Ferdinand Gregorovius
Lucrezia Borgia
Ferdinand Gregorovius

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IV

Seit ihrem Einzüge in das Schloß der Este gehörte Lucrezia völlig neuen Verhältnissen, neuen Interessen, man darf sagen einer für sie neuen Welt an. Sie fand sich als Fürstin in einem der ansehnlichsten Staaten Italiens und in einer fremdartigen Stadt, welche erst seit einem halben Jahrhundert so bedeutend geworden war, daß der Geist der italienischen Nationalkultur in ihr eine neue Stätte und Form gefunden hatte. Sie sah sich aufgenommen in ein hochberühmtes Fürstengeschlecht, um welches Alter und Geschichte einen romantischen Glanz verbreiteten. Ein grenzenloses Glück hatte sie in dieses edle Haus geführt, dessen sie selbst sich nun würdig machen sollte.

Der Stamm der Este war neben dem der Herzöge von Savoyen der älteste und vornehmste Italiens, und er verdunkelte diesen durch die wichtige Stellung, welche der Staat Ferrara schon auf Grund seiner geographischen Lage einnahm.

Dies ist in Kürze die Geschichte der Este:

Die Herren, welche ihren Feudalnamen von einem kleinen Kastell zwischen Padua und Ferrara trugen, stammten von der langobardischen Einwanderung her und von einer Familie, deren Stammvater Albert hieß. Die Namen Adalbert und Albert erhielten im Italienischen die Form Oberto, die sich als Diminutiv wiederum in Obizzo und Azzo verwandelte. Im 10. Jahrhundert erscheint ein Markgraf Oberto, welcher erst Anhänger des Königs Berengar, dann Ottos des Großen war. Es ist unbekannt, von welchem Ländergebiet er und seine nächsten Nachkommen den Markgrafentitel führten, doch waren sie große Herren in der Lombardei wie in Toskana. Ein Urenkel Obertos, Alberto Azzo II., wird urkundlich Marchio de Longobardia genannt; er war mächtig von Mantua bis zum adriatischen Meer und bis in das Gebiet des Po, wo er Este und Rovigo besaß. Er vermählte sich mit Kunigunde, der Schwester des Grafen Welf III. von Schwaben, wodurch das berühmte deutsche Geschlecht der Welfen mit dem der Oberti in Verbindung kam und in die italienischen Verhältnisse gezogen wurde. Als Alberto Azzo im Jahre 1096 mehr als hundertjährig starb, hinterließ er die Söhne Welf und Folco. Diese wurden die Stammväter des Hauses der Este in Italien und des Welfenhauses Braunschweig in Deutschland. Denn Welf erbte die Güter seines mütterlichen Großvaters Welf III., mit dem im Jahre 1055 der Mannesstamm seines Hauses erloschen war. Er ging nach Deutschland, wo er Herzog von Bayern wurde und die Welfenlinie begründete.

Folco erbte die italienischen Besitzungen seines Vaters und setzte den Stamm der Este fort. In dem großen Kampf der deutschen Kaiser mit dem Papsttum waren die Markgrafen von Este wilde und unermüdliche Streiter, erst eifrige Anhänger, dann Häupter der Guelfenpartei, und das begründete ihre Macht auch in Ferrara.

Diese Stadt war aus unbekannten Anfängen und wohl erst nach der Völkerwanderung entstanden. Seit der Schenkung Pippins und Karls beanspruchte ihren Besitz die Kirche. Auch in der Mathildischen Schenkung war sie einbegriffen. In jenen Kriegen zwischen Papst und Kaiser, welchen der Streit um das Erbe Mathildens Nahrung gab, erlangte Ferrara die Autonomie als Republik.

Es war gegen das Ende des 12.Jahrhunderts, daß die Este anfingen, hier aufzutreten. Der Enkel Folcos, Azzo V., vermählte sich damals mit Marchesella Adelardi, der Erbin des Hauptes der Guelfen in jener Stadt, während Salinguerra dort Haupt der Ghibellinen war. Seither gewannen die Markgrafen von Este Einfluß in Ferrara. Sie wurden die Führer der Guelfenpartei auch in Oberitalien.

Im Jahre 1208 glückte es Azzo dem VI., Salinguerra aus Ferrara zu vertreiben, und diese Stadt hatte der lange Parteikrieg so tief ermüdet, daß sie den Sieger zu ihrem erblichen Podestà machte. Dies war das erste Beispiel der Unterwerfung einer freien Republik unter einen Herrn. So gründeten die Este die erste Dynastengewalt auf den Trümmern einer Stadtgemeinde. Der kühne Salinguerra, eine der merkwürdigsten Heldengestalten aus der Hohenstaufenzeit Italiens, warf Azzo und auch dessen Nachfolger Azzo VII. wiederholt aus Ferrara, bis er endlich im Jahre 1240 erlag und im Kerker sein Leben endigte. Seither wurden die Este die Gewalthaber Ferraras.

Für einige Zeit, während des Beginns des Avignonischen Exils der Päpste, durch die Kirche von dort verjagt, kehrten sie im Jahre 1317 wieder, gerufen von den Bürgern, welche sich gegen die Statthalter jener empört hatten. Johann XXII. bestätigte sie durch ein Investiturdiplom, wonach sie Ferrara von der Kirche zu Lehn trugen, gegen den Jahreszins von zehntausend Goldgulden. Die Este richteten sich nun als Tyrannen in Ferrara ihren Staat ein, welchem die Fortdauer der Dynastie unter vielen Kriegen Bestand gab. Und diese Dynastie war nicht, wie diejenigen fast aller italienischen Herrschaften, das Produkt augenblicklicher Eroberungen illegitimer Emporkömmlinge, sondern alt, erblich und festgewurzelt.

Mit Aldobrandino, dem Herrn von Ferrara, von Modena, Rovigo und Comacchio, begann eine Reihe meist ausgezeichneter Fürsten zur Herrschaft zu gelangen, durch welche der kleine Staat Ferrara zu der Bedeutung gehoben wurde, die er am Anfang des 16. Jahrhunderts besaß. Auf Aldobrandino folgten seine Brüder, Nicolò von 1361 bis 1388, und Alberto bis 1393. Dann herrschte dessen Sohn Nicolò III., ein mächtiger und kriegerischer Mann, bis zum Jahr 1441. Da seine legitimen Kinder Ercole und Sigismondo unmündig waren, wurde sein Bastard Lionello sein Nachfolger. Dieser Fürst setzte nicht allein fort, was sein Vater begründet hatte, sondern er machte Ferrara zu einem angesehenen Staat. Der große Alfonso von Neapel gab ihm im Jahr 1444 seine Tochter Maria zur Gemahlin, und so traten die Este in die engste Verbindung mit dem Königshause Aragon. Lionello war klug und liberal, ein Pfleger aller Künste und Wissenschaften, ein Fürst »unsterblichen Namens«. Im Jahre 1450 folgte ihm sein Bruder Borso, Bastard wie er, indem man auch jetzt die legitimen Söhne Nicolaus' III. zu übergehen wagte.

Borso war einer der glänzendsten und prächtigsten Fürsten seiner Zeit. Friedrich III. machte ihn, als er sich auf der Heimkehr von seiner Kaiserkrönung in Ferrara aufhielt, zum Herzog von Modena und Reggio, zum Grafen von Rovigo und Comacchio, welche Länder alle zum Reich gehörten. Seither nahmen die Este, deren Wappenzeichen ein weißer Adler gewesen war, den schwarzen Reichsadler an, wozu sie die Lilien Frankreichs fügten, die einst Karl VII. ihnen verliehen hatte. Am 14. April 1471 erhob auch Paul II. in Rom Borso zum Herzog von Ferrara. Kurze Zeit darauf starb dieser berühmte Fürst am 17. Mai, unvermählt und kinderlos.

Auf ihn folgte Ercole, der legitime Sohn Nicolaus' III., so daß die Regierung an den echten Stamm der Este zurückkehrte, nachdem Ferrara gerade durch zwei Bastarde zu größerer Bedeutung erhoben worden war. Im Juni 1473 vermählte sich Ercole mit Eleonora von Aragon, der Tochter Ferdinands von Neapel, unter prächtigen Festlichkeiten. Seither waren bis zu dem Tage, wo dieser zweite Herzog von Ferrara Lucrezia mit gleicher Pracht seinem Sohn vermählte, neunundzwanzig Jahre unter vielen Kämpfen hingegangen. Ercole hatte die größte Gefahr, die seinem Staat drohte, den Krieg Venedigs und des Papstes Sixtus IV. wider ihn im Jahre 1482, glücklich, doch nicht ohne Abtretung einiger Gebiete an die Venezianer, zu Ende geführt. Aber dieselbe Gefahr konnte sich erneuern; die ärgsten Feinde Ferraras blieben Venedig und die Kirche. Politische Rücksichten zwangen ihn daher, sich an Frankreich anzuschließen, welches Mailand beherrschte und vielleicht Neapel dauernd an sich bringen konnte. Sie hatten ihn auch genötigt, seinen Sohn mit Lucrezia Borgia unter den vorteilhaftesten Bedingungen zu vermählen. So konnte sich Lucrezia der hohen Bedeutung ihrer Person für den Staat Ferrara bewußt sein, und das gab ihr das Gefühl der Sicherheit gegenüber dem edlen Hause, dem sie jetzt angehörte.

Der Herzog wies den Vermählten das Kastell Vecchio zu ihrer Residenz an; dort richtete Lucrezia ihren Hofstaat ein. Dieses berühmte Schloß dauert noch als eines der imposantesten Monumente des Mittelalters. Es überragt ganz Ferrara und ist auf Meilenweite sichtbar. Seine dunkelrote Farbe, sein düsterer Ernst bei vollkommen zu nennender architektonischer Regelmäßigkeit, seine vier mächtigen Türme bringen eine fast schauerliche Wirkung hervor, zumal wenn sich in der Mondnacht der Schatten dieser Türme in dem Wasser der Gräben spiegelt, von denen die Burg noch heute wie in alten Zeiten umgeben ist. Dem Betrachter erscheinen dann die Gestalten der merkwürdigen Menschen, welche dies Schloß einst bewohnt oder belebt haben, Ugo und Parisina Malatesta, Borso, Lucrezia Borgia und Alfonso, René von Frankreich und Calvin, Ariosto, Alfonso II., der unglückliche Tasso und Eleonora.

Das Kastell Vecchio hatte der Marchese Nicolò im Jahre 1385 errichten lassen, infolge eines Aufstandes der Bürgerschaft. Seine Nachfolger vollendeten dasselbe und schmückten es im Innern aus. Bedeckte Gänge verbanden es mit der Residenz gegenüber dem Dom. Ehe Ercole Ferrara nach der Nordseite erweiterte, stand diese Burg am Ende der Stadt und an ihren Mauern. Einer der Türme des Schlosses, Turm des Löwen genannt, deckte dort das Stadttor. Ein Poarm, welcher damals nahe vorüberfloß, versorgte die Gräben mit Wasser, und über diese führten Zugbrücken.

Zur Zeit Lucrezias war überhaupt die Gestalt des Schlosses nur in seiner wesentlichen Form die heutige; denn die Turmaufsätze sind späteren Ursprungs; die Türme selbst waren niedriger; sie und alle Mauern hatten Zinnen, wie die Burg der Gonzaga in Mantua. Ringsum standen die Kanonen, welche Alfonso hatte gießen lassen. Das Innere bildete einen viereckigen, gepflasterten Hof mit Arkaden. Man zeigte dort Lucrezia die Stelle, wo Nicolaus III. im Jahre 1425 seinen unglücklichen Sohn Ugo und dessen Stiefmutter, die schöne Parisina, hatte enthaupten lassen, und diese grauenvolle Stätte mahnte die Tochter Alexanders, ihrem Gatten treu zu sein.

Breite Marmortreppen führten in die zwei Geschosse der Burg, von denen das untere die Residenz der Fürsten war, eine Reihe von Sälen und Gemächern. Im Lauf der Zeit sind diese so verändert worden, daß auch die kundigsten Kenner Ferraras gestehen, nicht mehr zu wissen, wo die Wohnung Lucrezias lag. Auch von den Gemälden, mit welchen die Este ihr Schloß schmücken ließen, ist wenig mehr übrig geblieben, als einige Fresken von Dossi und einem anderen Meister.

Dieses Schloß war immer eine düstere Residenz von fast bedrückender Schwere. Es entsprach dem Charakter Ferraras. Denn noch heute macht diese Stadt den Eindruck von monotonem Ernst. Wenn man von den Zinnen der Burg auf die meilenweite, reich bebaute aber doch einförmige Fläche blickt, deren Horizont nicht schön ist, weil die Alpen Veronas nur in der Ferne sich andeuten, und der nähere Apennin sich nicht bedeutend genug darstellt; wenn man in die schwärzlichen Massen der Stadt selbst niederblickt, so wundert man sich, daß hier die heitere Dichtung Ariostos entstanden ist. Denn den Himmel, das Land und das Meer für seine Inspiration würde man eher in jenem elysischen Sorrento suchen, welches die Wiege Tassos war: ein Beweis mehr für die oft wahrgenommene Wahrheit, daß die dichterische Phantasie vom Lokal unabhängig ist.

Ferrara liegt in einer ungesunden Ebene, welche die Arme des Po und viele Kanäle durchschneiden. Der Hauptstrom selbst gibt weder der Stadt noch ihrer Landschaft Leben, weil er mehrere Millien entfernt bleibt. Feste Mauern mit vier Toren umgaben die Stadt von allen Seiten. Außer dem Kastell Vecchio am Nordende bestand noch zur Zeit Lucrezias das Kastell Tealto oder Tedaldo auf der südwestlichen Seite. Diese Festung stand an einem Poarm und hatte ein Tor, durch welches man in die Stadt ging, während eine Schiffbrücke in die jenseitige Vorstadt Sankt Georg führte. Durch jenes Tor hatte Lucrezia ihren Einzug gehalten. Heute besteht nichts mehr vom Kastell Tedaldo. Es wurde im Anfang des 17. Jahrhunderts abgerissen, als der Papst, nach der Vertreibung des Nachkommen Alfonsos aus Ferrara, die neue große Festung erbauen ließ.

Geräumige Plätze und regelmäßige Straßen mit Portiken durchzogen Ferrara. Auf dem Hauptplatz stand der Dom, ein ansehnlicher Bau gotisch-lombardischen Stils vom Jahre 1135, wo er geweiht wurde. Seine hohe, dreifach geteilte und gegiebelte Fassade mit drei Reihen von halbgotischen und romanischen Bogen, die auf Säulen ruhen, und mit den altertümlichen Skulpturen, von der Zeit ganz geschwärzt, macht eine befremdende Erscheinung von mittelalterlicher Originalität und bizarrer Romantik. Nichts überrascht heute in Ferrara so sehr, als der erste Anblick dieser Domfassade. Man glaubt eine Gestalt aus der Fabelwelt Ariostos vor sich zu sehen. Gegenüber der einen Langseite der Kathedrale steht noch der gotische Palast della Ragione und standen zwei alte Türme, von denen der eine Rigobello hieß. Der Fassade gegenüber lag die Residenz der Este, worin Ercole wohnte und wo einst Eugen IV. gewohnt hatte, als er das berühmte Konzil in Ferrara hielt. Vor ihr erhoben sich die Standbilder der zwei großen Fürsten Ferraras, Nicolaus' III. und Borsos, die erste eine Reiterfigur, die andere eine sitzende Statue, beide auf Säulen gestellt und deshalb von kleinen Verhältnissen. Die verstümmelten Säulen stehen noch am Durchgangsbogen; die Statuen wurden im Jahre 1796 zerstört.

Die Este wetteiferten mit anderen Fürsten und Republiken im Bau von Kirchen und Klöstern, an denen Ferrara noch reich ist. Die ansehnlichsten derselben waren um das Jahr 1500 S. Domenico, S. Francesco, S. Maria in Vado, S. Antonio, S. Giorgio vor der Porta Romana, das Kloster Corpus Domini und die Certosa. Alle sind mehr oder weniger erneuert worden, und obwohl einige durch schöne Verhältnisse und Räumlichkeit ausgezeichnet sind, haben sie doch keine hervorragende künstlerische Individualität.

Seit dem 15.Jahrhundert erfüllte sich auch Ferrara mit Palästen, die noch jetzt die verödete Stadt zieren und bedeutende Glieder in der Geschichte der Baukunst zu nennen sind, von der Frührenaissance bis zum Übergang in den Barockstil. Manche sind in kläglichem Verfall. Am Ende des 14. Jahrhunderts baute der Markgraf Alberto die Paläste del Paradiso (die heutige Universität) und Schifanoja. Ercole errichtete den Palast Pareschi. Überhaupt war er der Erneuerer Ferraras. Er erweiterte die Stadt, indem er ihr nach Norden ein neues Quartier hinzufügte, die Addizione Erculea. Sie ist noch heute der glänzendste Stadtteil des modernen Ferrara. Zwei lange und breite Straßen durchschneiden denselben, der Corso di Porta Po mit seiner Fortsetzung Corso di Porta Mare, und die Strada dei Piopponi. Wenn man diese totenstillen Straßen durchwandert, erstaunt man über die lange Reihe von schönen Palästen der Renaissance, die noch die Denkmäler eines reichen Lebens sind, welches jetzt ausgestorben ist. Ercole legte dort einen großen Platz an, um welchen her der Adel Paläste aufführte. Er heißt heute Piazza Ariostea, weil in seiner Mitte das Denkmal des großen Poeten steht. Es ist vielleicht das schönste eines Dichters überhaupt; denn hoch und frei erhebt sich dies marmorne Standbild auf einer herrlichen Säule, so daß es auf ganz Ferrara niederblickt. Auch die Geschichte dieses Monuments gibt ihm einen hohen Reiz. Ursprünglich sollte auf dem Platz die Reiterstatue Ercoles über zwei Säulen aufgestellt werden. Man brachte dieselben zu Schiff auf dem Po herbei, und die eine versank. Die andere benutzte man im Jahre 1675, um das eherne Standbild des Papstes Alexander VII. darauf zu stellen. Dieses wurde in der Revolution des Jahres 1796 herabgeworfen und durch die Statue der Freiheit ersetzt, deren feierlicher Aufstellung der General Napoleon Bonaparte beiwohnte. Drei Jahre später warfen die Österreicher die Freiheit von der Säule herab, welche stehen blieb, bis im Jahr 1810 die Kaiserstatue Napoleons darauf erhoben wurde. Sie fiel, als der Kaiser selbst unterging, und im Jahre 1833 stellte Ferrara auf ebendiese Säule das Standbild Ariostos. Kein Wechsel politischer Herrschaft und keine Menschenhand wird jemals mehr dieses Bild von dem hohen Kapitell herabstürzen, wo es seine unsterbliche Dichtung schützt.

In den neuen Anlagen Ercoles entstanden prächtige Paläste. Sein Bruder Sigismondo baute den großartigen Palast Diamanti, worin heute die Bildergalerie Ferraras aufgestellt ist. Die Trotti, Castelli und Sacrati, und die Bevilacqua errichteten ihre Privatpaläste, die noch dauern. Ein reicher Adel, zum Teil alten Grafengeschlechtern angehörend, bewohnte überhaupt Ferrara; es gehörten zu ihm außer jenen Familien die Contrarii, Pii, Costabili, die Strozzi, Saraceni und Boschetti, die Roverella, Muzzarelli und Pendaglia.

Die ferrarische Aristokratie war längst aus der Periode der städtischen Parteikämpfe und des feudalen Trotzes herausgetreten und höfisch geworden. Die Este und namentlich der kriegerische Nicolaus III. hatten diese Barone, welche ursprünglich auf ihren Landburgen saßen, unterworfen und gezähmt. Sie waren jetzt im Fürstendienst, bekleideten die ansehnlichsten Hof- und Staatsämter und dienten als Hauptleute im Heer. Sie nahmen auch, und vielleicht lebhafter als es der Adel in anderen Staaten Italiens tat, an der geistigen Kultur Anteil, weil diese selbst wesentlich das Werk der Fürsten von Este war. Manche Namen großer Herren glänzen deshalb in der Literatur Ferraras jener Zeit.

Die Hochschule blühte dort schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts so sehr empor, daß sie neben Padua und Bologna eine der berühmtesten Italiens war. Der Markgraf Alberto hatte sie im Jahre 1391 eröffnet, dann reformierte sie Nicolaus III. Ihren Glanz gaben ihr Lionello und Borso. Lionello war Schüler des berühmten Guarino von Verona und selbst in allen Wissenschaften hoch gebildet, der Freund und auch der Abgott der Humanisten seines Zeitalters. Mit Begeisterung sammelte auch er seltene Handschriften oder ließ sie kopieren. Er begründete die Bibliothek, und Borso setzte diese Bestrebungen mit gleichem Eifer fort.

Schon im Jahre 1474 zählte die Universität Ferrara fünfundvierzig wohlbesoldete Professoren. Ercole vergrößerte sie. Im ersten Jahre seiner Regierung wurde auch der Buchdruck eingeführt.

Im Naturell des Volkes von Ferrara scheint, wie im Wesen der Stadt, ein Grundzug von Ernst hervorzutreten, welcher die Spekulation und die Kritik, wie die exakten Wissenschaften beförderte. Aus Ferrara ging Savonarola hervor, der fanatische Prophet in der moralischen Wüste der Zeit der Borgia, und wohl mochte sich Lucrezia oft dieses Mannes erinnern, in welchem ihr Vater den Protest aller noch gläubigen oder sittenreinen Menschen gegen sein Papsttum durch Henkershand hatte ersticken lassen.

Die Astronomie und Mathematik, die Naturwissenschaft überhaupt und die Medizin, welche damals wie jene einen Bestandteil der philosophischen Disziplin ausmachte, waren in Ferrara besonders in Blüte. Savonarola selbst hatte Medizin studieren sollen; sein Großvater Michele, ein berühmter Arzt Paduas, war durch Nicolaus III. nach Ferrara gezogen worden. Als Mediziner, Mathematiker und Philosoph und auch als Philologe glänzte daselbst seit 1464 der Vicentiner Nicolò Leoniceno, zu dessen Füßen die später berühmtesten Gelehrten und Dichter Italiens saßen. Er war noch der Stolz Ferraras, als Lucrezia hierherkam, während der große Mathematiker Domenico Maria Novara damals in Bologna lehrte, wo Kopernikus sein Schüler geworden war.

Aus der Hochschule Ferraras gingen gefeierte Humanisten hervor, die zur Zeit der Ankunft Lucrezias noch Kinder oder Jünglinge waren, wie die beiden Giraldi und jener geniale Celio Calcagnini, der ihr ein Hochzeitsgedicht geweiht hatte. Alle solche Männer waren am Hof der Este gern gesehen, weil sie selbst vielseitige und auch formgewandte Persönlichkeiten waren. Denn erst später, nachdem die Arbeitsteilung in der Wissenschaft und ihre notwendige Fachbegrenzung eingetreten war, verwandelte sich das lebendige Gelehrtentum der Humanität in das Pedantenwesen der Zunft.

Es ist aber wesentlich die Dichtkunst und eine besondere Form in ihr, welche dieser Stadt Ferrara gerade in der Zeit Lucrezias ein ganz eigenartiges und durchaus romantisches Gepräge gab. Erst durch diese wurde auch sie eine der Städte, welche noch für die späten Enkel Wallfahrtsorte der Zivilisation sind. Ferrara erzeugte viele Dichter in beiden Sprachen, der lateinischen und italienischen. Fast alle jene Gelehrten dichteten lateinisch. Die meisten waren freilich nur frostige Verskünstler, aber einige jener Ferraresen erhoben sich doch zum ersten Range in der poetischen Literatur, so daß sie auch heute noch nicht vergessen sind. Es waren dies vor allem die beiden Strozzi, Vater und Sohn, und Antonio Tebaldeo. Doch bedeutender als diese neulateinischen Dichter traten diejenigen Poeten hervor, welche das romantische Kunstepos in der italienischen Sprache fortbildeten und vollendeten. Der schwelgerische und glanzvolle Hof Ferraras mit der wilden Romantik des Hauses Este, dessen Geschichte der mittelalterlichen Heldenzeit wesentlich angehört, mit dem vornehmen Adel und modernen Rittertum, begünstigte schon an sich die Kultur jenes Epos, während auch die Stadt Ferrara mit ihrer eigenen Geschichte und ihrem architektonischen Gepräge dafür ein günstiger Boden war. In Ferrara gibt es so wenig ein Monument des römischen Altertums wie in Florenz; alles gehört hier dem Mittelalter an. Bojardo, den berühmten Dichter des Orlando inamorato, fand Lucrezia nicht mehr am Hofe Ercoles, seines Freundes; aber vielleicht lebte noch der blinde Sänger des Mambriano, Francesco Cieco. Wie Ariosto, der diese beiden Vorgänger bald verdunkeln sollte, huldigend Lucrezia entgegentrat, haben wir gesehen.

Minder glücklich, als die Wissenschaften und die Poesie, waren in Ferrara die bildenden Künste; aber wenn sie auch nicht Meister ersten Ranges hervorbrachten, wie Rafael oder Tizian, so nahmen doch auch sie eine nicht unbedeutende Stelle in der italienischen Kultur ein. Die Este pflegten die Malerei; ihre Paläste ließen sie mit Fresken zieren, von denen sich noch manche durch Originalität bemerkenswerte erhalten haben, wie jene, die im Palast Schifanoja im Jahre 1840 wieder entdeckt worden sind. Eine einheimische Schule machte sich schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts namhaft; ihr Haupt war Cosimo Tura. Aus ihr gingen zwei ausgezeichnete Maler hervor, Dosso Dossi und Benvenuto Tisio, der unter dem Namen Garofalo als einer der glücklichsten Schüler Rafaels berühmt wurde. Die Werke dieser Künstler – sie waren Zeitgenossen Lucrezias, Garofalo ein Jahr jünger als sie – schmücken noch viele Kirchen Ferraras und sind die Hauptzierden der dortigen Galerie.

Dies war, in ihren wesentlichen Zügen, die Stadt Ferrara und ihr geistiges Wesen um das Jahr 1502. Man erkennt daraus, daß sie neben dem höfischen Glanz und der politischen Bedeutung als Haupt des Staates, auch ein reiches inneres Leben besaß. Chronisten behaupten, daß ihre damalige Einwohnerzahl hunderttausend Seelen betrug; wenn das auch übertrieben ist, so mochte doch Ferrara am Anfang des 16. Jahrhunderts, seiner Blütezeit, volkreicher als Rom sein. Sie war eine wohlhabende Stadt, worin neben dem Adel auch eine tätige Bürgerschaft durch Industrie, namentlich in Tuchfabrikation, und durch Handel zum ruhigen Genuß des Lebens kam.


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