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1866

7. Januar

Entzückende Wintertage. Wenig Fremde. Rom ist noch nie so still und leer gewesen.

Heute kam der Dichter Andreas Munch zu mir. Wir sprachen viel über seinen toten Vetter und dessen Geschichte von Norwegen.

Am Nachmittag fuhr ich mit Alertz und Lindemann nach Villa Lante. Diese herrliche Besitzung gehört der Herzogin Fleury, welche sie von Nonnen gekauft hat.

Am vorigen Mittwoch führte Liszt in Araceli eine Kantate auf, Komposition zum Stabat mater speciosa des Fra Jacopone, dies ging ziemlich lahm. Er strich an mir vorüber und sagte: »Kirchenmusik! Kirchenmusik!«

 

Rom, 21. Januar

Am 18. habe ich das erste Kapitel im Buch XII beendigt.

Am 17. war der große Empfang beim österreichischen Botschafter; die Honneurs machte die Prinzessin Aldobrandini, Ungarin vom Haus Hunyady. Zahllose Menschen durchströmten die Säle. Eine glänzende Ausstellung von Eitelkeiten.

Meyendorff hat zu Neujahr einen Auftritt mit dem Papst gehabt; er soll ihm gesagt haben: der Katholizismus ist die Revolution, worauf ihn der Papst fortwies. Alle Blätter sind davon voll. Ich traf Meyendorff auf dem Pincio, wo er mir sagte, die Berichte seien übertrieben. Er habe dem Papst nur gesagt, daß die katholische Geistlichkeit das zur Revolution aufreizende Element in Polen gewesen sei. Zur Neujahrsgratulation war auch dies schon stark genug. Meyendorff wird seinen Posten verlassen.

Der Papst hat einen Traktat mit Frankreich gemacht. Napoleon überläßt ihm 2000 Mann als Söldner. Sie werden päpstliche Uniform tragen. Man ist ruhig im Vatikan. Der Septembervertrag wird ausgeführt; Rom wird nicht Hauptstadt Italiens, der gegenwärtige Kirchenstaat bleibt bestehen.

Ich sehe oft Kuno Fischer. Gestern machten wir einen Gang nach S. Pietro in Montorio. Ein männlicher, bestimmter und entschiedener Denker, fähig, die Geschichte Roms vom höchsten Standpunkt zu betrachten, von Parteischranken frei. Ich lese seine ›Geschichte der neuen Philosophie‹, das beste und klarste Werk der Art, was wir besitzen. Fischer findet sich beengt in den Winkel Jena, von dessen professorischer Beschränktheit er mir das schwärzeste Bild entwirft. Er wünscht einen größeren Wirkungskreis, etwa in Berlin. Von Rosenkranz sprach er mit ungerechtester Geringschätzung; doch hat Rosenkranz hohe Verdienste um die Popularisierung der Philosophie und außerordentliche um das geistige Leben in der preußischen Ostprovinz. Fischer ist voll von sich selbst, er läßt wenige gelten. Am meisten bewundert er die Anspruchslosigkeit Roms, welche er den Charakter dieser Weltstadt nennt.

Traurige Nachrichten aus Florenz. Pauline scheint ganz gelähmt. Ihr schrecklicher Zustand verdüstert meine Tage.

 

Rom, 4. Februar

Das Kapitel II des zwölften Buches am 31. Januar beendigt. Ruhetage. Schlözer kam aus Berlin zurück, wo er meine Sache selbst in die Hand genommen und sich als wahrer Freund bewiesen hat.

Graf Tolstoi kam wieder – herrliche Menschen, echt und treu und voll Geist. Ich werde oft mit ihnen sein.

Ich war bei Frau Robinson aus Amerika, in Deutschland als Frau Talvj bekannt, Übersetzerin der Serbischen Volkslieder, welche sie in unsere Literatur eingeführt hat – eine ältliche Dame von feinem Ausdruck. Da sie Prätension machte, von mir in Rom herumgeführt zu werden, bin ich weggeblieben.

Der Papst sucht eine Anleihe, 50 Millionen, 60 für 100; sie kommt nicht zustande, die Finanzverlegenheit ist groß. Der Bankerott vor der Türe. Die Geschichte der Stadt Rom ist eine Finanzfrage geworden.

Der berühmte Bildhauer Gibson starb und wurde an der Pyramide des Cestius begraben. Weil er Ritter der Ehrenlegion war, schickte der General Montebello ein Detachement französischer Soldaten auf den Kirchhof, ihm eine Ehrensalve zu geben. Die Sitte, mit Flinten ins Grab zu schießen, ist ganz lächerlich und barbarisch. Gibson hat schwerlich jemals ein Pistol abgefeuert, er würde gegen solche Ehre protestiert haben. Eine englische Dame flüchtete sich bei dem Schießen in die Nähe des Grabes Shelleys, setzte sich dort nieder und brach in Tränen aus. Gibson war 78 Jahre alt geworden, noch sechs Jahre lang Schüler Canovas gewesen. Sein Hauptwerk ist Phaëton – er war ein Meister des strengen Stils, vom reinsten Schönheitsgefühl, ohne große Originalität, fast akademischer Richtung. Er kam arm nach Rom und hinterließ mehr als zwei Millionen Franken Vermögen. Er lebte unverheiratet, in der größten Bedürfnislosigkeit. Jeden Morgen fand er sich im Cafe Greco ein.

Gestern Diner beim Erbprinzen von Weimar, wo Visconti und Pietro Rosa zugegen waren. Visconti ist geistreicher Höfling, ein Sophist und Improvisator, doch weiß er vieles und besitzt eine beneidenswerte Gegenwart des Geistes.

 

Rom, 15. Februar

Gestern habe ich das Kapitel III von Buch XII beendigt.

Der Karneval störte mich. Beim Prinzen von Weimar zum Diner gewesen mit Liszt. Liszt war sehr liebenswürdig; er wollte sich mir nähern und sagte mir beim Weggehen, er hoffe, ich würde zu ihm Vertrauen fassen. Dies wird schwer sein, da ich keinen Punkt der Berührung mit ihm habe. Er ist sehr alt geworden, sein Gesicht ganz eingeschrumpft, doch ist seine Lebhaftigkeit noch immer hinreißend. Die Gräfin Tolstoi erzählte mir gestern, daß eine hier lebende Amerikanerin den Überzug eines Stuhls, worauf Liszt saß, eingerahmt und an die Wand gehängt habe. Sie habe es Liszt gesagt, der anfangs sich entrüstet gestellt, dann aber gefragt habe, ob es wahr sei. Wenn solch ein Mann nicht die Menschen verachtet, muß man es ihm hoch anrechnen.

Am Dienstag abend, den 12., mit Kuno Fischer bei Tolstoi gegessen, wo auch Meyendorff war. Der Abend war angenehm. Fischer ist einer der klarsten und präzisesten Köpfe, die mir begegnet sind. Er stellt eine Epoche in der philosophischen Wissenschaft vor, welche die historisch abschließende sein möchte. Er scheint überhaupt der Literaturhistoriker der deutschen Philosophie zu sein. Er ist mit dem Prinzen am Aschermittwoch nach Neapel und Sizilien abgereist.

Meyendorff triumphiert; der Kaiser hat ihn anerkannt; die russische Gesandtschaft ist eingezogen; die Wappen bleiben noch; alles ist gegen Antonelli entrüstet, welcher nicht den Mut hatte, Meyendorff die Pässe zuzuschicken. Große Finanznot. Man sieht mit Spannung auf die Adressedebatten im Pariser Senat; sie scheinen als Resultat der Stimmung dies zu ergeben: daß Florenz Hauptstadt und Rom mit dem letzten Fetzen des Kirchenstaats dem Papst verbleibt.

Der Winter ist unnatürlich schön. Nie Regen, immer heiterer Sonnenschein. Man erinnert sich eines solchen Klimas in Rom nicht.

Rückert starb, ein großer Künstler, seine Poesie ein Kunstgarten. Er schaut seine Gefühle an und macht sie zum Gegenstand der Kunst. Er faßt sie wie Diamanten ein. Er bespiegelt sich selbst darin. Daraus kommt Kälte und Künstelei.

 

Rom, 11. März

Tätig gewesen; das Kapitel IV des Buchs XII beendigt; die italienische Vorrede zur Venezianer Ausgabe abgefaßt.

Ich bin viel aus gewesen, woran Tolstoi Schuld hat; viel in der russischen Welt, wo ich jetzt sonderbarerweise am meisten verkehre – in Rom!

Liszt gab seine Dante-Symphonie in der Galleria Dantesca; er erntete noch als Abbé einen Nachsommer der Huldigung. Die Damen des Paradieses überschütteten ihn mit Blumen von oben herab; Frau L. hätte ihn mit einem großen Lorbeerkranz fast erschlagen. Die Musik wird von den Römern als formlos, scharf mitgenommen. Es ist Geist darin, doch reicht er nicht hin. Liszt ging nach Paris. Am Tage vor seinem Abgange frühstückte ich mit ihm im Garten bei Tolstoi. Er spielte eine Stunde lang und ließ sich dazu willig von einer jungen Fürstin S. zwingen, einer Dame von auffallend kolossalen Formen, aber von ebenso auffallender Intelligenz.

Vorgestern traf ich bei Meyendorff Constantin Tischendorf, der hier einen Bibelcodex in der Vaticana studiert – ein Leipziger Professor mit fast jüdischen Manieren. Er sprach nur von sich selbst und seinen Leistungen.

Man hat 10 bis 12 Chefs von Bankhäusern allmählich nach Rom kommen lassen, ohne ein Geschäft zustande zu bringen. Auch die päpstliche Schuld ist noch nicht geordnet. Die französische Fremdenlegion bildet sich in Antibes; sie wird in die Engelsburg zu liegen kommen, als Leibwache für den Papst. Vor einigen Tagen lief ein Walfisch auf den Strand bei Civitavecchia – man hielt ihn für eine neue Art von Trojanischem Pferd, in dessen Bauch die Piemontesen steckten, bis sich die Balena als Fisch erwies. Andere sagen, Garibaldi habe ihn von Caprera abgeschickt, den Papst zu verschlingen wie Jonas. Doch Jonas ist die Fabel von dem Papsttum überhaupt – heute verschluckt, morgen wieder ausgespuckt. Dies ist der Sinn der ganzen Geschichte des Dominium Temporale, wie ich es in den Historien der Stadt Rom nachgewiesen habe.

Bessere Nachrichten von Pauline aus Florenz.

Schöne Frühlingstage. Alles in Blüte

 

Rom, 18. März

Gestern war ich mit Cartwright und Parker nach St. Paul zum ehemaligen Abt von Monte Cassino gefahren, der dort im Exil lebt. Wir sahen die bronzenen Türen, welche nicht, wie man glaubt, im Jahre 1823 gänzlich verbrannt, sondern in Stücken fast ganz erhalten sind. Sie liegen in einer Geröllkammer, in zwei großen Holzkasten verschlossen. Dem Papst wurden sie gezeigt, auf dem Boden zusammengesetzt; die Mönche baten um die Wiederherstellung, welche auf 10 000 Scudi veranschlagt ist, aber Antonelli will neue Türen machen lassen und die alten in einem Museum aufstellen. Das Metall in niello ist herausgenommen; alle Gesichter fehlen, kurz, alles was erhoben war; nur die Umrisse sind geblieben, das heißt die Eingrabungen in der Eisenplatte. Die Inschriften noch völlig lesbar; das Ganze sehr gut herzustellen. Der Abt bat mich, einen Artikel für eine deutsche oder englische Zeitung zu schreiben und darin über die Verwahrlosung dieses Schatzes Klage zu führen. Dies will ich tun.

Heute nahm ich Abschied von Meyendorff, welcher abends nach Petersburg reist. Die russische Gesandtschaft ist geschlossen; die Kapelle soll aufgehoben, die Wappen sollen abgenommen werden. Ich verkehrte einige Jahre lang in seinem Hause und lernte dort manchen merkwürdigen Menschen kennen.

Bankerottes Jahr. Große Aufregung und Erwartung einer Katastrophe.

 

Rom, 8. April

Am 3. April, abends um 7 Uhr, starb die edle Pauline zu Florenz, nach langem Leiden.

Ein guter Genius ist von mir geschieden. Sie war mir eine wahre Freundin, groß im Denken und Empfinden, frei von den meisten Fehlern der Frauen, ohne Eitelkeit und Selbstsucht, von einer Klarheit des Geistes, die selten zu nennen war. Sie nahm Teil an meinem geistigen Leben, und das war ihr ein Ersatz geworden für den Verlust aller ihrer Lebenshoffnung, nachdem B. sie treulos verlassen hatte. Sie war die hochherzigste Seele, die mir im Leben begegnet ist; selbst ihre Täuschungen hatten sie nicht verbittert, nur edler und völlig selbstlos gemacht.

Gestern brachte mir Schlözer einen Brief von Thile, welcher mir mitteilt, daß die Regierung in Berlin mir die Unterstützung von 400 Talern jährlich, die ich seit 1860 empfangen habe, auf 200 für zwei Jahre heruntersetzen will. Ich habe es abgelehnt.

Viele Fremde, für die ich keine Stimmung habe. Ich versenke mich tiefer in meine Arbeit.

Am 22. März beendigte ich das sechste Kapitel im Bande VI; aber jetzt fehlt mir für immer die ermunternde Teilnahme der edlen Freundin, die nicht mehr ist.

 

Rom, 21. April

Ich habe unausgesetzt in den Bibliotheken gearbeitet. Mit Tolstoi, Bobrinski und Prinz Sanguczko fuhr ich eines Tags nach Galéria, einer in Efeu versunkenen Stadt des Mittelalters.

Eines Abends ließ der Prinz von Weimar die vatikanische Galerie mit Fackeln erleuchten; Visconti führte und erklärte. Der goldene Herkules nimmt sich nicht gut aus; er erdrückt die edle Gesellschaft von Statuen, in die er nicht paßt. Ich mag den Herkulestypus nicht leiden – es ist brutale Muskelkraft; und doch ist der moralische Sinn der Mythe so großartig: ein Mensch, der die irdische Welt bezwingt durch Arbeit, sich vergöttlicht, wie ein Phönix sich verbrennt und Hebe, die ewige Jugend, zum Lohn erhält. Eine geistvolle Dame nannte ihn den griechischen Christus; doch der ist Prometheus, in einem höheren Sinn. Er stürzt die alten Götter und bringt den Menschen ein neues Heil.

Der Papst hat die ›Civiltà Cattolica‹ zu einem literarischen Institut in der Kirche erhoben, ihre Redaktoren als Collegium scriptorum unter dem General der Jesuiten mit allen Rechten einer moralischen Körperschaft ausgestattet und ihnen einen dauernden Sitz im Borgo angewiesen. Dies Journal soll eine bleibende Kraft im Organismus der Kirche sein.

Tischendorf ist mit einem schmeichlerischen Breve ausgezeichnet worden. Der Papst sagt darin, er hoffe, seine Forschungen würden ihn bald so weit bringen, daß er ihm seine Arme nicht mehr als einem Fremdling, sondern als seinem geliebten Sohn öffnen könne.

Die Schwester Paulinens verläßt Florenz im Mai, um in die Heimat zurückzukehren. Pauline hat selbst ihr Leichenbegängnis bestimmt; sie verbat sich die Rede am Grabe; sie wollte auch keinen Stein haben, »nur grünen Rasen, worüber der Wind weht«. Ihre Qualen waren namenlos; seit Monaten konnte sie kein Glied bewegen. Ich habe ihr ihre letzten Jahre in der Welt, die sie betrogen hatte, weniger schwer gemacht – dieses Bewußtsein tröstet mich; so konnte ich doch ihr bis zum Tode, auch in der Ferne, ein Freund sein.

 

Rom, 6. Mai

Der italienisch-österreichische und auch preußische Krieg scheint unvermeidlich. Die italienische Nation reißt die Regierung mit sich fort. Das Parlament hat dem Könige Vollmacht gegeben, über die Finanzen Gesetze zu erlassen. Man hat eine Anleihe von 250 Millionen der Nationalbank dekretiert, und Italien wird mit Papier überschwemmt. Die Regierung muß siegen oder untergehen. Der ganze Sturm ist über Nacht gekommen. Der furchtbare Krieg wird das Schicksal Italiens, des Papsttums und auch Deutschlands entscheiden. Frankreich steht lauernd am Rhein; es wird Schiedsrichter sein und seinen Lohn fordern.

Gestern hieß es, 25 000 Italiener sollen an Rom vorbeiziehen, um auf der Eisenbahn nach Ancona fortgeschafft zu werden. Franzosen sollen wieder in Civitavecchia landen.

Der Neffe Paulinens kam von Florenz. Ich gehe eben mit ihm nach Albano.

 

Rom, 10. Juni

Eine tiefe Erkältung, welche ich mir in Albano zugezogen, machte mich fast 14 Tage lang untauglich. Unterdeß konnte ich wenigstens das Manuskript des sechsten Bandes durchsehen.

Aus dem Ruin, dem wir entgegentreiben, wollte ich diese Arbeit retten – ich habe das Kapitel VII zu schreiben angefangen.

Die Italiener werden ihre Probe abzulegen haben. Sie sind jetzt ein freies Volk, welches vor der Welt sein Recht zurückfordert. Ich hoffe auf ihren Sieg. Der Sieg Österreichs wäre nur die Rückkehr des Mittelalters. Wir stehen an der Schwelle unberechenbarer Ereignisse, welche die Weltgeschichte ändern werden.

Mit Venedig wird auch das Schicksal des Papsttums entschieden. Wenn die Italiener dort einziehen, endet das Dominium Temporale des Papsts. Die Bourbonisten träumen von Restauration. Man bereitet einen Zug nach Neapel vor; sollten die Italiener eine Schlappe erleiden, so wird man eine Schilderhebung in Kalabrien versuchen. Der Haß der Pfaffen brütet Ungeheures aus. Die Stimmung in Rom ist düster. Teuerung, Geldkrisis; das Silber verschwindet. Es kursiert nur noch entwertetes Papier. Die Briganten schon vor den Toren, selbst in Frascati. Alle Straßen unsicher. Unter solchen Verhältnissen muß ich in der Sommerhitze in Rom bleiben.

Der Papst hat fünf Kardinäle ernannt: Hohenlohe, Matteucci, Erzbischof Cullen von Dublin, Monsignor Consolini und den erst 37 Jahre alten Barnabiten Felice Bilio, einen Ultramontanen vom reinsten Wasser. Man sagt, daß er auch Monsignor Bonaparte zum Kardinal machen will.

Antonelli war krank – die Gicht fuhr ihm in den Magen –, es heißt aus Verdruß, weil er durch den Fall einer englischen Bank 300 000 Scudi verloren hat.

Der Papst ließ Alertz rufen, um ihn wegen des Befindens des Kardinals zu befragen.

Liszt kam aus Paris. Er zieht, da Hohenlohe den Vatikan verläßt, wieder auf den Monte Mario. Ich kam öfter mit seiner Freundin, der Fürstin Sayn-Wittgenstein, zusammen. Sie hat ein Wesen, welches mich abstößt, aber sie sprüht von Geist.

Alle Russen sind Omnivoren der Bildungsstoffe des Abendlands. Sie haben einen Heißhunger der Aneignung, weil sie unproduktiv sind. Aus Rußland, so sagte mir eine geistvolle Frau, wird nie etwas werden; es fehlt diesen Völkern alle Initiative des Willens; Peter der Große erkannte die Unfähigkeit der Russen, sich national zu entwickeln; deshalb zog er ihnen mit Gewalt den europäischen Rock über den Leib.

Es kam zu mir Harms, württembergischer Konsul aus Lübeck, und Herr Brooks aus Rhode-Island, Übersetzer Jean Pauls und anderer deutscher Autoren.

Der erste Band der ›Geschichte der Stadt‹ ist in Venedig freilich gedruckt, aber wurde seit seiner Ausgabe des Krieges wegen zurückgehalten.

 

Rom, 27. Juni

Große Ereignisse in Deutschland, welche Europa umgestalten werden.

Gestern kam die erschreckende Nachricht, daß die Italiener eine Niederlage erlitten haben bei Custozza und Valeggio. Sie sind über den Mincio zurückgeworfen. Die Unmöglichkeit, das Festungsviereck zu durchbrechen, ist dadurch bewiesen. Ich las die Depesche gestern um 6 Uhr, im Bureau des ›Osservatore Romano‹ am Palast Poli, wohin ich täglich um diese Stunde eile; das Volk stürmte in fieberhafter Ungeduld fast das Haus. Es ist ein tiefer Widerspruch in all dieser Zeit. Welchen Sieg soll man bejubeln, welche Niederlage beklagen? Alles verzerrt durch Schuld, Eigensucht und Irrtum. Das formale Recht hat Österreich; man hat es von Seiten Italiens und Preußens unablässig mit Hohn und Übermut herausgefordert – das höhere Recht hat es nicht.

Die Italiener sind bestürzt und enttäuscht. Der berühmte Orientalist Abbate Lanci sagte mir vor seiner Abreise nach Fano: »Mit vier Schlachten haben wir alles abgetan – und jetzt?«

Italien hat keine kriegerische Kraft. Seit dem Fall des römischen Reichs litt dies Land nur die Invasionen der Fremden und stand stets nur auf der Defensive. Es hat keine Epoche, wo es erobernd aufgetreten wäre.

Ich habe heute den sechsten Band der ›Geschichte der Stadt Rom‹ beendigt. Auf sechs Bände war dies Werk ursprünglich angelegt.

Meine Arbeit begleitete die geschichtliche Bewegung Roms, welche durch die Umwälzung Italiens und das Sinken des Papsttums die wichtigste in Europa wurde. Nun aber tritt durch den nahen großen Weltkampf Rom bald in den Hintergrund zurück. So ist auch mein Werk getan, und ich stehe vor einer moralischen Grenze.

Die Weltbewegung der Gegenwart wird eine solche Grenze für alles geistige Leben bilden. Sie scheidet zwei Generationen; was drüben steht, wird veralten, was hüben, wird dem Genius auf neuen Bahnen folgen.

Ich denke, wir werden eine Epoche sehen, wie im Jahr 1813. Es ist ein Weltkampf, daraus der Geist der Völker verjüngt hervorgehen wird, ein Scheidungsprozeß, worin die morschen Autoritäten der alten Zivilisation untergehen. Rom hält noch deren Formel, es hat sie im »Syllabus« ausgesprochen. Diesen römischen Weltknoten wird eine Revolution Europas im letzten und wichtigsten Drittel des XIX. Jahrhunderts gewaltsam lösen.

Der Kaiser Franz Joseph hat eine Erklärung vom Papst verlangt, daß die Sache Österreichs die des Rechts sei. Der Papst hat sie abgelehnt. Der mephistophelische Blick des Mannes an der Seine, mit seinem Brief an Drouyn, läßt die Hand Pius' IX. niedersinken, wenn sie sich zum Segen über Österreich erheben will.

Die päpstliche Regierung hat ein neues Münzsystem eingeführt: Lire oder Franken – das Volk ist darüber verwirrt, das Kupfer ist im Wert gefallen, die Preise der Lebensmittel sind hoch gestiegen.

 

Rom, 8. Juli

Am 23. Juni starb zu Königsberg mein herrlicher Bruder Rudolf plötzlich, wie es scheint am Hirnschlage. Das ist ein großes Unglück für uns alle. Er war ein hochherziger Mensch, ein feuriger Geist, von hinreißender Beredsamkeit – religiöse Zweifel hatten in der letzten Zeit Trübsinn in ihm erzeugt. Er fürchtete, blind zu werden. Er wurde heute vor acht Tagen in Schippenbeil begraben. Das schrieb mir der Bruder Julius, welcher jetzt die Trümmer von des Vaters Hause versammelt.

Es sind traurige Zeiten – ein schweres und furchtbares Jahr.

Am 3. Juli gewann Preußen die Entscheidungsschlacht bei Königgrätz; die österreichische Armee ist vernichtet.

Die Nachricht kam am 5. hier an, abends. Am 6. des Morgens gab der ›Osservatore‹ die Depesche aus, zugleich mit der Meldung von der Abtretung Venedigs an den französischen Kaiser. Der Eindruck davon war unbeschreiblich. Leser auf allen Straßen. Nirgend ein Zug der Freude. Die Patrioten sind durch den Gedanken gedemütigt, daß Italien Venedig als Almosen aus der Hand Napoleons empfangen soll, statt es durch eine große Nationaltat erkämpft zu haben.

Der ganze Feldzug der Preußen ist ohnegleichen in der Weltgeschichte. Diese Schnelligkeit, prachtvoll wie Gewittersturm, reißt alles zur Bewunderung hin. Eine Karikatur zeigt hier Benedek, reitend auf einer Schildkröte, und den Prinzen Friedrich Carl auf einem geflügelten Roß. Die Geister Luthers und des alten Fritz, die von 1813 und die unserer großen Denker, sie sind alle den preußischen Bataillonen voraufgezogen – wer konnte denken, daß Österreich so alt und morsch sei? – Der Vatikan erzittert von den Schlägen der Preußen.

Man kommt nicht zum Nachdenken mehr; die Tatsachen überholen jede Reflexion. Es ist das Schauspiel eines losbrechenden Stroms geschichtlicher Ereignisse nach so langer fauler Stagnation in Deutschland – ich bin wie im Traum –, ich fasse es noch nicht. Der Puls der Weltgeschichte geht heute beschleunigter, durch Telegraphen, Eisenbahnen, Erfindung, Wissen und politische Gereiftheit. Wozu Friedrich der Große sieben Jahre brauchte, das vollenden seine Enkel in sieben Tagen. Außerdem: was jetzt geschieht, ist nur Resultat von Prozessen ganzer Zeiträume – es ist alles reif. Darum diese elektrischen Machtschläge.

Hier schreckliche Hitze und peinvolle Geldkrisis; kaum Münze mehr zu sehen. Nur unwechselbares Papier.

Tolstois fuhren ab am 4. Juli. Ich brachte sie auf die Eisenbahn.

 

Rom, 14. Juli

Die Schlacht bei Sadowa stellt sich als eine der furchtbarsten der Geschichte heraus, wohl wird sie auch eine der wichtigsten sein. Benedek hat Böhmen geräumt und will nur die Defensive auf der Donaulinie halten. Deutschland nimmt jetzt für immer Abschied von Italien, nach einer tragischen Geschichte von 14 Jahrhunderten! Wie glorreich hätte dieser Abschied sein können, wenn Österreich nach der gewonnenen Schlacht von Custozza den Italienern Venedig mit Großmut ausgeliefert hätte! Eines solchen Aktes der Selbstüberwindung und Weisheit war Franz Joseph nicht fähig – vielleicht wäre kein König dessen fähig gewesen. Doch die listige Absicht Österreichs ist nicht erreicht. Zwar hat es, zum Unglück Deutschlands, Napoleon herbeigezogen, aber die Sympathien der deutschen Bundesgenossen dadurch erschüttert, diese Form der Cession ist die moralische Abdankung Österreichs vom deutschen Kaisertum. Der von Napoleon angetragene Waffenstillstand ist weder von Preußen noch Italien angenommen; und darum war es doch Österreich zu tun, um sich neu zu sammeln und seine Truppen aus Venedig nach dem Norden zu ziehen. Die Preußen sind schon tief in Mähren und rücken auf Wien.

Ich fürchtete vor drei Wochen einen deutschen Bürgerkrieg; nun ist es eine europäische Revolution. Das aufgeregte Deutschland, die größte Geistesmacht der Welt, wird diese so tief umwandeln, wie einst durch die Reformation. Die Folgen der Schlacht von Sadowa sind zum mindesten diese: die Einigung Deutschlands durch Preußen, die Vollendung der italienischen Nationalunabhängigkeit, der Fall des Dominium Temporale, die Absetzung Frankreichs von der über Europa angemaßten Herrschaft. Napoleon III. hat seinen Zenit erreicht.

Am 9. Juli wurde in Florenz das Gesetz der Aufhebung aller Klöster verkündet durch den Prinzen von Carignan, den Stellvertreter Viktor Emanuels.

Der Bruder schrieb vom Leichenbegängnis Rudolfs. Warum durfte dessen für Geschichte so tief empfänglicher Geist nicht diese Epoche erleben? Ich denke viel an ihn und an Pauline; aber die große Zeit hebt über alles Persönliche hinweg und macht es leichter tragen.

 

Rom, 29. Juli

Die Italiener haben am 20. Juli eine Seeschlacht bei Lissa verloren. Die Flotte ging nach Ancona zurück – das Land ist in grenzenloser Aufregung. Die Italiener haben sich sehr schwach gezeigt. Ihr Feldzug war jammervoll. Trotz der günstigen Verhältnisse haben sie nicht den zehnten Teil der Kraft aufzuweisen gehabt, mit dem das kleine Griechenland die Türkei bekämpfte. Von den Niederlanden nicht zu reden. Wortgepränge ohne sichtliche Tatkraft, ausschweifende Phantasie, Unredlichkeit gegen sich selbst und der Mangel bürgerlicher Tugend. Hier tut eine innere Reformation Not.

Preußen hat mit ruhiger Heldenkraft seine Siegesbahn vollendet. Es steht vor Wien. Das veraltete Österreich ist widerstandslos. Es hat sich als besiegt erkannt und den Waffenstillstand am 25. Juli angenommen, dessen Hauptbedingung sein Ausscheiden aus Deutschland ist.

 

Rom, 17. August

Waffenstillstand überall. Friedens-Unterhandlungen. Tiefe Niedergeschlagenheit der Italiener. Ansprüche Napoleons auf den Rhein zurückgewiesen.

Ich bin unfähig zur Arbeit.

 

Caserta, 1. September

Am 19. August verließ ich Rom, um nach Neapel zu fahren; denn dort mußte ich, zur Vervollständigung des Bandes VI, das Staatsarchiv einsehen. Ich wohnte wieder im Hotel Washington, wo ich den alten Commeter fand, der bis jetzt mein Gefährte ist. Ich sah Gar, Lignana, Trinchera und lernte Minieri Riccio, den Direktor der Bibliothek S. Giacomo, kennen. Einmal in Pompeji und Castellamare gewesen; einmal nach Capodimonte gefahren. Viel abends in der Villa. Neapel begann mich zu erwärmen, da mußte ich fort; die Cholera war im Wachsen, und die römische Regierung hatte eine Quarantäne von 15 Tagen eingerichtet. Ich nahm deshalb schon am 25. August meinen Paß, mit Commeter, und reiste gestern nach Caserta in der Hoffnung, hier die Quarantäne abfertigen zu können. Wir haben ein vortreffliches Logis in einem ganz neuen Gasthause und uns für 9–10 Tage eingerichtet. Caserta ist jetzt, statt Capuas, die Hauptstadt der Provinz Terra di Lavoro. Das berühmte große Schloß steht leer.

Am 12. August starb meine ehrwürdige Stiefmutter. Ich erhielt die Nachricht ihres Todes in Neapel. Welch ein schwarzes, todbringendes Jahr!

 

Sora in Campanien, 8. September

Ein Cholerafall zwang uns zur schleunigen Abreise, um nicht die Reihe von gewonnenen Quarantänetagen zu verlieren. Wir gingen fort am 3. September, in Begleitung des Marquis Waddington und seiner Frau aus Perugia, welche sich in demselben Falle befanden. In Rocca Secca stiegen wir auf die Post und fuhren längs des Liris nach Sora. Ich war hier vor sieben Jahren.

Seit dem 3. wohnen wir in einem neuen Gasthof am Liris. Die Briganten lagern zwar in der Nähe der Stadt auf den Bergen von Balsorano, aber dies Land ist nicht gerade unsicher. Nur sind wir verhindert, nach dem Lago di Fucino oder Avezzano zu fahren, welches man in sechs Stunden erreicht. Ein deutscher Ingenieur, der in Isola lebt, erzählte grauenvolle Dinge von der Zeit, als vor dem Fall Capuas 10 000 neapolitanische Marodeurs unter Klitsche Isola und Sora besetzten (im Jahr 1861) und bald darauf das Bandenwesen begann. Chiavone selbst war aus Sora und das Hauptquartier dieser Räuber bildete das nahe Casamari. Sie drangen bis vor die Stadt, so daß die Piemontesen von der Lirisbrücke mit Kanonen auf sie feuerten.

Hier ist als Unterpräfekt Mastricola, ein Römer, den ich besucht habe.

Zeichnung: Gregorovius

Genazzano, 29. 6. 1856

Wir fuhren heute zur Fiera der Madonna dell' Elce, einer unter Eichen in der prächtigsten Gebirgslandschaft gelegenen Kapelle, auf deren Türe geschrieben steht: Columba mea in foraminibus petrae. Dort waren die Soraner in ihrer schönen Tracht zusammengeströmt, und Zelte und Buden standen aufgeschlagen. Das Schauspiel dieser Menschen, schöner, herrlich gebauter Männer und anmutiger Frauengestalten, auf dieser Gebirgsszene war hinreißend. Ich gedachte lebhaft der Zeit, wo ich die Pilgerzüge der Soraner in Genazzano an eben diesem 8. September bewundert hatte.

Ein Telegramm von Ceprano ist an den Syndikus gelangt mit der Erlaubnis für uns, die Grenze zu passieren.

 

Velletri, 22. September

Am 9. September verließen wir Sora, wurden in Ceprano geräuchert und so als nicht infekte Gegenstände nach Rom befördert. Ich blieb dort bis zum 14. September und ging dann nach Velletri, wo ich angenehme Tage mit Lindemanns verlebt habe.

Heute kehre ich nach Rom zurück, um rüstig an mein Werk zu gehen.

 

Rom, 30. September

Die französische Legion von Antibes kam, beschäftigte die Neugierde der Römer einige Tage und ging nach Viterbo. Sie ist 1100 Mann stark, unter dem Befehl des Colonel d'Argy.30 Viele Soldaten tragen die Kriegsmedaillen der Krim und der Lombardei. Der Papst segnete die Truppen im prätorianischen Lager und verteilte Bilder der Madonna unter sie.

Die Kaiserin Charlotte von Mexiko ist gegenwärtig in Rom. Sie wohnt im Hotel di Roma auf dem Corso. Ihre Ehrenwache besteht aus 60 Mann Franzosen mit einer Fahne. Sie machte dem Papst sofort Besuch, welchen er gestern erwidert hat, bei zahllosem Zulauf neugieriger Menschen.

Am 16. September überfielen Banden unter Bantiogna Palermo und bemächtigten sich der Stadt, wo sie sechs Tage lang Herren waren. Am 21. eroberten die italienischen Truppen die Stadt wieder, welche teilweise in Trümmern liegen soll, da sie drei Tage lang von acht Kriegsschiffen beschossen ward. Eine Generation reicht nicht aus, um Süditalien auf einen menschlichen Zustand zu erheben.

Ich habe Nachrichten von dem plötzlichen Tod der geistreichen Frau und der schönen Tochter Pulskys, mit dem ich im vorigen Jahr so oft in Florenz verkehrt habe.

 

Rom, 17. Oktober

Das Tagesgespräch bildet der Zustand der unglücklichen Kaiserin Charlotte. Sie ist geisteskrank. Ihre Begleitung, fast durchaus Mexikaner, hat sie entlassen und ins Hotel Minerva geschickt. Sie drang in den Papst, ihr Wohnung im Vatikan zu geben. Am letzten Dienstag wollte sie nicht sein Zimmer verlassen; sie blieb von 10 bis 12 Uhr bei ihm, kam dann am Nachmittag wieder und blieb bis Ave Maria. Der Papst war in Verlegenheit. Sie fragte ihn wiederholt, ob auch er Gegengifte brauche. Er sagte: »Ja! den Rosenkranz und das Gebet.« Sie fragte, ob der auf dem Tisch liegende Becher der seinige wäre und ob sie ihn nehmen dürfe. Sie steckte ihn ein und schöpfte später daraus Wasser aus der Fontäne auf dem St. Peterplatz. Sie schöpfte auch Wasser aus dem Brunnen Trevi. Sie umwandelte die Säule des Marc Aurel und trank eine Limonade bei einem dortigen Limonaro. Sie fuhr um 9 Uhr nochmals nach dem Vatikan, wo sie schlafen wollte. Man mußte ihr ein Zimmer herrichten, doch sie ging nicht zu Bette. Der Papst ist sehr aufgeregt; wenn er von einer Ausfahrt nach Hause kommt, fragt er ängstlich, ob die Kaiserin da sei. Er hat einmal gesagt: tutto ci viene a noi; ci mancava ancora, che una donna s'impazzisse al Vaticano. Die Kaiserin ließ einmal den Kardinal Antonelli um 11 Uhr nachts rufen – aber der Kardinal ließ sich entschuldigen. Es scheint, daß der kalte Empfang, den sie beim Kaiser Napoleon gefunden hat, sie ganz erschütterte. Der Elende läßt sein Opfer Maximilian untergehen. Sie spricht ihren Abscheu gegen alles Französische aus. Sie verließ eines Tages die Kirche S. M. Maggiore, als sie bemerkte, daß französische Gendarmen dort eintraten. Der Herzog von Brabant wird erwartet, seine Schwester abzuholen. Dies ist das klägliche Ende des Abenteuers von Mexiko.

Am 3. Oktober wurde der Wiener Friede zwischen Österreich und Italien abgeschlossen.

 

Rom, 21. Oktober

Wie sonderbar ist das mysteriöse Schweigen des Papsts und sein langes geheimnisvolles Leben!

Als er zur Regierung kam, war er die magische Gewalt, welche das neue Europa in Bewegung brachte – ein Wirbelwind ergriff ihn und zwang ihn, ein Zauberwort auszusprechen, welches Italien und halb Europa elektrisierte und in Revolution stürzte –, heute eine Mumie, zehnmal totgesagt und doch immer wieder auflebend, Napoleon selbst vielleicht überlebend. Neben ihm Antonelli, fossil geworden, wie sein Gebieter. Rom droht über diesen Menschen zusammenzufallen; sie regen sich nicht und schweigen. Schon bewegt sich deshalb der Klerus in Frankreich; in seinem Hirtenbrief sagt Dupanloup: »Ich muß es aussprechen: unsere Feinde besitzen die Kunst, uns einzuschläfern, wir bleiben stehen mit gekreuzten Armen und mit geschlossenem Mund; wir wagen nicht einmal Proteste der Ehre zu erheben. Freilich, solche Proteste würden ohnmächtig sein, aber wenigstens doch ein Akt der Rache. Denn der Schimpf wider Ehre und Gewissen ist unzerstörlich; die Schuldigen tragen ihn stets auf der Stirn als unauslöschliches Zeichen. Aber nein, als ob alles sich lautlos vollziehen sollte, so betrachtet man, so schweigt man, erwartet man, gleichsam wie angedonnert, die unausbleibliche Katastrophe.«

Am 19. Oktober zogen die Italiener in Venedig ein und der österreichische General Alemann schiffte sich ein nach Triest. Es ist ein tiefer Zug der Notwendigkeit darin, daß Italien und Deutschland durch einander ihre Einheit erringen mußten.

Die Fürstin Wittgenstein sagte mir heute, da wir über den zweiten Teil des ›Faust‹ sprachen: »Ich erinnere mich, wie mir eines Abends Humboldt die Mündung des Orinoko beschrieb: ein großer Strom, der ins Unendliche, in den Ozean, mündet, macht ein Delta und bildet viele kleine zusammenhanglose Inseln. Das ist der zweite Teil des Faust.«

 

Rom, 4. November

Die Septemberkonvention wird ausgeführt. Am letzten Oktober verkauften die Franzosen bereits ihr Inventar in der Engelsburg. Es gab eine Jahrmarktszene, denn der ganze Ghetto war herbeigeströmt. Die Legion von Antibes, welche in Viterbo Garnison hat, scheint sich aufzulösen. Massenhafte Desertionen finden statt. Die Regierung will sie und alle Fremdenkorps (die Zuaven) nach Rom ziehen, dagegen sollen die italienischen Regimenter in das Landgebiet rücken. Fremde werden eher auf das Volk schießen als Italiener. Jedoch fürchtet man kaum ein blutige Katastrophe. Das päpstliche Regiment wird am Marasmus erlöschen. Es heißt, der Papst will nach Malta. Was aber ist der Papst außerhalb Rom? Er würde mit seinen Kardinälen und Prälaten auf Malta nur eine Art Verbrecherkolonie darstellen.

Gladstone ist hier. Er hat alle Kardinäle, Monsignoren, Äbte und einflußreiche Klerikale gesehen, um sich über Meinungen und Dinge zu belehren. Er riet dem Papst, der Notwendigkeit Rechnung zu tragen. Bin ich es, rief derselbe, der die Versöhnung von sich weist? Ich bin Italiener; warum schickt man mir nicht meinen guten alten Vegezzi? – Und doch hielt er bald darauf die heftige Allokution.

Es besuchte mich Arthur Stanley, Dekan von Westminster, ein ältlicher und schwächlich aussehender Herr, der außer englisch nur schlecht französisch spricht. Er fragte viel über Zeremonienwesen der Kirche und drückte sich sonst zurückhaltend über die Lage Roms aus. Viele andere Engländer werden erwartet; indiskrete Gäste, welche aus den Fenstern ihrer Hotels den Fall Trojas und des Priamus ansehen wollen.

Alertz liegt im Sterben. Er kann keine Nahrung zu sich nehmen. Seit 14 Tagen genießt er kaum eine Tasse Bouillon. Der Papst schickte ihm seinen Segen. Heute las Merode die Messe bei ihm und gab ihm die Sakramente. Welch ein schreckliches Jahr!, und es ist noch nicht zu Ende! Der Tod von Alertz wird eine Lücke in mein römisches Leben reißen.

 

Rom, 18. November

Am 10., morgens 10 Uhr, starb Alertz in seinem 66. Jahre. Ich war noch um 7 Uhr dort gewesen, ohne ihn zu sehen. Er kämpfte schon mit dem Tode; es war seit der Nacht das erste Mal, daß er klagte. Ich hörte seinen Todeskampf und ging. Er entschlief ohne Qual. Als der Papst die Nachricht hörte, sagte er: » i buoni sene vanno, i cattivi restano

In S. Giacomo in Augusta auf dem Corso wurden am 12. vormittags seine Exequien gefeiert. Den Vatikan vertrat de Merode. Von Gesandtschaften waren anwesend Preußen und Holland (Graf Duchatel). Nachmittags um 3 Uhr zog der Leichenzug von jener Kirche nach dem Campo Santo der Deutschen im Vatikan. Er war höchst ärmlich, wie es einem Weisen geziemte, welcher seinem persönlichen Wert eine ausgebreitete Beziehung zur Welt verdankte, aber selbst in Armut stand. Die Beerdigung dauerte, nach katholischer Sitte, lange, fast zwei Stunden. Ein Kastellan hielt eine schwülstige Grabrede. Die Brüderschaft der Deutschen umstand mit Fackeln den Sarg von weißem Holz, den man noch einmal öffnete, um die Wirklichkeit der Leiche zu bestätigen. So ging einer meiner besten römischen Freunde von mir, mit welchem ich fast täglich verkehrte und hundert Berührungen wegen meiner ›Geschichte der Stadt Rom‹ hatte. Aus seiner Bibliothek entnahm ich die ersten Bücher dazu. Er selbst besaß ein seltenes Wissen vom Papsttum, zumal moderner Zeit. Er hatte Jahre lang hinter den Kulissen des Vatikans sich umgesehen und eine unglaubliche Menge von Bekanntschaften mit den höchsten Prälaten der katholischen Welt.

Die römische Kirche steht in derselben Situation fest. Nur das ist unzweifelhaft, daß Napoleon die Septemberkonvention ausführt. Die Römer fürchten die Abreise des Papsts. Ginge er, so würde er Italien in Parteikämpfe stürzen und am Ende das Ausland hereinziehen. Die Papisten selbst dürfen sich erinnern, was die Folge des Exils von Avignon gewesen ist.

Gestein besuchte ich Herrn von Hübner. Von Politik wurde nicht gesprochen.

Es kamen hierher Adolf Stahr und Fanny Lewald. Stahr ist leidend. Er machte mir einen besseren Eindruck, als ich in Berlin von ihm hatte und überhaupt erwartete.

 

Rom, 2. Dezember

In der letzten Hälfte des Novembers wurde eine Schrift ausgegeben: ›II Senato di Roma e il Papa di Roma‹, unter dem Namen Stefano Porcaro und mit dem Druckort ex aedibus Maximis. Gespenster gehen wieder in Rom um und alte Ideen erwachen, gleich den Siebenschläfern von Ephesus. Die Schrift fordert die Römer auf, nach Abzug der Franzosen, auf dem Kapitol den Senat und die munizipale Gewalt wiederherzustellen. Wenige Tage darauf erschien das Zirkular Ricasolis an die Präfekten. Ich sehe oft nachts aus meinem Zimmer den finsteren Vatikan, wo nur ein einsames Licht geisterhaft brennt. Ist es das Licht, bei welchem der sorgenvolle Papst wacht? Man spricht davon, daß Waffen in den Klöstern aufgehäuft werden, daß Briganten heimlich hereinkommen, um zur Zeit losgelassen zu werden. Rom ist ruhig. Die Physiognomie der Stadt unverändert.

Morgen geht das 85. Linienregiment nach Civitavecchia ab, um sich einzuschiffen. Der Abzug der Franzosen beginnt.

Das Buch XI meines Manuskripts ging am 20. November über Paris an Cotta ab.

Gervinus ist hier angekommen. Ich sah ihn noch nicht.

 

Rom, 7. Dezember

Die Rede ging, daß der Papst am 4. Dezember nach Civitavecchia reisen sollte, um die neuen Hafenbauten zu besichtigen, oder, wie man meinte, um zu prüfen, ob er dort unter dem Schutz seiner Truppen seinen Sitz nehmen könne. Eine Karikatur stellte ihn als Reisenden am Hafenstrand dar; alle Marinekapläne der Schiffe, welche die fremden Mächte dort hingeschickt haben, eilen auf ihn zu, jeder mit ausgestrecktem Finger rufend: » vengo?« (wie Droschkenkutscher rufen). Vegezzi hat die Übernahme der Vermittlung abgelehnt; statt seiner sollen Tonello und Maurizio nach Rom kommen.

Am Sonnabend waren die Drucker der ›Stamperia camerale‹ im Vatikan unter Verschluß. Sie druckten, niemand wußte zu sagen was; es hieß, Dokumente über das tyrannische Verfahren Rußlands mit dem Klerus in Polen, Instruktionen an die Bischöfe, Manifeste an Europa, Korrespondenzen, welche die am Heiligen Stuhl begangene Treulosigkeit Napoleons offenbar machen sollen.

Heute in der Frühe rückte auch das 71. Linienregiment nach Civitavecchia ab.

Gestern verabschiedete sich der kommandierende General Montebello mit allen Offizieren im Vatikan.

 

7. Dezember

Heute übergaben die Franzosen auch die letzten Posten in Rom an die Päpstlichen, bis auf die Engelsburg, welche am 12. übergeben werden soll. Römische Wachen haben alle Tore bezogen, das Kapitol und die ehemalige Hauptwache auf Platz Colonna.

Ich war eben dort und traute meinen Augen nicht. Die Römer, seit 17 Jahren an den Anblick dieser französischen Krieger gewöhnt, von denen ein jeder ein Ritter zu sein scheint, staunen jetzt die päpstlichen Bleisoldaten an, welche an deren Stelle getreten sind. Ich besuchte eben die römischen Wachen im Tor del Popolo – ein sonderbarer Anblick bei finstrer Nacht. Um römisch 1 Uhr nachts rasselte sonst der französische Zapfenstreich durch den Corso, und tags erschallten die kriegerischen Märsche der Bataillone durch die Straßen – jetzt ist alles grabesstill.

Im Volk geht die Rede, daß am 20. Unruhen stattfinden werden. Man warnt einander, Häuser und Läden zu schließen. 20 000 Mann stehen auf der italienischen Grenze; schwere Kavallerie steht bis Narni. Die dortigen Offiziere bestellen unter der Hand Quartier in Rom, als ob ihr Einrücken eine ausgemachte Sache sei.

Ich sah den Papst heute am Schluß der Novena der Immaculata in Santi Apostoli. Der Platz war dichtgedrängt voll Menschen. Es waren nicht allein die Klerikalen, es waren auch die Römer überhaupt, die diesen unseligen Greis betrachten wollten. Als er abfuhr in dem prachtvollen Aufzuge, welcher für Rom so charakteristisch ist, grüßte ihn alles entblößten Haupts und mit Zuruf. Er zeigte sich nicht am Wagenfenster. Wohl hielt ihn tiefe Bewegung zurück; denn vielleicht ist es das letzte Mal, daß Pius IX. die festliche Stimme Roms vernommen hat.

Gestern am Abend war ich beim Duca di Sermoneta, wo ich den Grafen und die Gräfin Rzewuski aus Krakau kennenlernte. Vorher war ich mit Schlözer in die Villa Massimo gegangen, die ehedem Sixtus V. gebaut hatte, und dann in das prätorianische Lager.

Es ist ein Glück, daß ich in dieser geschäftlichen Krisis freie Hand und freien Sinn habe, Rom zu beobachten. Denn in vier Tagen ist auch der letzte Teil des sechsten Bandes druckfertig. Wenn ich ihn jetzt erst schreiben sollte, wie wäre das in diesen Aufregungen möglich?

 

Rom, 10. Dezember

Morgen läuft die Septemberkonvention ab.

Heute in der Frühe war ich nach Castel S. Angelo gegangen, um zu sehen, ob noch die französischen Wachen dort ständen. So war es; man wußte mir nicht zu sagen, wann die Übergabe stattfinden würde. Gestern zog Montebello die französische Fahne im Palast Ruspoli ein, wo er wohnte. Auch das Platzkommando hörte auf. Die Banca Romana bleibt heute Nacht ohne Wache.

Morgen werden die Franzosen verschwunden sein, bis auf die Reste der Intendantur und ein paar Batterien. Auch die Husaren sind noch hier; alles Fußvolk ist abgerückt.

Seit vier Tagen weckte mich jeden Morgen zwischen 4 und 5 Uhr der Abmarsch von Truppen, die mit klingendem Spiel durch die Stadt zogen, teils Franzosen und teils Päpstliche, die ins Landgebiet abgingen.

Es ist heute ein geschichtlicher Tag. Denn der Abzug der Franzosen von Rom bezeichnet eine Epoche im Leben des Papsttums, dessen weltliche Gestalt untergeht; Europa entzieht ihm seinen Schutz und verurteilt es dadurch zum Tode oder zu einer unserer Gesellschaftsverfassung entsprechenden Reform. Mexiko, Preußen, Rom sind die Rückzugslinien der Macht Napoleons, welcher jetzt seine Aufgabe vollbracht hat und dessen Stern niedersinkt. Große Zeiten sind im Aufsteigen. Sie werden sich bewegen um die neue deutsche Weltmacht und die katholische Reform.

Gestern sah ich einen Transport Zuaven durch das Tor S. Lorenzo hereinkommen. Morgen rückt ein ganzes Regiment ein. Davon sind drei Kompanien nach Viterbo beordert, neben den päpstlichen Jägern die Antibianer abzulösen. Die Zuaven werden den Borgo und das Kastell beziehen; die Antibianer das Viertel Monti und den Platz Barberini. Im Ganzen werden 7000 Mann die Garnison Roms bilden. Die Stadt ist tief ruhig. Man glaubt, daß sie das bleiben werde. Doch rechnet man auf die Erhebung Viterbos.

Die Schweizergarde richtet sich so ein, daß sie jeden Augenblick Rom mit dem Papst verlassen kann.

Heute spricht man wieder davon, daß die Kaiserin Eugenie doch nach Rom kommen wird.

Es sind wundervolle Tage – ein sonniger Winter, frisch und stählend.

Man weiß jetzt, was die päpstlichen Setzer im Vatikan druckten. Es waren die Dokumente über das Verfahren Rußlands mit dem Klerus in Polen. Sie sind in einem Bande zusammengefaßt, welcher an die Gesandten verteilt worden ist.

Der Papst ist im Besitz einer großen Korrespondenz mit Napoleon III. seit 1849. Wenn man diese Briefe kennte! Der Papst wollte sie drucken lassen und in die Welt schicken. Aber man drohte ihm aus Paris, und so unterblieb es.

 

Rom, 11. Dezember

Heute um 9 Uhr morgens sagte mir Cartwright, daß er eben von der Engelsburg komme, die um 8 Uhr übergeben sei. Ich war erstaunt, denn gestern nachts hatte mir Cesare Tommasi vom Kriegsministerium gesagt, daß die Übergabe schon um 5 Uhr nachmittags geschehen sei. So bin ich um diesen Moment gekommen. Ich ging indeß zur Engelsburg; da flatterte das päpstliche Banner hoch neben dem ehernen Erzengel.

Die Zuaven sind alle eingerückt. Heute um 3 Uhr zogen auch die Antibianer ein. Ich sah vier Zuaven, von päpstlichen Jägern gefangen, in die Engelsburg abführen.

 

Rom, 16. Dezember

Am 14. haben sich die letzten französischen Truppen in Civitavecchia eingeschifft, so daß heute in der Tat in ganz Italien kein fremdes Banner mehr weht. Das hebt Viktor Emanuel in seiner gestrigen Thronrede hervor.

Tonello ist vom Papst empfangen worden. Seine Mission bezieht sich nur auf geistliche Angelegenheiten, nämlich die Ernennung der Bischöfe Italiens. Seit dem 7. legt man in der Romagna Hand an die Kirchengüter, welche zum Fiskus geschlagen werden. Loreto allein wird auf 5 Millionen Francs geschätzt.

Die bisher in Rom exilierten Bischöfe sind abgereist; Riario Sforza, Erzbischof von Neapel, hat von dort bereits einen Hirtenbrief erlassen.

Ich habe mit Gervinus ein Gespräch über die Zustände in Deutschland gehabt. Er ist ein Feind von allem, was durch Preußen geschehen ist. Er weissagt Unheil aus der Vereinigung Deutschlands durch diese Macht. Sein Ideal sind die Vereinigten Staaten; und nach seiner Ansicht sollte Deutschland ein föderativer Staat sein. Diese Grundsätze hat er schon in seiner Einleitung zur ›Geschichte des 19. Jahrhunderts‹ ausgesprochen, an deren Schluß er als Zukunft Deutschlands voraussagte, daß es, zur Kraft gelangt, die Aufgabe haben werde, seine Nachbarstaaten zu zwingen, sich in föderative Körper aufzulösen. Auch ich halte die föderative Verfassung für die in Deutschland als historisch begründete. Aber wie sollten wohl Frankreich, Rußland, Italien die gewonnene Einheit preisgeben und sich in Provinzen auflösen? Ich bemerkte Gervinus, daß heute nicht mehr möglich sei, was vor Dezennien möglich war, da die Geschichte, welche früher mit kleinem Kapital gewirtschaftet hat, jetzt mit großem arbeitet. Dies ist die Folge der Eisenbahnen und Telegraphen, welche Reiche zusammenschrumpfen lassen und daher mit Notwendigkeit die politischen Unterschiede innerhalb der Nationen austilgen müssen. Es wird die Zeit kommen, wo Europa selbst eine Föderativrepublik sein wird, gebildet aus wenigen Nationen, den Familien dieses Weltteils.

Vorgestern sprach ich mit ihm über das Papsttum. Er meinte, daß die Welt schon reif sei, den Papst abzuschaffen. Ich zeigte auf die noch unzerbrochene Maschinerie der katholischen Kirche, die den Papst, den großen Stift, um welchen sich dieselbe bewegt, nicht kann fallen lassen, ohne selbst auseinanderzufallen. Ich zeigte auf den Klerus in Frankreich und das eines reformatorischen Gedankens unfähige Italien, Spanien usw. Und ich erinnerte ihn an den Ausspruch Macaulays: »Das Papsttum wird noch dauern, wenn einst ein Reisender aus Neuseeland auf einem zerbrochenen Bogen von London Bridge steht, um die Ruinen von St. Paul zu betrachten.« Gervinus überträgt Theorien vom Arbeitstisch auf das praktische Leben, wie die meisten deutschen Gelehrten. Den Geist der Italiener wagte er zu beurteilen nach zufälligen Schimpfreden über den Papst, die er auf der Reise aus dem Munde Einzelner gehört hatte. So legte er Wert darauf, daß ihm ein paar Frauen in Rom gesagt hatten, sie würden sich nichts daraus machen, wenn der Papst fortginge, um nie zurückzukehren. Er legte der offenen Feindschaft Garibaldis gegen den Katholizismus Wichtigkeit bei. Ich sagte ihm, daß dies nichts Neues wäre, daß der Papst und das Priestertum zu jeder Zeit in Italien Gegenstand der Satire gewesen seien und doch Italien stets beherrscht haben. Ich erinnerte ihn an die Anekdote Boccaccios von dem in Rom belehrten Juden und sagte ihm, daß die Römer, wenn sie den Papst aus einem Tor verjagt haben, ihn unfehlbar zu dem anderen hereinrufen würden.

Gervinus ist ein stattlicher Mann von bedeutender Erscheinung, doch von professorenhafter Schwerfälligkeit im Wesen.

Er sagte mir, daß die Auflage seiner ›Geschichte des 19. Jahrhunderts‹ 8000 Abzüge stark sei. Hier beschäftigt er sich mit einer Schrift über Musik.

 

Rom, 31. Dezember

Am 25. Dezember ging auch das Buch XII mit einem preußischen Kurier nach Deutschland. So ist das Manuskript befördert worden. Die Vollendung des sechsten Bandes war das einzige reale Gute, was mir in diesem Jahre der Trauer widerfahren ist. Das Jahr 1866, groß und heilsam für die Menschheit, verderbend und zerstörend für so viele Einzelne, geht dahin, und seine letzten Stunden erscheinen mir selbst wie die letzten Tropfen aus einem Wermutsbecher.


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