den Oberbürgermeister Lauter bei Tisch. Es war kaum ein Platz zum Sitzen; Militärs und Zivilpersonen füllten die Räume. Doch bekamen wir alle reichlich zu essen, selbst Gänseleberpasteten.

Nachmittags in den Dom gegangen. Ein Lazarett ist daneben mit kranken Franzosen. Unten in einer Kapelle lagerten arme Frauen und Kinder, die laut weinten. Eine Schale war dort aufgestellt, schon überfüllt mit Almosen. Im Innern Gewühl von Soldaten und Neugierigen. An einem Altar segnete ein Priester Särge ein; auf ihnen Immortellenkränze; Bürger lagen darin, die von Bomben waren getötet worden. In den Schiffen des Doms nur wenig Verwüstung; manche Fenster zerschmettert; die große Fensterrose hatte mehrere Löcher von Kugeln. Hie und da scheint der Himmel durch die Wölbung; denn das kupferne Dach des Langschiffes ist zerstört und verbrannt.

Es war schwierig, die Wendeltreppe zum Turm emporzusteigen; denn ohne Aufhören stiegen Soldaten auf und ab, meist preußische Landwehren. Herrlicher Blick in das weite Land hinein von der Plattform. Dort sieht man, wie dies Elsaß zu Deutschland gehört seiner Natur nach, wie der Rhein fast verschwindet, und keine natürliche Grenze macht. Seine Ufer sind die Vogesen und der Schwarzwald.

Erhardt ging fort, nach Kehl zurück; ich blieb, wanderte hin und her, sprach viel mit Bürgern. Ich suchte den Prinzen Wilhelm auf im Hotel de Paris, ohne ihn dort zu finden. Am folgenden Morgen traf ich ihn im Palast des Marquis de Bussière, der selber in Rastatt gefangen sitzt. Das Haus ist zerschossen, doch noch bewohnbar. Ich war eben von Menschen hergekommen, deren Erzählungen mich erschüttert hatten. Alle diese Eindrücke überhaupt stürmten mit solcher Gewalt auf mich ein, daß ich nie um ein allgemeines Schicksal eine gleiche Bewegung empfunden habe. So kam ich zum Prinzen, welcher das zu bemerken schien. Er sagte, die Beschießung der Stadt sei eine traurige Notwendigkeit gewesen, weil die Befestigungen mit ihr selbst zusammenhängen.

Abends durchwanderte ich die finsteren Straßen – das Gas ist erloschen; nur Laternen brennen an den Häusern; der Boden glitzert und funkelt, als sei er mit Edelsteinen bestreut; es sind Glassplitter der zersprungenen Fenster. Nachts ging ich durch die Steinstraße; die Ruinen sehen grauenvoll aus; die Sterne schienen durch sie hindurch. Hie und da tropften Funken von fortschwelenden Balken.

Am 1. Oktober blieb ich noch vormittags in der Stadt, woraus schon viele Regimenter abrückten, ich glaube gegen Mühlhausen. Es schmetterte durch ganz Straßburg von Militärmusik. Ich ging in eine Druckerei, um die letzte Proklamation des General Uhrich zu erlangen, doch konnte ich sie mir dort nicht verschaffen.

Soldaten, namentlich Landwehren, rissen diese Proklamationen von den Straßenecken ab, sie als Andenken mit sich zu nehmen. Oberbürgermeister Lauter versprach mir, sie photographieren zu lassen und mir nach Rom zu schicken. Er machte mich bekannt mit dem von unserer Regierung eingesetzten Unterpräfekten Flath, einem schönen Manne von lebhaftem Wesen. Derselbe sagte mir (abends im »Rebstock»), daß er von Bismarck die Ordre habe, den noch zurückgebliebenen französischen Behörden in Straßburg zu erklären, daß diese Stadt fortan deutsch sei.

Ich ging um 2 Uhr nachmittags am 1. Oktober wieder aus dem Tor von Austerlitz hinaus, um nach Karlsruhe zurückzukehren, während eine ganze Völkerwanderung von Besuchern mir entgegenströmte. Auf der Chaussee schloß ich mich einer Frau mit einem Kinde an; sie hatte die Belagerung mitmachen müssen und ging jetzt nach Kehl zurück, wo sie zu Hause war. Ob ihr Haus dort noch stand, wußte sie nicht; wenn ich es nicht finde, so stürze ich mich in den Rhein, so sagte dies Weib. Ihr Kind war von den Leiden der Belagerung, namentlich den Schüssen, so nervös geworden, daß es bei jedem Geräusch oder beim Anblick eines Pferdes aufschrie und weinte. Ich nahm es an die Hand und brachte es so bis zum Rhein. Viele andere Flüchtlinge waren in Bewegung nach Kehl zu. Ein Mann kam, der dem Weibe sagte, daß ihr Haus unversehrt geblieben sei.

In Kehl blieb ich einige Stunden und besah dort die Ruinen.

Auf dem Bahnhof eine bunte Szene – Flüchtlinge saßen auf Koffern, worin ihr letztes Gerettetes lag; ich setzte mich zu einer Familie, Mann und Frau, junge Leute guten Standes; die Frau aufgeregt, in Klagen ausbrechend, der Mann ruhig.

In Appenweier mußte ich lange liegen bleiben; der Wagenzug war überfüllt. Nachts kam ich in Karlsruhe an. Von dort schickte ich folgende Zeilen an die ›Allgemeine Zeitung‹.

 

Straßburg, 1. Oktober.

Ehe ich Muße finde, die unbeschreiblichen Eindrücke festzuhalten, welche diese Stadt heute auf jedes deutsche Herz macht, will ich Ihnen nur dies sagen. Die Zertrümmerung einiger Stadtteile ist vollständig. Nicht Pompeji sieht grauenhafter aus als das Viertel am Steintor. Die kostbare unvergleichliche Bibliothek, um welche ganz Straßburg und mit ihm das ganze Vaterland die lauteste Klage erhebt, ist ein Schutthaufen. Der Wind wirbelt dort die verkohlten Drucke Gutenbergs auf gleich verbrannten Schriften von Herculaneum. Nichts ist dort gerettet worden. Zahllose Häuser fast in jedem Viertel sind von Granaten durchlöchert und zerrissen. Särge von Frauen, Kindern, Bürgern, welche an ihren Wunden in den Hospitälern starben, trägt man noch fort und fort aus und ein im herrlichen Dom, der glücklicherweise nur hie und da verletzt ist. Das Elend der Tausende von Obdachlosen, der Flüchtigen, die mit Resten ihrer Habe fortziehen ins Badener Land, wie der Jammer der Überlebenden in Familientrauer, ist herzzerreißend, obwohl schon von allen Seiten her tätige Hilfe herbeieilt. Trotz der namenlosen Leiden der Belagerung zeigt sich die Stimmung des Straßburger Volkes oft auf überraschende Weise mild, ergeben und heldenhaft. Sie klagen den Kaiser an, nicht die Deutschen; sie erkennen wohl, daß Frankreich es war, welches diesen mörderischen Krieg uns frevelhaft aufgezwungen hat. Sie klagen den General Uhrich an, welchen die Bürgerschaft vergebens mit Petitionen um Übergabe bestürmt hat. Von kompetenter Stelle aus wird den Straßburgern der Beweis zu führen sein, daß die Beschädigung der Stadt auf Grund der Lage der Fortifikationen nicht zu vermeiden war. Wir Deutschen aber, die wir, mit den Straßburgern klagend, heute in den zertrümmerten Straßen umherwandeln, fühlen die Pflicht: beizutragen jeder nach seiner Kraft, daß jene Leiden des so schwer getroffenen Volkes unserer Brüder schnell gemildert und auch versöhnt werden. Aus den Flammen des hoffentlich letzten Krieges um die Freiheit und Einheit unserer Nation hat die große deutsche Mutter ihr lange verlorenes Kind wieder aufnehmen müssen, jammernd, schreckenvoll und halbverbrannt. Deutsche in allen Gauen, in allen Städten und Gemeinden des Vaterlandes, gedenket Straßburgs! Stiftet Vereine zur Tilgung einer nationalen Schuld der Liebe, die, obgleich durch die Verhängnisse der Zeit uns wider Absicht und Willen auferlegt, dennoch von uns als Schuld empfunden und so gesühnt werden soll. Sei Straßburg von heute an im höchsten und edelsten Sinne der Pietät wieder die Stadt des deutschen Reichs, adoptiert vom ganzen deutschen Vaterlande!

 

Cheuby bei Ste. Barbe vor Metz, 4. bis 7. Oktober

Am 2. Oktober entschloß ich mich, von Karlsruhe nach Metz hin zu fahren, um meinen dort im Felde stehenden Bruder zu besuchen, was mir auch gelang.

 

München, 14. Oktober

Am 7. Oktober nachmittags habe ich das Gefecht vor Metz mit angesehen, da Bazaine ausgefallen war. Ich blieb bis zur Dunkelheit auf dem Felde bei Ste. Barbe und fuhr dann nach Cheuby zurück, wo ich mit Colrepp den Bruder erwartete. Er kam mit der Artillerie etwa um 8 Uhr abends unversehrt zurück. Am folgenden Morgen begleitete er mich nach Courcelles, von wo ich um 8 Uhr nach Saarbrücken fuhr.

Ich nächtigte in Heidelberg. Am 9. Oktober über Stuttgart nach München, wozu ich volle 17 Stunden brauchte. Vier Stunden blieb ich in Stuttgart; dort sah ich noch flüchtig nach Reischach und Stälin und erhielt die Depesche vom Gefecht des 7. Oktober als Extrablatt. In München traf ich um 12 Uhr nachts ein.

Hier fand ich viele Briefe, die alle beantwortet sein wollten; 14 Korrekturbogen von Band V, die ich revidieren mußte, und ich schrieb außerdem den Bericht über meinen »Feldzug« nieder. Gestern schickte ich denselben schon an die ›Allgemeine Zeitung‹ ab.

Dies waren angestrengte Tage, da ich stets auf dem Zimmer blieb. Nur abends sah ich ein paar Menschen: Seitz, Giesebrecht, Arco, Kaulbach, Roth.

Ich fahre morgen am 15. Oktober nach Rom zurück. Was ich in diesem Vierteljahre im Vaterland erlebte und sah – es scheint mir alles ein Traum.

Katastrophen der Geschichte, Weltereignisse, welche zu erleben der Mensch ein Jahrhundert dauern müßte, drängten sich in Wochen zusammen. Sie explodierten als Resultate eines langen Prozesses mit plötzlicher Gewalt.

 

Rom, 30. Oktober

Am 15. abends fuhr ich von München ab und in 48 Stunden nach Rom. Hier traf ich um 11 Uhr nachts am 17. ein.

Die gewaltsame Umwälzung der Stadt erscheint mir wie die Metamorphose eines Taschenspiels. Italiener haben die Päpstlichen abgelöst. Statt der Zuaven durchziehen Bersaglieri die Straßen mit einer Art von Reiterbande-Musik.

Hundert schlechte Zeitungen sind wie Pilze aufgeschossen und werden in allen Straßen ausgeschrien. Eine Invasion von Verkäufern und Scharlatanen füllt die Plätze. Alle Augenblick hängt man Fahnen aus, macht man Demonstrationen. Man hat Denkmäler dekretiert für Ciceruacchio und für Cairoli. Eine Flut von Edikten wird täglich von der ›Gazzetta Ufficiale‹ ausgeschüttet, in welche sich jetzt das ›Giornale di Roma‹ verwandelt hat.

Der Papst hat sich zum Gefangenen erklärt, Protest erlassen, durch Bulle das Konzil suspendiert. Am Vatikan stehen italienische Wachen; in der halbgeöffneten Türe des Säulenganges sah ich verschüchterte Schweizer. Im Vatikan wohnen die Vertrauten des Papsts, darunter auch Kanzler. Die Kardinäle zeigen sich nie, oder wenn sie ausfahren, so sind ihre Wagen ohne Abzeichen. All ihr Pomp und alle ihre Magnifizienz ist in Rauch aufgegangen. Nur einzelne Priester durchschleichen die Straßen, furchtsam und Schatten gleich. Ich fand indeß eines Abends den Kardinal Silvestri beim Herzog von Sermoneta, welcher doch Präsident der Giunta war und dem König das Plebiszit Roms überbracht hatte. Lamarmora ist hier Gouverneur. Die Aktionspartei drängt den König zur sofortigen Verlegung der Residenz nach Rom, um eine Tatsache zu schaffen. Er zögert. Er hat nicht einmal einen Palast in Rom, darin zu wohnen. Auf das Quirinal, dessen Schlüssel die päpstlichen Beamten verweigerten, besitzt er kein Recht.

Die Italiener sammeln für die Hinterbliebenen der bei ihrem Sturm auf die Porta Pia Gefallenen, und sie sprechen im Ernst von einem römischen Feldzuge. Der Gefallenen sind, so glaube ich, zehn Mann. Da ich von dem blutigen Krieg in Frankreich herkomme, so ist mir dies Treiben widerlich.

Rom wird die weltrepublikanische Luft einbüßen, die ich hier 18 Jahre geatmet habe. Es sinkt herab zur Hauptstadt der Italiener, welche für eine große Lage, in die sie unsere Siege versetzt haben, zu schwach sind. Es ist ein Glück, daß ich meine Arbeit fast vollendet habe – heute könnte ich mich nicht mehr in sie versenken. Nur noch drei Monate der Mühe und ich bin am Ziel. Das Mittelalter ist wie von einer Tramontana hinweggeweht, mit allem geschichtlichen Geist der Vergangenheit. Ja, dies Rom ist ganz entzaubert worden.

Gestern kam die verspätete Depesche aus Metz. Am 27. hat Bazaine kapituliert – 173 000 Gefangene, darunter 3 Marschälle und 6000 Offiziere, ein ganzes Heer. Und so viele Krieger vermochten nicht, die Belagerungskette von 230 000 Mann zu durchbrechen, sie streckten die Waffen. Graf Bobrinski war es, der mir im Corso freudestrahlend diese Nachricht gab.

Tallenay ist wie sinnlos. Er flammt von Haß gegen Deutschland; seinen Sohn, so sagt er, will er darin großerziehen wie Hamilkar den Hannibal.

 

Rom, 13. November

Am 1. November habe ich die kulturgeschichtlichen Kapitel wieder aufgenommen und die Periode Julius' II. zum Abschluß gebracht. Da meine Arbeit endigt, blüht Rom für mich ab. Ich gehe in den Straßen umher auf den Spuren meiner Leidenschaft und Begeisterung, fühle diese nicht mehr, und mir ist, als schauten alle diese einst so begierig von mir durchforschten Monumente geisterhaft tot auf mich herab. Donna Ersilia, der ich sagte, daß ich Rom verlassen wollte, nannte mich undankbar, da Rom die Heimat meiner Arbeiten und die Quelle meines Ruhmes sei. Wohl, Rom verlassen heißt für mich von meinem wahren Leben Abschied nehmen. Doch diese Epoche schließt sich einmal.

Es ist ein ödes Wesen in der Stadt, trotz aller Aufregung, und ich muß mich erst an diese Zustände gewöhnen. Die neue Regierung hat die Türen des Quirinal gewaltsam aufgebrochen und sich des Palasts als künftiger Residenz des Königs von Italien bemächtigt. Der Papst hat Protest eingelegt. Die Jesuiten drängen ihn zur Flucht aus Rom. Diese selbst sind vor einigen Tagen aus dem Collegium Romanum geworfen worden, in Folge einer wütenden Demonstration des Volks vor diesem Palast und vor der Wohnung Lamarmoras. Sie vereinigen sich jetzt in Gesù.

Ich habe einen Brief vom Bruder vom 1. November noch aus Cheuby; er beschreibt darin die Kapitulation von Metz. Sein Armeekorps ist zu Operationen gegen Lille und Rouen bestimmt, und er wohl schon dorthin auf dem Marsch.

Die Unterhandlungen wegen des Waffenstillstandes mit Thiers sind gescheitert. Aber das Bombardement von Paris hat noch nicht begonnen.

Von der Tann ist am 9. November aus Orléans herausgeschlagen worden, mit Verlust von 1000 Mann und 2 Kanonen. Dies ist die erste Schlappe, die wir im Kriege erlitten haben, vielleicht ein Wink für Bayern, dem die Siege seiner Truppen so in den Kopf gestiegen sind, daß es wieder starke Gelüste der Separation verspürt.

 

Rom, 27. November

Hier viel Unruhe, Geschrei, Schwanken in allen Dingen. Der Papst hat die Excommunicatio major am 1. November gegen die Invasoren erlassen; die Regierung war kleinlich genug, die Blätter, welche sie abdruckten, zu konfiszieren. Es ist keine Größe in den Handlungen Italiens.

Der Senator von Rom ist abgeschafft und in einen Syndikus verwandelt. Es muß also fortan heißen Syndicatus Populusque Romanus. Es ist ein Prinzip in der Stadt, welches bald den Italienern lästig werden dürfte; es hat nichts mit der Monarchie zu tun; es ist kosmopolitisch.

Man fängt an, auf dem Forum Ausgrabungen zu machen. Rosa ist zum Direktor der Altertümer gemacht anstelle Viscontis. Professoren sind für das neue Lyceum ernannt worden.

Ich setzte meine Arbeiten an der Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts fort und sehne mich schmerzlich nach ihrem Abschluß; denn die Zeit ist ihnen nicht mehr günstig.

Wir haben sichere Nachricht vom Tode des jungen Marquis de Vaudrimay (aus unserem Winterkreise); er fiel am 31. August vor Metz. Ein Granatensplitter zerriß ihm die Brust.

 

Rom, 7. Dezember

Man hat folgende gute Verse auf den Papst gemacht und unter sein Bild gesetzt:

      Nell' Evangelo è scritto:
            Quando la turba il Cristo volle re,
            Egli abscondit se.
Nel Vatican si legge
      Che Pio vicario suo nasconde se,
            Quia non è più re.

Pius IX. ist fast vergessen in seinem eigenen Rom. Er sitzt wie ein Mythos im Vatikan, umgeben von Jesuiten und Fanatikern, welche ihm alle nur denkbaren Phantasien vorspiegeln. So träumt man von einer Wiederherstellung des Papsttums durch den deutschen Kaiser und dies in Folge der Sendung Ledochowskis ins Hauptquartier. Unterdeß beginnt Rom seine Vorbereitungen, um Hauptstadt zu werden. Die solemne Erklärung des Königs in der Thronrede hat alle Zweifel niedergeschlagen. Man erwartet ihn schon am Ende Dezember. Sein Glück ist noch größer als das Wilhelms I. Wenn dieser durch heldenhafte Anstrengung des Volks alles errungen hat, verdankt jener alles der Fortuna und unseren Taten. Außerdem hat sein Sohn am 4. Dezember die Krone von Spanien empfangen.

Am 4. Dezember hat Friedrich Carl nach dreitägigem Kampf wider die Loire-Armee unter Aurelles de Paladine Orléans besetzt. Der Versuch der Franzosen, Paris zu befreien, ist gescheitert; die Kapitulation der Stadt jetzt unvermeidlich.

Ich habe Briefe vom Bruder; er schreibt am 21. November aus La Pomeraye im Gebiet der Oise; am 26. aus Cotigny zwischen Stoyon und Amiens. Heute kam ein Brief vom 28. aus Mézières, vor Amiens, nach der dortigen Schlacht:

»Gestern Mittags 12 Uhr stellte sich uns der Feind auf unserm Marsche entgegen. Um 8 Uhr Abend war er nach heftiger Gegenwehr zurückgedrängt. Seine Artillerie schoß dieses Mal ausgezeichnet, auch war das Verhalten seiner anderen Truppen sehr gut. Die Verluste bei meiner Abteilung sind nicht klein, ein liebenswürdiger Offizier einer meiner Batterien wurde durch die Brust geschossen und soll bereits tot sein. Ich erhielt am linken Fuß eine starke Kontusion durch ein Sprengstück, dessen Kraft einigermaßen durch den Steigbügel gebrochen wurde; eine Stunde darauf wurde mein rechter Arm durch eine Gewehrkugel leicht gestreift. Der Himmel beschützt mich augenscheinlich, da auch dieser Kampf sehr heiß war. Ich bin bei der Truppe geblieben.

Lebe wohl, teurer Bruder! Ich war in das von unserer Infanterie genommene Dorf geritten, wo die verschlossenen Türen und Fenster, wie nicht anders geschehen kann, mit Kolben und Äxten eingeschlagen wurden. Dieser Jammer und die geängstigten Bewohner!«

Ich bin aufgeregt – und wie soll ich die ›Geschichte der Stadt Rom‹ in dieser Zeit vollenden?

 

Rom, 18. Dezember

Geistesöder Winter, erschlaffend durch Wärme, erdrückend durch das Gewicht des endlosen Krieges und den Familienjammer Deutschlands. Auch das Verderben Frankreichs muß jeden Fühlenden bewegen. Der Bruder schrieb am 1. Dezember aus Mourures bei Amiens, auf dem Marsch nach Rouen. Eine Kanonenkugel hatte ihn vor dem Fort von Amiens beinahe getötet. Er sieht das schöne Gemälde Frankreichs nur von Blut und Trümmern und der Angst der Bewohner entstellt und schreibt am Schlusse des Briefs: »ich wünsche von den erbärmlichen Verhältnissen der Welt loszukommen.«

Ich habe meine Schlußarbeit zu fördern gesucht. Hier Straßenexzesse, Rohheiten, Hetzereien von beiden Seiten, Unsicherheit – dazu die in der Geschichte beispiellose Tatsache: der gestürzte Papstkönig, der Fürst Roms, noch hier im Vatikan. Diese alten Maulwürfe sind ans Verschütten gewöhnt – sie wühlen unterirdisch –, sie werden jetzt die Lebensfasern der Zivilisation in allen Ländern zu zernagen suchen und sich als Krankheitsstoff auf die inneren Organe der Gesellschaft werfen. Unter den Italienern sehe ich nur den Mut gewaltsamer Tatsachen; nirgend den des Glaubens an ein großes sittliches Ideal. Sie können einreißen, aber der Neubau ist ohne die moralische Kraft des Volks nicht denkbar.

 

Rom, 31. Dezember

Das Jahr schiebt eine Flut ungelöster Kämpfe in das folgende hinüber. Der Krieg in Frankreich, wo er Rassenkrieg geworden ist, wälzt sich weiter oder treibt sich in großem Feuerkreise um Paris umher. Diese Stadt leidet ihr Geschick als ein über sie hereingebrochenes Strafgericht, ähnlich Rom im Jahre 1527. Aber bisher leidet sie es mit Mut; es werden dort Keime der Regeneration aus grenzenloser Sittenverderbnis sichtbar.

Der Bruder schrieb aus Rouen, wohin er seinen Fuß zu heilen gehen mußte; der Brief war vom 10. Dezember. Seither habe ich keine Nachrichten.

Am 28. trat der Tiber mit furchtbarer Gewalt aus und setzte halb Rom unter Wasser. Die Flut stieg plötzlich um 5 Uhr morgens und bald bedeckte sie den Corso und drang durch die Via Babuino bis gegen den spanischen Platz vor. Seit 1805 hatte keine Tiberüberschwemmung eine gleiche Höhe erreicht. Der Ghetto, die Lungara, die Ripetta haben stark gelitten. Man berechnet den Schaden auf viele Millionen. Der Anblick der Straßen, worin Kähne fahren wie in Venedig, war seltsam; die Fackeln und Lichter werfen auf das Wasser breite, spiegelnde Reflexe. Aus den Häusern schrie man verzweifelt nach Brot. Zum erstenmal machte sich die neue Nationalgarde durch praktische Dienstleistungen bemerkbar. Es wurde musterhafte Ordnung gehalten. Die Pfaffen schrien alsbald, daß dies der Finger Gottes und die Wirkung der päpstlichen Exkommunikation sei. Was aber mag dieser Papst im Vatikan dabei gedacht haben? Eine wildere Flut hat er selbst über Rom heraufbeschworen; dem Zauberlehrling gleicht er, der nun die Wasser nicht mehr bannen kann.

Zeichnung: Gregorovius

Rom, Ripetta, 19. 7. 1855

Heute am Morgen kam der König. Mittelalterliche Chroniken fabeln oft von Wasserdrachen, welche die Tiberüberschwemmung nach Rom hineingeworfen haben; die große Balena war diesmal Viktor Emanuel. Er brachte Rom in fieberhafte Bewegung. Noch ertrinkend bedeckte sich die Stadt mit Trikoloren. Er stieg ab im Quirinal. Um Mittag fuhr er durch die Straßen, Lamarmora neben sich. Das Volk wogte auf und ab. Viktor Emanuel unterzeichnete im Quirinal sein erstes Dekret, die Annahme des Plebiszits. Er fährt schon heute abend nach Florenz zurück. Welch ein merkwürdiger Jahresschluß für Rom ist diese Erscheinung des Königs des einigen Italiens! Sie schließt das Mittelalter ab.

Soeben erhalte ich gute Briefe vom Bruder aus Rouen, wo er glücklicherweise noch bleiben muß, und von Colrepp aus Metz.

Hier schließe auch ich das große Jahr der Katastrophen 1870 mit dem festen Glauben an den Sieg der guten Sache, die unser ist.


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