Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

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Das Automobil hatte sich auf einem Umweg, von hinten her, dem Bahnhof genähert. Ein Durchdringen der Menschenmassen, die die Stadtseite des Stationsgebäudes umlagert hielten, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Um seine Ankunft nicht auffällig zu machen, ließ Heckes das Gefährt ein Stückchen vom Bahnkörper ab auf der Chaussee halten, und im Dunkel der Nacht gelang es ihm so, unbemerkt heranzukommen. Im Wartesaal der II. Klasse traf er Schürmann mit den Steigern, die den Arbeitertransport leiten sollten. Alles sprang von den Sitzen, als plötzlich Magnus Heckes zwischen sie trat.

Er winkte kurz ab – nur alles Aufsehen hier vermeiden – und zu Schürmann hin rief er:

»Das Militär kommt! – Wo sind die Leute?«

»Nebenan, im andern Wartesaal.«

Und er schritt dem Zechenherrn voran.

Das machtvolle Einsprechen Heckes auf die fremden Arbeiter hatte seinen Erfolg, und als sie hörten, daß sie in ein paar Stunden unter militärischem Schutz stehen würden, versprachen sie zu bleiben.

Erleichtert aufatmend ging Magnus Heckes wieder hinaus. Nun konnte er der weiteren Entwicklung der Dinge in Ruhe entgegensehen.

Eben wollte er wieder zu seinem Automobil hinüber, da trat ein Bahnbeamter auf ihn zu.

»Herr Heckes, ich möchte doch dringend zur Vorsicht mahnen. Die da vorn« – er wies zum Bahnhofsplatz hin, den die Menschenmassen belagert hielten – »haben Wind davon gekriegt, daß Sie hier sind. Sie fangen an, drüben beim Bahnübergang hinüberzulaufen, zu Ihrem Wagen hin.«

»Ich danke Ihnen.«

Ruhig erwiderte es Heckes, doch er schritt etwas schneller zu.

Plötzlich hörte er Schritte dicht hinter sich. Er sah zurück: Schürmann.

Ein verwunderter Blick, doch der Betriebsführer erklärte sein Nachkommen.

»Ich hörte eben, was der Stationsbeamte sagte.«

Heckes nickte nur stumm.

Eilig schritten sie zu, da vor ihnen bereits die Lichter des Autos, aber nun auch schon drohende Stimmen, dunkle Gestalten – es waren ihnen doch einige bereits zuvorgekommen. Deutlich hörte man jetzt die erregte Stimme des bedrohten Chauffeurs.

Indessen waren die beiden jetzt heran. Die verdutzten Leute beiseite schiebend, sprangen sie in den Wagen, und »Vorwärts!« befahl Heckes.

Aber zur gleichen Zeit drang es heran, vor ihnen aus dem Dunkel – eilig, mit lautem Gejohle; jetzt schon im Bereich der Scheinwerfer: ein dichter Haufe, wohl an Hundert, den Weg in seiner vollen Breite sperrend. Und ehe der Chauffeur noch fertig war mit dem Ankurbeln des Motors, waren sie schon dicht vor der Maschine.

Ein Triumphgeschrei: man war gerade noch zurecht gekommen! Und ein Hagel von Schimpfworten ergoß sich auf Heckes. Man hatte Mut, hier im Dunkeln, das den einzelnen schützte.

»Kiek, hewt wi di äs erwischt, du Hund? Nu willt wi di use Rechnung maken!«

»Runner vön den Wagen! Wi willt mit di reden.«

»Jo, runner mit den Kerl! Wat brukt de Lump to föhren, wenn wi lopen?«

»Weg frei!«

Herrisch scharf übertönte Heckes' Stimme den Lärm, zugleich ein erneuter Befehl für den Chauffeur. Aber er weckte nur ein höhnisches Echo.

»Jo, Weg frei! Föhrt doch man to!«

Und herausfordernd schwenkten, lachend und johlend, die ersten unmittelbar vor dem Wagen die Arme – eine dichte Menschenmauer, keine Möglichkeit eines Durchkommens, es sei denn – dem Chauffeur brach der Angstschweiß aus.

Aber da hämmerte Heckes das Blut gegen die Schläfe. Er – ein Gespött seiner Leute? Und plötzlich sprang er im Wagen auf.

»Vorwärts, zum letztenmal – oder herunter vom Wagen!«

Und er warf sich am Chauffeur vorbei vor, als wollte er selbst die Steuerung in die Hand nehmen, den Wagen vorwärts drücken – hinein in die Massen, hinweg über zuckende Menschenleiber. Drohend gellte die Hupe auf.

Da brach es aus – ein Aufheulen der Wut.

»Wat? Dotföhr'n will he us, äs de Hunde? Packt em doch – 'runner mit em! Rit 'n doch in Fetzen, den Düwel!«

Nun sprang auch Schürmann auf. Seine Rechte riß den Revolver aus der Rocktasche, den er seit dem Ausbruch des Streiks ständig bei sich trug.

»Zurück!«

Warnend schrie er es den Anstürmenden zu.

Aber die Rasenden hörten nicht mehr. Steine flogen gegen die beiden, Dutzende von Fäusten packten das Gefährt, und nun schwang sich einer aufs Trittbrett, wollte Heckes an die Kehle – da, ein Krachen, und mit einem Aufschrei taumelte der Angreifer vom Tritt zurück.

Totenstille – wie wenn ein kalter Wassersturz die siedeheißen Köpfe plötzlich ernüchtert hätte. Und dann ein Davonlaufen im Dunkeln nach allen Richtungen – eine Minute später war kein Mensch mehr zu sehen.

Schürmann stand noch immer, den Griff der Waffe umklammernd. Sein Auge suchte am Boden – einen regungslosen Körper. Aber nichts war im hellen Schein der Laternen zu sehen. Da tat der Betriebsführer einen tiefen Atemzug – Gott sei Dank, also nur verwundet.

»Vorwärts!«

Es grollte aus Heckes Stimme die furchtbare Erregung. Und diesmal gehorchte der Chauffeur, noch am ganzen Leibe zitternd. Pfeilschnell schoß bald der Wagen dahin, als wollte sein Lenker gutmachen, was er vorhin schwankend verabsäumt hatte.

Die beiden Männer hinter ihm sprachen kein Wort. Mit finster zusammengezogener Stirn starrte Heckes vor sich hin, und Schürmann grübelte nach. Als da vorhin der Schuß aufblitzte, hatte er einen Moment lang das Gesicht des Angreifers ungewiß gesehen: ein leidenschaftlich verzerrtes, hageres Gesicht, wie das des Maschinisten Freukes – des Bruders vom toten Fahrsteiger. Nein, nein – es war sicher keine Täuschung gewesen.

Das Automobil hielt auf dem Zechenplatz vor dem Direktionsgebäude. Heckes stieg aus, und Schürmann wollte sich verabschieden, aber da forderte der Zechenherr ihn auf:

»Treten Sie noch einen Augenblick mit ein.«

Stumm gehorchte der andere. So waren sie denn jetzt beide allein im Zimmer und standen sich schweigend gegenüber, bis Heckes unvermittelt mit einem festen Entschlusse entsagte:

»Schürmann, ich danke Ihnen vielleicht mein Leben. Ich möchte – gutmachen, was noch gutzumachen ist.«

Und er streckte Schürmann die Hand hin.

Aber der Betriebsführer stand unbeweglich, den Blick starr auf seine Rechte geheftet, als sähe er etwas daran. Und dann entgegnete er düster, nun das tief durchfurchte Antlitz zu dem Werkherrn erhebend:

»Herr Heckes, es hat seit damals – Sie wissen – mir immer schwer auf der Seele gelegen, wie eine Schuld von mir selber. Ich denke – jetzt ist sie bezahlt. Und nun bitte ich Sie noch einmal: lassen Sie mich gehen.«

Eine Pause – dann nickte Magnus Heckes langsam.

»So gehen Sie denn, Schürmann. Es tut mir leid um Sie – das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Sie haben Ihre Pflicht getan wie kein andrer.«

»Doch – einer noch!«

Und der Betriebsführer blickte den Herrn mit festem Auge an. Da war noch jemand, der hatte sie sogar mit dem Tode besiegelt.

Heckes' Stirn umwölkte sich; doch dann neigte er zustimmend das Haupt.

Nun aber wandte er sich noch einmal seinem scheidenden alten Beamten zu.

»Schürmann, wenn Sie oder einer der Ihren mich je einmal im Leben brauchen sollten, so denken Sie an mich.«

»Ich danke Ihnen, Herr Heckes.« In dem Auge des Mannes, der nun von einem dreißigjährigen, treuen Wirken Abschied nahm, begann es plötzlich leise zu zittern, und es zuckte um seinen Mund, als ob er noch etwas sagen wollte. Aber dann kehrte er sich kurz ab.

»Glückauf!«

Der alte Bergmannsgruß war sein letztes Wort.

Magnus Heckes sah ihm nach und blieb noch eine Weile gedankenverloren stehen. Dann aber machte er eine kurze Handbewegung – keine Sentimentalitäten! Das war nie sein Fall gewesen.

Und er ging zum Schreibtisch, suchte unter den dort stehenden Zigarrenkisten – länger als gewöhnlich, er wußte sonst stets, welche Marke ihm zusagen würde. Aber heute war er unschlüssig. Es war ihm überhaupt nicht so ganz extra – ein gewisses Gefühl von Unbehagen. Nun schließlich wohl kein Wunder, nach dem Auftritt da vorhin am Bahnhof.

Endlich aber hatte er sich doch entschlossen – nein, lieber nicht so schwer heute, hier diese Hamburger Zigarre würde das Richtige sein – und er griff danach. Aber im selben Augenblick, wo er die Bewegung machte – halt! Was war das? Plötzlich so eng um die Brust, keine Luft mehr, eine dunkle Angst – ein Schwindel. Die Hände tasteten umher nach einer Stütze, und nun sank er kraftlos auf den Sessel zurück.

Minutenlang saß Magnus Heckes so in sich zusammengesunken, völlig erschöpft, mit geschlossenen Augen.

Dann bewegte er sich langsam und schlug die Augen wieder auf.

Was war das eben? Ein ganz verdammtes Gefühl, ja fast wie –

Er dachte es nicht zu Ende, aber eine tiefe Falte furchte sich zwischen seinen Brauen. Ein Menetekel?

Doch dann gab er sich einen Ruck. Unsinn – er! Und er griff entschlossen nach der Zigarre, nun gerade der schwersten seiner Importen, wie um seiner Natur zu zeigen, wer hier der Herr war, und um sich selbst den Beweis zu liefern, daß das da eben ja nur ein lächerlicher Zufall gewesen war.

Hierauf klingelte er dem Diener:

»Einen Mokka, extra stark, dann können Sie zu Bette gehen; ich habe noch zu arbeiten.«

Und Magnus Heckes saß am Schreibtisch, noch tief in die Nacht hinein.

* * *

In der Küche, die zugleich der Wohnraum des Maschinisten Freukes war, brannte trotz der frühen Morgenstunde – es war noch völlig dunkel draußen – schon wieder die Lampe. Die bleiche, abgehärmte Frau, noch elender als sonst, stand am Waschtrog. Die Wäsche mußte ja heute noch fertig werden, sonst verlor sie auch diese kleine Einnahme noch, die jetzt fast ihr ein und alles war.

Mit starren, übernächtigen Augen blickte die Waschende vor sich hin; ihre Hände verrichteten mechanisch ihr Werk, da konnten die Gedanken ihren eigenen Weg gehen.

Einen traurigen Weg. Seit dem Unglückstage, wo sie ihren Schwager, den Fahrsteiger, zum letztenmal gesehen hatte, war es ja nur so über sie hereingestürmt: die Arbeiterbewegung, der Streik, der Konflikt mit den Schwiegereltern und nun das Schlimmste – die Sorge, das Elend.

Nicht allein, daß die Zuschüsse vom Jupp wegfielen, nun brachte ihr Mann auch keinen Lohn mehr nach Haus. Die paar Mark aus der Streikkasse – das langte ja nicht weit. Und außerdem, den größten Teil davon verbrauchte ihr Mann für sich selbst. Den ganzen Tag bis spät in die Nacht trieb er sich ja draußen herum. Immerzu Beratungen, Sitzungen im Streikkomitee, Versammlungen oder Agitation unter den Massen. Natürlich alles immer im Wirtshause – das verschlang die paar Mark im Handumdrehen. Und dazu stets noch die Angst, daß ihm dabei etwas passieren könnte. Sie wußte ja, es ging wüst draußen zu, oft der reine Aufruhr auf den Straßen, vor den Zechen, und Freukes war so jähzornig – wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ, wenn sie ihn einsteckten!

Es klopfte an die Tür.

Die verängstigte Frau schrak zusammen. Immer befürchtete sie ja eine Unheilsbotschaft, besonders aber heute, wo er die Nacht überhaupt nicht nach Haus gekommen war. Kaum hörbar klang so ihr »Herein«.

Doch Gott sei Dank, nur die Nachbarin war es, von gegenüber überm Flur.

»Gut'n Morgen, Frau Freukes. Ok all wehr so flitig? Se schlopt ja woll nu gar nich mähr, wat?«

Die abgehärmte Frau sah von ihrer Wäsche nicht auf. Sie mochte sich ihre Not nicht vom Gesicht lesen lassen.

Die Nachbarin trat indessen näher an den kleinen Herd, und rieb sich fröstelnd die Hände.

»Ha – 't is all ne Hundekähle buten. Wu sull dat man werden? De Kohlen sind all nich mähr to kopen, stump to dür. Wenn bloß de verdammte Streik all to Ende wör! Ik heww dat Minen, as he jüst wehr örwer de kole Storwe an't Mulen was, ok seggt: Arbetet wehr, dat wehr Geld in 'n Huse is, dann hebt ji 's ok gliks warm. Du – un wat kumpt denn herut bi de ganze Streikerei, hä? Ji liggt in 't Wärtshus, obers userener sall sickt't ut de Finger saugen, die Blagen dör to forn. Sit acht Dagen kock ick bloß noch Kartuffeln mit Stipp in de Pann – de Klenen kikt mi all halw elend ut.«

Ein schwerer Seufzer kam aus der Brust der Wäscherin, ein beredtes Echo. Wer immer noch schwieg sie. Doch die andere schwatzte weiter:

»Un se driwt dat ja immer duller. Wat die Schymura Ehre is, unnen in dat twete Stockwerk, de is van nacht no Hus kummen, ganz blotig was he schlagen. Am Bahnhof hed 't ja wat afsatt! Dor wollten se de Streikbrecher nich rute loten, woll to Dusend hewwt se den Bahnhof belagert. Obers morgens, Klock of drei, is Militär anrückt up de Bahn, n' ganze Isenbahn vull, un dor is de Kampf los gohn. Et mott ja ganz grummelig wirn sin, de roten Blutlachen fallt noch am Bahnhof stohn. Et was man gut, dat de Minige nich dorbi was. Se fallt ja ne ganze Koppel Lüde insperrt hebben.«

Festgenommen! Ein schrecklicher Gedanke peitschte die Frau am Waschtrog auf: ihr Mann immer noch nicht da, wenn auch er –?

Und die Angst ließ sie nicht mehr, sie fand die Ruhe nicht mehr, weiterzuarbeiten. Schließlich bat sie die Nachbarin, so lange hierzubleiben – wenn die Kleinste da drinnen etwa kommen sollte – und wie sie ging und stand, sich nur die Hände an der Schürze abtrocknend, lief sie hinunter in den zweiten Stock. Der Schymura, der ja mit dabeigewesen – er mußte es ja wissen.

Frau Freukes hatte sich sonst immer von den anderen Leuten im Hause ferngehalten. Sie stammte aus einer besseren Familie, ihr Vater war ein kleiner Beamter gewesen, und der Verkehr mit den meist ganz ungebildeten Arbeiterfrauen konnte ihr nichts bieten. Da blieb sie lieber still für sich. Namentlich die Schymuras hatte sie ganz besonders links liegen lassen – eine richtige polnische Wirtschaft: Schmutz und Schnaps von morgens bis abends, selbst die kleinen Kinder bekamen schon ihr Teil davon ab. Das ist gut – das gibt Kraft! meinten die Schymuras; sie wußten es eben nicht besser. Bei ihnen zu Haus war es auch schon nicht anders gewesen.

Aber jetzt trieb die Angst die arme Frau zu den Leuten hinunter. Auf ihr Klopfen öffnete die Schymura ein wenig die Tür, ein buntes Kopftuch um das noch wirre, zottige Haar gebunden, ungewaschen, eine schmutzstarrende Nachtjacke über dem Unterrock. Überrascht, mißtrauisch sah sie die Hausgenossin an: Was – die von oben, für die sie alle sonst hier im Haus nicht gut genug waren? Und sie machte Miene, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aber da bat Frau Freukes, allen Stolz vergessend:

»Ach bitte, ich ängstige mich ja so – mein Mann ist noch immer nicht da – kann ich Herrn Schymura nicht nur einen Augenblick –?«

»Herr Schymura liggt sich noch in Bett.«

Mürrisch und ablehnend kam die Antwort.

»Mein Gott – ich ertrag's ja kaum noch – haben Sie doch Erbarmen, Frau Schymura – wecken Sie ihn doch, nur für eine Minute! Ich bitte Sie.«

Die Frau schwankte, aber schließlich siegte doch ein menschliches Empfinden, indessen zugleich vermischt mit Schadenfreude. Sieh, wie hübsch die hoffärtige Frau Maschinistin auf einmal bitten konnte! Und es schmeichelte ihrer Eitelkeit, daß sie so gerade zu ihr kam.

»Werrd' ich sehn, ob ich ihm wachkrieg'.«

Mit gönnerhafter Herablassung erklärte sie es schließlich und ging in die Kammer nebenan.

Ein wüstes, schlaftrunkenes Schimpfen und Poltern ging da drinnen an, endlich aber kam Schymura doch, nur in Hemd und Hose, mit bloßen Füßen – die Augen noch halb geschlossen. Hinter ihm seine Frau.

»Was ihs sich los?« forschte er ungehalten. »War sich g'rad in schennsten Schlaff.«

»Entschuldigen Sie vielmals – ich will Sie ja auch nur einen Augenblick – sagen Sie mir doch nur: Ist mein Mann auch unter denen, die die Soldaten festgenommen haben?«

Schymura, allmählich aus dem halben Schlaf erwachend, erkannte jetzt erst die Frau da an der Tür: die Freukes, dem Maschinisten Seine – ja so, Donnerwetter! Und er kratzte sich plötzlich verlegen den wirren Kopf.

Frau Freukes sah es, und ihr Ahnen ward zur Gewißheit.

»Sie haben ihn verhaftet – barmherziger Gott!«

Der angstvolle Aufschrei bewog Schymura nun doch zu einem Kopfschütteln.

»Nix verhaftet – aber fort ihs sich Ihr Mann.«

»Was – fort?«

Starr sah die Frau ihn an.

»Ja, fort!« nickte Schymura, »hat sich gehabt der Freukes unangenemmes Sach' – warr sich der Heckes, was sich Zechenherr is, draußen an Bahnhoff, warr sich großes Raddau – wollt Heckes mit Auto reinfarren, ja mitten rrein mang Menschen – aberr warrd sich da Raddau noch viel größerr – und da mit einmal ihs sich Ihr Mann loßgesprunggen auf Heckes, wollt ihn pahcken an Kelle –«

Die Frau vor ihm ward blaß wie der Tod; da beschwichtigte sie Schymurra:

»Abber hat ihm nix gettan. In selbiges Moment kracht sich Schuhß – von Betriebsfürrer – Freukes schreit auf und nimmt sich Rreißaus – immer querrfeldein.«

Eine bleischwere Pause – man hörte den stoßenden Atem der gemarterten Frauenbrust. Sie rang nach Worten, aber sie kamen ihr nicht aus der Kehle. Da berichtete Schymura von selber, was er noch wußte.

»Wird sich gellauffen sein zu anderres Bahnhofs. Ging sich ja bald darrauff Zug nach Holland, wird sich habben gebbracht in Sicherheit – überr Grrenze.«

Und tröstend fügte er hinzu:

»Kann ihm keiner nix merr kriegen. Ihs sich längst über alle Berrge.«

Frau Freukes hob langsam den Kopf. Mit einem seltsamen, stumpfen Ausdruck blickte sie um sich, und es klang unnatürlich ruhig, wie sie nun sagte:

»Ich danke Ihnen – entschuldigen Sie nochmals die Störung.«

Dann ging sie wieder.

Durch den noch offenen Türspalt, durch den die Schymuras ihr neugierig nachlauschten, hörten sie deutlich die schleppenden Tritte, mit denen sie sich nur mühsam hinaufquälte. Und einmal blieb sie stehen, das Treppengeländer ächzte – wie wenn sich jemand mit voller Schwere dagegen gelehnt hätte.

* * *

»Kurzum, es war die reinste Tollheit – ein Spiel mit dem eigenen und fremden Leben. Ein wahres Wunder, daß es noch so glücklich abgelaufen ist!«

Erregt sagte es Vermeren. Er erzählte eben den Seinen von der aufregenden nächtlichen Szene neulich am Bahnhof, drüben bei Zeche Willibrod. Ein Bekannter, der von dort gekommen war, hatte die Geschichte mitgebracht.

Schweigend hatten die Gattin und die Tochter zugehört. Frau Eleonore war tief blaß geworden; aber ihre Züge waren zugleich doch von einem Leuchten verklärt. So blickte sie, ganz ihre Umgebung vergessend, durchs Fenster ins Weite – als sähen ihre Augen dort den, an den sie dachte, leiblich: Hochaufgerichtet, zornentflammt, in seiner herrlichen Manneskraft, wie er die eiserne Stirn kühn dem wutheulenden Pöbel darbot.

Hedwig sah auf die Mutter mit aufpochendem Herzen. Sie verstand. Und dann glitt ihr Blick scheu zum Vater hin, voll geheimer Qual, voll unsagbaren Mitleids.

Aber nun wandte sich auch der Bergrat, verwundert über dies Schweigen, zu seiner Gattin herum. Da sah auch er das verklärte Leuchten auf ihrem Antlitz, und plötzlich ward sein Blick groß und starr – ein Ahnen dämmerte ihm auf.

Wohl hatte Vermeren, als er damals um Eleonore warb, gewußt, daß sie einmal ein ernstes Interesse an Magnus Heckes genommen hatte. Aber dieser hatte dann ja geheiratet, und so hatte er gemeint, Eleonore wäre auch ihrerseits mit der Zeit darüber hinweggekommen. Er hatte es fest geglaubt, und das war ihm genug gewesen. Sein Zartgefühl hätte ihm ja auch nie erlaubt, sie selber danach zu fragen. Und als sie endlich, freilich nach langem Werben nur – er hatte lange um sein Glück bangen müssen – ihn erhörte, sich ihm gelobte, war das nicht die beste Antwort gewesen auf jene Frage?

So hatte er denn darauf gebaut, volle zwanzig Jahre lang auf sein festgegründetes Glück mit denkbarfrohem Herzen gebaut, und jetzt kam eine Stunde, die ließ in Trümmer sinken, worauf er geschworen hatte.

»Eleonore!«

Es klang wie ein unterdrücktes Stöhnen hin zu der weltentrückten Frau am Fenster. Er vergaß ganz die Anwesenheit seiner Tochter.

Der plötzliche Anruf ließ Frau Eleonore zusammenschrecken; ihre Brust hob sich tief, als nähme sie Abschied von einem schönen Traum, und langsam wandte sie dann ihr Haupt dem Gatten zu, mit einem leisen Hauch von Resignation auf den Zügen.

Vermeren verstand diesen Zug in ihren Mienen jetzt ja nur zu gut. Was er ein Glück gewähnt hatte, auch für sie – ein Opfer war es, das sie ihm tagtäglich, stündlich von neuem brachte. Nur aus Mitleid hatte sie sein Werben erhört! Da brach plötzlich ein schneidendes Lachen aus der Brust des sonst so ruhigen, gütigen Mannes, und ohne noch etwas zu sagen, ging er schnell hinaus.

Tief bestürzt blickte ihm Frau Eleonore nach – sie begriff das gar nicht. Aber da stürzte plötzlich Hedwig zu ihr heran und barg aufschluchzend das Gesicht in ihrem Schoß.

»Mutter!«

Und der verzweiflungsvolle Aufschrei riß ihr die Binde von den Augen – nun verstand sie alles.

* * *

Das war eine schwere Stunde gewesen.

Durch Hedwigs Mund hatte Volkmar von den schrecklichen Dingen in jener Nacht neulich gehört, wie sein Vater sich fast herausfordernd der Gefahr aussetzte, wie seine Sicherheit, ja sein Leben aber auch ohne das bedroht war. Die meuternden Rotten, die in hellem Aufruhr waren, jetzt nachdem »er ihnen auch noch die Bluthunde, die Soldaten, auf den Hals gehetzt,« hatten sich ja öffentlich verschworen, es ihm doch noch heimzuzahlen. Und Volkmar kannte Magnus Heckes – für ihn gab es kein feiges Verstecken.

Sein Vater also da drüben stündlich in Lebensgefahr, und er hier in Sicherheit, weitab vom Schuß – wie erbärmlich! Heiße Glut schoß ihm in die Wangen. Aber konnte er denn wieder dorthin, nachdem er sich von ihm vor aller Öffentlichkeit losgesagt hatte? Wäre es nicht mindestens eine ebenso erbärmliche Charakterlosigkeit gewesen?

So riß es ihn hin und her.

Aber endlich rang er sich doch zur Klarheit durch, zu einem Entschluß: Er durfte sich nicht vom rechten Wege abhalten lassen durch eine impulsive Regung, die damals vielleicht berechtigt, zum mindesten verständlich, war. Obwohl er sich hernach, ruhiger geworden, selber hatte sagen müssen, es war viel Überreiztheit dabei im Spiel gewesen. Die Maßnahme, für die der Vater doch auch gar nicht verantwortlich war, sie war geboten gewesen. Wäre es nach ihm, Volkmar, gegangen, wären er und die andern doch noch einmal in die brennende Grube eingefahren, sie hätten niemandem mehr Rettung bringen können, wären aber wohl allesamt verloren gewesen. Denn unmittelbar darauf hatten sich ja unaufhörlich schwere Nachexplosionen eingestellt, deren furchtbar verheerende Gewalt sich selbst über Tage noch mit dämonischer Zerstörungswut bekundet hatte.

So blieb denn von allen Gegengründen schließlich nur noch das einmal von ihm gesprochene Wort der Trennung – aber wog dies wirklich schwerer als das andere?

Er sah im Geiste Szenen tobenden Aufruhrs, den Vater schutzlos, allein, von all den Seinen verlassen – denn auch Regine war ja jetzt, nach der Heirat mit Laach, nicht mehr bei ihm – und da war es entschieden: er würde noch heute abend nach Haus zurückkehren.

Hedwig war die erste, die von dem soeben gefaßten Entschluß erfuhr. Eine geheime Angst schlich bei seiner Mitteilung an ihr empor, als würden sich nun feindliche Gewalten auch zwischen sie beide drängen – all das Weh der Stunde da am Nachmittag mit den Eltern brannte ja noch in ihr. Aber doch drückte sie ihm tapfer die Hand.

»Du kannst nicht anders, ich weiß, Volkmar; nur« – und sie preßte sich leidenschaftlich an ihn – »geh mir nicht verloren!«

Dann trat Volkmar bei dem Bergrat ein. Er fand ihn seltsam verändert. Etwas Aufgestörtes und Reizbares war an ihm. Er wußte wohl warum, Hedwig hatte vor ihm ja kein Geheimnis; um so peinvoller war es ihm daher, gerade jetzt dem Bergrat erklären zu müssen, daß auch er zurück wollte zu dem Mann, der ihm schon so viel genommen hatte.

»Ich bitte meine Gründe zu würdigen, Herr Vermeren,« schloß er endlich seine Erklärungen mit gepreßter Brust, – »ich habe schwer gekämpft, aber ich muß – die Pflicht ruft mich zurück.«

Der Bergrat antwortete nicht gleich; dann aber nickte er stumm vor sich hin, und es spielte um seine Lippen ein scharfer, bitterer Zug, der dem freundlichen Antlitz früher fremd gewesen war. Volkmar sah es mit tiefem Weh.

»Herr Vermeren –«

Es klang wie ein bewegtes Bitten. Da hob der Bergrat das Haupt.

»Ja, die Pflicht!« Es war als gäbe er dem Wort eine tiefere, auch ihm geltende Bedeutung. Und dann sah er den jüngeren Mann ernst an, mit leidumflorten Augen. »So tun auch Sie Ihre Pflicht. Ich kann und will Sie nicht hindern.«

Er machte eine Bewegung, als möchte es Volkmar damit genug sein lassen. Doch dieser trat noch näher heran. Er konnte nicht so von dem verehrten Manne scheiden, der ihm stets ein väterlicher Freund, in der Not seine einzige Stütze gewesen war, und den jetzt das Schicksal so hart getroffen hatte.

»Lieber Herr Vermeren!«

Er wollte seine Hand ergreifen. Doch fast rauh wehrte der andere ab. Nein – kein Mitleid mehr! Er hatte genug davon empfangen.

Voll Trauer sah ihn da Volkmar an. Dann sagte er nach einer Pause nur noch zögernd:

»Und Hedwig –?«

Aber da trat etwas Hartes, fast Feindseliges auf Vermerens Züge.

»Sie werden zu wählen haben, Volkmar, wohin Sie gehören. Eine Brücke zwischen meinem Hause und dem Ihres Vaters gibt es nicht.«

Volkmar erblaßte; doch dann sagte er fest:

»Ich werde stets der höheren Pflicht gehorchen, und die ruft mich jetzt zu meinem Vater. Was später zu geschehen hat – ich hoffe, ich werde das Richtige auch dann treffen.«

So nahm er Abschied von dem Vater Hedwigs.

* * *

Magnus Heckes saß noch am Tisch im Speisezimmer, allein in dem weiten Raum. Eine stille Stunde am Abend, die die Einsamkeit des großen, prunkvollen Hauses ganz besonders empfinden ließ.

Kein Laut regte sich. Unhörbar kam und ging auf den weichen Teppichen auch der Diener, der mit leisen Bewegungen Kristall und Silber im Büfett verschloß.

Den Rauch seiner Zigarre in regelmäßigen Zügen von sich stoßend, sah ihm Magnus Heckes mechanisch zu. Doch wenigstens etwas, was ihn für ein paar Augenblicke lang beschäftigte.

Das graue Gespenst der Langeweile kroch in solchen Stunden im Hause umher.

Man konnte doch auch nicht immer bloß arbeiten. Zudem, er merkte jetzt dann und wann bisweilen doch eine gewisse Abgespanntheit – dieser verdammte Streik! Das verbrauchte doch mehr Nervenkraft, als er sich eingestehen mochte.

Aber selbst ganz abgesehen davon, einmal wollte man doch auch ein andres Wort sprechen, als nur immer mit den Beamten und immer bloß vom Geschäft. Man war doch schließlich auch ein Mensch.

In solch einer Anwandlung war er gestern einmal unangemeldet zu der Tochter hinübergefahren und dachte dort den Abend zu verbringen. Aber da traf er ein halbes Dutzend fremder Gesichter, Logiergäste: Freunde aus England, Hofgesellschaft, ungeheuer vornehm – ganz steife Reserviertheit, bloß halber Flüsterton – und Regina schien es sehr peinlich, daß der Vater zwischen die eleganten Fräcke als einziger mit seinem bequemen Jackettanzug hereingeschneit war. Sie entschuldigte ihn zwar scherzend, daß er ja ganz überraschend gekommen sei, ohne Ahnung, daß Gäste im Hause seien. Aber er hatte doch genug herausgehört.

Da hatte sich Magnus Heckes nach zehn Minuten wieder empfohlen, ziemlich ostentativ und kühl. Er hatte dann hinterher freilich mit einem überlegenen Auflachen die ganze alberne Geschichte abtun wollen – aber ein Stachel war doch sitzen geblieben. Und auch jetzt mußte er wieder daran denken.

Seine Hand spielte gedankenverloren mit dem silbernen Zigarrenabschneider vor sich. Hatte er nicht einmal – es war freilich schon lange her, als er seiner verstorbenen Frau zu Gefallen, dann und wann noch auf eine Stunde mit ins Theater fuhr – da irgend solche Geschichte gesehen, von einem alten Könige mit ein paar Töchtern, der schließlich auch so einsam und verlassen –

Ach, Unsinn!

Ärgerlich über sich selber klopfte Magnus Heckes mit dem Abschneider auf den Tisch, daß der Diener von der Kredenze her sich überrascht umsah. Das kam davon, wenn man hier so allein saß und sich langweilte.

»Die Zeitungen, Friedrich!« befahl er. »Drüben – in die Bibliothek.«

Und er ging selber schon immer hinüber.

Eine ganze Weile saß er bereits über den Blättern, die Gedanken waren nun in der Tat ganz wo anders. Er hatte mit Aufmerksamkeit die wirtschaftspolitischen Rubriken durchlesen, sich hier und da Notizen an den Rand gemacht und die betreffenden Zeitungen beiseite gelegt. Der alte, große Plan, mit dem er sich schon seit Jahren trug, der gewissermaßen der Schlußstein werden sollte in dem ganzen Bau seines geschäftlichen Wirkens, beherrschte ihn wieder einmal ganz.

Gerade jetzt war ja vielleicht der gegebene Moment, ihn zur Tat zu machen. Wenn der Streik für die Werke gut auslief – und er glaubte bereits Anzeichen dafür zu haben – dann war der Augenblick gekommen, dann hieß es das Eisen schmieden, das noch warm war: Sie alle, die jetzt notgedrungen einig waren und zusammenstanden in dem ihnen von ihren Arbeitern aufgezwungenen Kampfe, für immer beisammenzuhalten in einer machtvollen, die ganze Kohlenindustrie umspannenden Organisation, die selber die Preise diktierte und den Markt beherrschte.

Verflogen war jede Spur von Müdigkeit an Magnus Heckes; wieder ganz hochgespannteste Energie vertiefte er sich in das große Projekt.

So überhörte er ein leises Pochen draußen an der Tür, bis es nun, zum zweiten Male, stärker anklopfte. Ungeduldig über die Störung rief er ein herrisches »Herein« und hob stirnrunzelnd den Kopf – Volkmar trat ins Zimmer.

Volkmar?

Als sähe er nicht recht, blickte er zu dem Eintretenden hin, der langsam herankam.

»Du?«

»Ja, Vater! Ich kann mir wohl denken, du wirst mehr als überrascht sein, aber –«

Volkmar stockte. Nun, wo er das Sohnes-Empfinden, das ihn hertrieb, in Worten ausdrücken sollte, nun bannte ihm die alte Scheu wieder die Zunge – die Scheu vor dem unnahbaren Antlitz da, um dessen Mundwinkel schon wieder jener scharfe, spöttelnde Zug spielte.

»Nun, und was verschafft mir jetzt die Ehre?«

Mit einer ironisch höflichen Geste lud ihn der Vater zum Sitzen ein.

Aber Volkmar blieb stehen, dicht vor Magnus Heckes. So sah er ihn ernst an, jetzt wieder fest entschlossen. Nichts sollte ihn abhalten von dem, was er für richtig erkannt hatte, auch nicht das Wesen des Vaters selber.

»Ich bin hergekommen, weil jetzt hier mein Platz ist, neben dir – man soll nicht sagen, ich hätte dich in der Gefahr allein gelassen.«

Magnus Heckes machte eine Bewegung kalter Abwehr. Aber Volkmar ließ sich nicht abschrecken.

»Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben, Vater!«

Es war in seiner Stimme etwas Entschlossenes und zugleich doch Warmes, das Magnus Heckes aufhorchen ließ. Langsam richtete er die Augen auf den Sohn, aber er sagte immer noch nichts.

Da traf ihn ein Blick Volkmars. Und was dessen Mund, in Mannesscheu vor einem Entblößen seines Innersten verschwieg, das bekannte jetzt dieser stumme Blick.

Einen Moment sahen sich so Vater und Sohn schweigend an – war es nicht wie ein seltsames Aufleuchten auch im Auge Magnus Heckes'? Endlich sagte dieser:

»Gut, so bleib.«

Es klang wieder kühl und unbewegt.

Dann sprachen sie nur noch von sachlichen Dingen – vom Streik und vom Stand der Arbeiten auf den einzelnen Werken. Als die Rede auf Zeche Willibrod kam, forschte Volkmar:

»Ist es wahr, daß ihr bereits wieder an die Aufwältigung der Grube denkt?«

Heckes nickte.

»Ja – wir sind schon beim Auspumpen. In ein paar Tagen, hofft Dircks, wird wieder die erste Befahrung möglich sein.«

»Ich werde mit einfahren.«

Wie selbstverständlich sagte es Volkmar, und der Vater erhob keinen Einwand. So würde sich also die große Totengruft vor seinen Augen öffnen – er würde wenigstens Gewißheit haben über das Ende des toten Gefährten und all der andern.

* * *

Die Kampflust und die Siegeszuversicht der Streikenden waren merklich abgeflaut. Die schmetternden Fanfaren, mit denen die Arbeiterpresse wochenlang tagtäglich von neuem die Massen wieder in den Kampf getrieben hatte, waren verstummt, und die großen Strategen der Sozialdemokratie hüllten sich in weises Schweigen – aber unterderhand ließen sie hier und da leise schon zum Rückzug blasen.

Die Millionen, die das Proletariat Deutschlands wie des Auslands aus eigner Kraft opferfreudig für die im Kampf stehenden Genossen aufgebracht hatte, waren nahezu erschöpft. Spärlich flossen nur noch die Streikunterstützungen zu. Auch das Bürgertum war von seiner Begeisterung für die Sache der Ausständigen ziemlich zurückgekommen. Namentlich seit den blutigen Krawallen, seit den rohen Ausschreitungen gegen Arbeitswillige, wobei man ein paarmal versehentlich sogar unbeteiligte Personen mißhandelt hatte. Das schmeckte doch schon stark nach Aufruhr, Revolution, Terrorismus – die begeisterungsfreudige Bourgeoisie überlief eine Gänsehaut. Lieber doch nicht spielen mit solchen bösen Dingen!

In den Wohnungen der Streikenden stand vor der Schwelle ein düsterer, hohläugiger Gast – der Hunger, die bittere Not. Weinende Kinder, verzweifelte, klagende und anklagende Frauen, finster brütende Männer – allenthalben im Industriebezirk.

Wo waren jetzt die großen, tönenden Phrasen, mit denen man sie in den Ausstand hineingehetzt hatte?

Und doch, sie maßen keineswegs ihren Führern, nicht den Verhetzern die Schuld bei. Fanatisiert, im Banne ihres blinden Klassenhasses, kannten sie nur einen Schuldigen – den Kapitalismus, ihre Brotgeber, die sie nun einfach aushungerten. Gegen sie fraß sich der Haß nur immer grimmiger und glühender in die Herzen. Und wenn sie auch, um dem Jammer da bei sich im Hause ein Ende zu machen, schließlich klein beigeben, sich bedingungslos ihren Arbeitgebern wieder unterwerfen würden, nur mit knirschenden Zähnen würde es geschehen. Kein ehrlicher Friede – nein, nur ein Waffenstillstand würde es werden, bis die schweren Wunden ausgeheilt, bis Mut und Kraft wieder da sein würden für die nächste große Kraftprobe. Denn einmal, einmal mußte ja ihrer doch der Sieg sein! Dieser Glaube war unerschütterlich in ihnen. Das war ihr Evangelium, in dem sie hofften und harrten, stritten und litten – an das ihre Seelen sich klammerten als an ihren einzigen Halt.

Die ständige Anwesenheit des Militärs, die Verhängung des Belagerungszustandes hatte zu allem das ihre getan. Unter dem Schutz der bewaffneten Macht waren die fremden Arbeitswilligen auf die Zechen eingerückt, die Förderung war, wenn freilich auch nur in sehr beschränktem Umfange, fast allenthalben wieder in Gang.

Allerdings, auch die Arbeitgeber hatten schwere Wunden erlitten. Der Ausfall an der Förderung verschlang viele Millionen, und mehrere von den kleineren Werken hatten die Krisis nicht überstehen können. Sie waren notgedrungen stillgelegt worden.

Auf Zeche Willibrod war jetzt wieder ein regeres Leben, zunächst freilich nur erst über Tag. Aber bald, in zwei, drei Tagen, hoffte man die Grube wieder frei von Wasser zu haben. Alles wurde schon für die Aufwältigungsarbeiten vorbereitet.

Auf dem Zechenplatz, vor den Steigerbureaus, erschienen tagtäglich schwarzgekleidete Frauen – die Witwen der damals Verunglückten, nach dem Stand der Dinge forschend. Es trieb sie nun noch das letzte Hoffen: daß wenigstens die Überreste der Verschiedenen noch geborgen werden, ihnen ein christliches Begräbnis beschieden sein möchte.

Auch heute wieder waren wohl ein Dutzend der Frauen auf dem Platz. Still hockten und standen sie beieinander, meist jüngere und kinderlose Frauen, die andern hielt ja die Arbeit daheim fest. Diesen aber war ja nun mit dem Mann der eigentliche Zweck ihres Lebens genommen worden.

Wohl waren sie durch die Witwenrente vor eigentlicher Not geschützt, und bei mancher war die Liebe, das Glück in der Ehe auch gar so groß nicht gewesen; aber sie kamen sich nun doch alle ganz verlassen vor und wußten nichts Rechtes mit sich und ihrer Zeit anzufangen. So lebten sie denn fürs erste stumpf und untätig dahin. Das einzige, was ihnen wenigstens für die nächste Zeit noch ein bestimmtes Ziel wies, das war hier das Warten, die Spannung: Würde man sie noch herausholen? Würde es noch zu dem beschlossenen, großen Massenbegräbnis kommen? Einer gewaltigen Demonstration, einem düsteren Schauspiel, wie es Deutschland noch nie gesehen hatte, und bei dem sie, als trauernde Witwen, dann ja zu einer Hauptrolle berufen waren. Auch das spielte jetzt in ihre Unterhaltung mit hinein, die sie von Zeit zu Zeit immer wieder aufnahmen, von der Langenweile des Wartens getrieben.

Nun aber gab es plötzlich etwas, was ihre Aufmerksamkeit nach anderer Richtung lenkte. Drüben vor dem Direktionsgebäude fuhr ein Auto vor.

»Den Heckes sin.«

Sie kannten es ja alle.

Und nun kam er selber. Sie reckten die Köpfe.

»Wat kik he ut! Wat kik he ut!«

»Jo, de föhlt sin Herz ok bammeln, wenn he us hier sütt!«

»Un buten all dat Elend, dat he ok up't Gewissen hed!«

Aber Magnus Heckes hörte und sah nichts von den Frauen. Wohl saß er allerdings mit einen fast finsteren Gesichtsausdruck in dem Wagen, der ihn jetzt schnell allen beobachtenden Augen entführte: aber sein Blick hatte etwas Starres, in sich Gekehrtes.

Heute gegen Morgen, nach einer abermals durcharbeiteten Nacht, war es wiedergekommen, dieselbe Geschichte wie neulich! Aber ein Anfall noch viel schlimmer und quälender als damals. Er hatte wirklich schon gefürchtet –

Seine Stirn zog sich jetzt noch bei der Erinnerung daran düster zusammen. Ja, es war klar: mit der Sache war doch nicht mehr zu spaßen. Er durfte nicht weiter so seine Natur mit Verachtung strafen, da steckte irgend etwas Ernstes dahinter. Und so war er denn jetzt auf dem Wege zum Arzt nach Essen – er, der zeit seines Lebens nicht nach dem Doktor gefragt hatte.

Der Entschluß kam ihn hart an, und er hatte auch niemandem davon gesagt; selbst hier dem Chauffeur nicht, der nur wußte, daß er ihn zu dem Hotel zu fahren hatte, in dem er stets in Essen abzusteigen pflegte. Eine ernste, entscheidungsschwere Fahrt also: was würde er von dem Doktor zu hören bekommen?

Der Sanitätsrat, der schon seit zwanzig Jahren die Stelle des Hausarztes bei der Familie bekleidete, war nicht wenig überrascht, als Magnus Heckes persönlich bei ihm eintrat.

»Wie – Sie? Aber doch wohl nicht in eigner Sache?«

»Diesmal doch,« mit einem ernsten Lächeln erwiderte es Heckes und dann berichtete er die Wahrnehmungen, die ihn beunruhigten.

»Hm, hm – ja, das ist ja allerdings merkwürdig,« der Sanitätsrat wiegte den Kopf, indem er Heckes prüfend ansah. »Wie alt sind Sie doch jetzt?«

»Bald fünfzig.«

»Nun, doch noch gar kein Alter, da pflegt doch so etwas – aber immerhin, Sie haben gearbeitet für zehne. Na, wir werden ja gleich mal sehen,« und er bereitete alles für eine gründliche Untersuchung vor.

Minuten tiefernster Spannung für Arzt wie Patienten, dann richtete sich der Sanitätsrat wieder auf. Langsam legte er Hammer und Perkussionsrohr wieder vor sich auf den Tisch.

»Nun?«

Die Augen Magnus Heckes' suchten die Mienen des Arztes; die sollten ihm mehr sagen als vielleicht die Worte.

»Es ist, wie ich dachte – ein kleiner Motordefekt ist da, Herr Heckes. Man fährt eben nicht ungestraft fünfzig Jahre lang ein Hundert-Kilometer-Tempo. Das hält selbst die beste Maschine auf die Dauer nicht aus.«

Der Arzt sprach es leichthin, mit einem Versuch, scherzhaft zu sein; doch Heckes ließ sich nicht täuschen.

»Also, das Herz ist es. Ich hatte es mir natürlich auch schon gesagt. Aber, nun die Hauptsache, Doktor – wie sind meine Chancen?«

Der Sanitätsrat antwortete nicht gleich. Über seinen Tisch gebeugt, schien er nach dem Rezeptblock zu suchen. So erwiderte er schließlich:

»O – Sie können alt werden dabei, Herr Heckes. Nur sich schonen, hören Sie, sich unbedingt schonen!«

»Schonen!«

Heckes lachte kurz auf. Er! Doch dann legte sich plötzlich seine Hand dem Arzt auf die Schulter und zwang ihn mit festem Griff herum.

»Doktor, ein offenes Wort – ich bin doch ein Mann. Also wie steht's? Auge in Auge! Wenn sich diese Attacken da wiederholen – und das kann sehr bald einmal sein, nicht wahr? – dann ist's Schluß! Wie?«

Der Sanitätsrat wollte etwas Beschwichtigendes erwidern, doch Heckes' fordernder Blick schnitt ihm das Wort ab. Da zuckte er die Achseln und schließlich nickte er leise, auch er nun unverhüllten Ernst im Gesicht.

»Es besteht immerhin bei Ihren Jahren schon Verdacht auf Arterienverkalkung, und Sie wissen –«

»Ja – ich weiß.«

Die Worte klangen schwer in das Schweigen hinein. Magnus Heckes' Züge waren beherrscht; aber er hatte unwillkürlich die Augen gesenkt.

Das hatte er doch nicht erwartet, als er heute hierherfuhr – das nicht. Er war ja doch noch nicht verbraucht, und auch noch nicht am Ziel. Im Gegenteil! Und plötzlich wollte sich alles in ihm leidenschaftlich aufbäumen gegen das Urteil, das ihm da eben gesprochen war – der ganze gewaltige Wille zum Leben, der noch in ihm steckte, die stählerne Energie, die noch so viel Spannkraft hatte. Mußte das denn sein – unumstößlich?

Endlich hörte er den Arzt wieder sprechen, in einem sich entschuldigenden, beschwichtigenden Tone:

»Ich mußte Ihnen das freilich sagen, weil Sie es ausdrücklich verlangten; aber man braucht ja doch nicht gleich an so etwas zu denken. Wie gesagt, wenn Sie sich schonen, wenn Sie sich vom Geschäft zurückziehen, was allerdings wohl dringend angezeigt wäre –«

Da sah Magnus Heckes wieder auf, und er hob nun abwehrend die Hand:

»Genug, Doktor! Sie wissen ja ebensogut wie ich, daß das alles Unsinn ist – Pardon, ich meine, für mich nicht auch nur einen Moment in Betracht kommen kann. Ein Leben ohne Arbeit ist für mich überhaupt keines, und daher –«

Er endete nicht, sondern wandte sich kurz ab und griff nach dem Hut.

»Na, dann also Adieu, Doktor, und besten Dank für Ihre Offenheit. Sie ist mir viel wert. Ich habe noch so allerlei vor und ich weiß nun – ich habe Eile.«

Damit schüttelte er dem Sanitätsrat die Hand und ging.

Ernst sah ihm der Arzt nach. Schade um den Mann! Das Leben hatte doch nicht zuviel seinesgleichen aufzuweisen.

* * *

»Wirklich – Sie, Frau Eleonore?«

Bestürzt blickte Magnus Heckes auf die Besucherin, die sich eben bei ihm hatte melden lassen. Er hatte ja seinen Ohren nicht trauen wollen, und nun war sie es doch. Noch stolzer, noch blasser als sonst, aber auch noch schöner – so schien es ihm, wie er nun in ihr Antlitz sah, das sie vor ihm entschleierte. Und mit einem Ton, der ihm sonst fremd war, fuhr er fort:

»Sie sehen mich fast erschreckt – was mag Sie herführen?«

Sie antwortete nicht gleich; aber dann sah sie ihn fest an mit ihren dunkeln Augen, in denen das Leuchten eines leidvollen, großen Entschlusses stand:

»Sie ahnen recht, es mußte schon etwas Besonderes sein.« Tief holte sie Atem, ehe sie nun sagte: »Ich bin entschlossen, von meinem Manne zu gehen. Ich muß einem Zustand ein Ende machen, der unhaltbar ist, unter dem er leidet wie ich, und ich allein bin der, der hier handeln kann.«

Magnus Heckes zuckte zusammen. Er sah sie an mit stumm fragenden Augen.

Frau Eleonore bemerkte es, und eine feine Röte stieg in ihr schönes Antlitz. Wie in einem leisen, aber stolzen Verneinen bewegte sie ihr Haupt. Und dann sagte sie, etwas schneller:

»Aber nicht um Ihnen das zu sagen, bin ich gekommen. Sie mußten es nur wissen, um alles zu verstehen. Was mich herführte, ist das Glück meiner Tochter – unserer Kinder.«

»Wie – Volkmar?«

Sie nickte und dann hob sie unwillkürlich die Hände zu ihm, bittend, beschwörend:

»Lassen Sie es genug sein an einem zerstörten Leben, lassen Sie wenigstens unseren Kindern beschieden sein, was –«

Sie sprach nicht zu Ende. Die innere Bewegung zitterte aus den abbrechenden Worten, und in ihren schönen, dunkeln Augen schimmerte es feucht.

Da griff er nach ihren Händen, die sie ihm nun überließ. Er fühlte sie beben in seinen Fingern. So hielt er sie lange, ohne ein Wort zu sprechen.

Was für ein Hohn des Schicksals: Nun wurde sie frei – nun, wo ihm das Urteil gesprochen war!

Und während ihn nur dieser eine Gedanke ganz ausfüllte, erzählte sie von dem Herzeleid ihrer Tochter, von der Unbeugsamkeit ihres sonst so ruhigen Gatten, der jetzt – nachdem ihm die große Illusion seines Glücks zerstört war – nie und nimmer seine Einwilligung zu der Verbindung seiner Tochter mit dem Sohne Magnus Heckes' geben würde. Aber, wie sie Hedwig kannte, war diese entschlossen, trotz all ihrer Liebe zu dem Vater, doch der Stimme ihres Herzens zu gehorchen. Und sie bestärkte sie darin. Nur das nicht verleugnen – sie wisse am besten, was diese größte Lüge des Lebens für eine Frau bedeute. Und darum sei sie nun zu ihm gekommen: Sie fürchte ja, auch er werde in starrer Feindschaft sein Veto sprechen – aber das dürfe er nicht! Wenn sie ihm je etwas gegolten habe, so möge er es jetzt beweisen an ihrem Kinde.

Magnus Heckes ließ sie zu Ende sprechen. Die leidenschaftlich-bitter aufwallenden Empfindungen in ihm waren unter ihren Worten abgeebbt, nun stand ein seltsames, stilles Lächeln um seine Lippen, und er drückte sanft ihre Hände, wie er jetzt erwiderte:

»Seien Sie ohne Sorge, Frau Eleonore, ich werde Ihrer Tochter kein Hindernis in den Weg legen. Wenn sie und Volkmar glauben, miteinander glücklich zu werden – in Gottes Namen. Und,« etwas leiser fügte er es hinzu, »ich glaube, auch Ihr Mann wird vielleicht bald keinen Grund mehr haben, ihnen Schwierigkeiten zu machen.«

Ein Gefühl warmer Dankbarkeit überströmte Frau Eleonore; aber nun horchte sie plötzlich auf.

»Wie meinen Sie das?« forschte sie. Aber er wich ihrem drängenden Blick aus.

»Sie werden schon sehen – vorderhand noch ein kleines Geheimnis, eine Berufsangelegenheit.«

Da ließ sie sich wieder beschwichtigen, wenn sie auch nicht verstand, wie das ihren Mann umstimmen sollte. Aber die Hauptsache war ja auch, daß sie seine Zustimmung hatte, und sie dankte es ihm mit bewegten Worten.

Dann erhob sie sich, ihre Hand zog den Schleier wieder über das Gesicht. Was sie hier zu erledigen gehabt hatte, es war getan – für sich selber suchte sie ja nichts. Und mit einem tiefen Atemzuge bot sie ihm so ihr Lebewohl.

Da sah Magnus Heckes sie noch einmal an, mit einem tiefdringenden, ernsten Blick.

»Frau Eleonore, lassen Sie mich Ihnen noch ein Wort sagen, als guter Freund – wollen auch Sie mir eine Bitte erfüllen?«

Sie sah ihn an mit einer gewissen Unsicherheit.

Da lächelte er wieder wie vorhin.

»Sie können es mir schon ruhig versprechen, auch ich bitte nichts für mich.«

Abermals stieg das lichte Rot in ihre Wangen, das sie so verschönte, und sie sagte:

»Bitte, so sprechen Sie.«

»Es handelt sich um das, was Sie mir da vorhin gleich als erstes mitteilten – Ihren Entschluß von Ihrem Manne zu gehen. Pardon, wenn ich daran rühre, aber ich meine es nur gut mit Ihnen.« Sein tiefernster Ton nahm der Situation alles Peinliche. »Ich kann alles verstehen, Frau Eleonore – aber auch für Sie gilt das, was ich vorhin für Ihre Tochter sagte: Warten auch Sie – nur ein wenig Geduld noch, und die Situation in Ihrem Hause, die Ihnen jetzt unerträglich erscheint, sie wird sich ändern, bessern – vielleicht eher als Sie denken.«

Ganz betroffen sah sie ihn an.

»Sie sprechen so rätselhaft.«

»Die Rätsel werden sich lösen – sehr einfach.«

Sie schüttelte das Haupt.

»Wie wollen Sie das machen? Mein Mann –«

»Ich habe ein Mittel, ihn versöhnlich gegen mich zu stimmen, verlassen Sie sich darauf. Und darum – keine Übereilung, ich bitte Sie dringlichst, Frau Eleonore! Ihr Mann wird darüber hinwegkommen, Sie werden einander wieder die Hand reichen als gute Freunde – Sie werden der Welt nicht das Schauspiel einer Scheidung nach zwanzigjähriger Ehe zu bieten brauchen. Und nun geben Sie mir die Hand darauf – Sie werden es abwarten!«

Sie zögerte noch immer. Da fragte er:

»Wollen Sie mir diese Bitte wirklich abschlagen, die einzige, die ich je an Sie richtete?«

In seiner Stimme schwang leise etwas, das sie erschütterte. Wortlos reichte sie ihm die Hand, und dann wollte sie rasch gehen. Altes, Unvergessenes stand wieder vor ihr auf.

Aber er hielt sie fest; so sagte er, dicht zu ihr geneigt, mit schnellgehendem Atem:

»Das Beste, was ich in meinem Leben empfunden, das danke ich Ihnen, Eleonore. Ich habe vielleicht nur einen Menschen wahrhaft geliebt,« und er zog ihre Hand für einen Moment an seine Lippen.

Doch dann war er es selber, der sie, die zitternd Zusammenschreckende, mit einer sanften Bewegung ohne ein weiteres Wort zur Tür hindrängte.

* * *

Der Streik war zu Ende. Die gewaltige Bewegung, die als Sturmflut eingesetzt, hatte sich im Sande verlaufen. In den letzten Wochen nur noch ein mattes Aufzucken hin und wieder, noch ein paar Versammlungen, noch ein paar tönende, rollende Phrasen, aber nur der Trommelwirbel, der den Rückzug auf der ganzen Linie deckte.

Ohne großes Aufhebens davon zu machen – die gegnerische Seite war klug genug, dem geschlagenen Feinde goldene Brücken zu bauen – hatten Hunderte schon im stillen wieder die Arbeit auf der Zeche aufgenommen, ohne daß die offizielle Parole von der Führerschaft dazu ausgegeben worden wäre. Aber nun war auch das selbst erfolgt. Es hatten auf Ansuchen der Ausständigen Verhandlungen zwischen den kampfführenden Parteien stattgefunden, und schließlich war es zu der Vereinbarung gekommen: die Arbeiter ließen ihre Forderungen fallen, traten zu den früheren Bedingungen wieder ein, und dafür nahmen die Arbeitgeber ihre Aussperrung zurück. Nur die Rädelsführer, die gar zu toll gehetzt hatten, mußten über die Klinge springen; sie waren von der allgemeinen Amnestie ausgeschlossen.

So war denn die Ruhe wieder hergestellt – endlich! Und alles atmete auf im Kohlenbezirke wie im ganzen deutschen Lande, wie von einem schweren Alp erlöst. Mit doppelter Energie ging es nun an die Arbeit; galt es doch die schweren Wunden dieses erbitterten Kampfes, die beide Teile noch auf lange hinaus schmerzlich empfinden würden, nach Möglichkeit wieder auszuheilen.

Damit hatte Magnus Heckes auch gerechnet, als er nun die Einladung zu der seit langem vorbereiteten Konferenz an alle Kohlenzechen im Revier ergehen ließ, mit der Tagesordnung: Dauernder Zusammenschluß der gesamten Kohlenindustrie zur allseitigen Wahrung ihrer Interessen. Und der Zeitpunkt war günstig gewählt. Der Ausgang des Streiks eben hatte allen klar gezeigt, wie auch hier das alte Wort galt: Einigkeit macht stark. In den Wochen gemeinsamen Kämpfens, Schulter an Schulter, war man sich einander nähergetreten, hatte gelernt, Opfer für die Allgemeinheit zu bringen, die privaten Interessen einmal unterzuordnen – eine gute Vorschule für das, was Magnus Heckes weiter wollte.

Aber dennoch war er fern von absoluter Sicherheit. Im Gegenteil; er kannte seine Leute. Und er hatte nur zu recht damit. Als seine Einladungen zu der Konferenz da draußen allenthalben bei den Werken eingingen, da erhob sich ein mißtrauisches Kopfschütteln: Hallo! Worauf zielte das ab? Ein dauernder gemeinschaftlicher Zusammenschluß zur Wahrung ihrer Interessen – sehr schön, höchst erstrebenswert. Aber in der Hand des Herrn Magnus Heckes konnte das Ding leicht ein anderes Gesicht bekommen – eine Schutztruppe für ihn, ein Vorspann, der in letzter Linie nur für ihn arbeiten sollte. Da hieß es: die Augen auf! Die Sache wollte doch sehr mit Vorsicht genossen sein. Und man beredete sich eifrig untereinander. Was tun? Ging man zu der Konferenz oder ging man nicht? Aber schließlich kam man doch zu dem Entschluß: Nun, hingehen konnte man ja; man konnte ja dann immer noch tun und lassen, was man wollten

So kam der große Tag heran. Auf Zeche Willibrod war alles schon dafür vorbereitet. Im Saal des Direktionsgebäudes sollte die Sitzung stattfinden. Die zentrale Lage des Werks mitten im Kohlenbezirk ließ es besonders geeignet erscheinen für diesen Zweck, abgesehen davon, daß Heckes der Einberufer der Versammlung war.

Aber auch sonst noch bot Zeche Willibrod den Herren von nah und fern ein besonderes Interesse. Es konnte, wer da wollte, bei dieser Gelegenheit gleich einmal die Grube besehen, um die Wirkungen der verheerenden Katastrophe zu studieren; denn die Aufwältigungsarbeiten im Schacht waren jetzt soweit geschritten. In den letzten Tagen gerade war man an die Örter gelangt, wo wohl der Ausgangspunkt des ganzen Unglücks zu suchen war – auch das Bergen der Opfer war nun endlich möglich. Freilich, es blieb wenig zu bergen: ein paar verbrannte Gebeine, ein Häuflein Asche – das war alles, was die Flamme von den Unglücklichen übriggelassen hatte.

Die Hoffnungen der Witwen, die da nach wie vor tagtäglich harrend auf dem Zechenplatz herumsaßen, wurden bitter enttäuscht: auch dies letzte nicht einmal! Keine vermochte die traurigen Überreste als die des eigenen Gatten zu erkennen. So würde man eine Schar von Namenlosen zur ewigen Ruhe führen an jenem Tage der großen Trauer, wo alle die Opfer der Katastrophe ein gemeinsames, feierliches Begräbnis haben sollten. Die Vorbereitungen zu der düsteren Feier waren schon allenthalben im Gange.

Volkmar Heckes kam aus dem Beamtenbad. Er war auch heute wieder in der Grube gewesen, wie jeden Tag, seitdem die Aufwältigungsarbeiten es erlaubten. Erst immer noch in der Hoffnung, wenigstens von Jupp Freukes Spuren zu finden, die ihm Gewisses über sein Ende verkündeten. Aber nun hatte er dieses Hoffen längst aufgeben müssen. Auch der Freund war verschollen, zu Staub und Asche verweht mit der großen Schar seiner Unglücksgefährten. Niemals würde das Dunkel über seinem Grabe sich lüften. Ein Trost nur, ein düsterer: Alle Befunde, die man jetzt machte, sprachen dafür, daß sie sich allesamt wenigstens nicht lange da unten gequält haben konnten. Die beständigen Explosionen, Flammen oder Nachschwaden hatten im Nu hingerafft, wen sie auf ihrem großen Vernichtungszuge in der Tiefe ereilt hatten.

Verloren in ernste Gedanken, kam Volkmar so hinüber ins Direktionsbureau. Er wollte hier noch kurz Bericht erstatten über seine heutigen Feststellungen in der Grube und sich dann umkleiden gehen für die Konferenz, an der auch er teilnehmen sollte nach dem Wunsch seines Vaters. Aber gleich nachdem er sein Zimmer betreten, erschien der Diener und bat ihn zu diesem hinüber.

Volkmar entsprach sofort der Aufforderung.

»Du wünschest mich, Vater?«

»Ja.« Magnus Heckes, der am Schreibtisch saß, sah auf, und, anders als es sonst seine Gepflogenheit war, legte er beiseite, was er unter der Hand hatte.

»Komm, setz' dich einmal her zu mir. Ich habe Dinge von Wichtigkeit mit dir zu besprechen.«

Volkmar ließ sich nahe bei dem Vater nieder, ein Verwundern im Blick. Es war heute etwas an ihm, was er noch nie bemerkt hatte. Fast hätte er sagen mögen – Feierliches. Oder war es vielleicht nur, weil der Vater da in dem ungewohnten Gehrockanzug in seinem Bureau saß? Er war bereits für die Konferenz angezogen. Aber nein, auch über seinem Gesicht lag jener seltsame, ihn befremdende Hauch. Dies Gesicht war übrigens auffallend blaß. Der Vater schien wenig Ruhe gefunden zu haben in dieser Nacht – die Bedeutung der heutigen Verhandlungen beschäftigte ihn doch wohl mehr als er sich anmerken ließ.

Magnus Heckes hatte eine Weile mit gesenkten Augenlidern auf seine ineinandergelegten Hände gesehen, wie wenn er erst sorgfältig überlegte, was er sagen wollte – auch das etwas Ungewohntes an ihm – aber nun blickte er auf.

»Du weißt, es sollen heute hier wichtige Dinge vor sich gehen – Dinge von höchster Bedeutung nicht nur für unsere Werke, sondern für die gesamte Kohlenindustrie. Darum eben möchte ich dir einmal noch vorher den richtigen Standpunkt zu diesen Dingen geben. Du wirst heute manche Meinung zu hören bekommen – ich wünschte, die meine möchte dich überzeugen.«

Wieder hob Volkmar erstaunt den Kopf. Dieser Ton fast freundschaftlicher Güte an seinem Vater? Mit großen Augen blickte er ihn an.

Aber Magnus Heckes tat, als bemerkte er es nicht. Ernst und eindringlich fuhr er fort:

»Seit Jahren schon, seit Jahrzehnten – ja, ich kann sagen, schon seit dem Moment, wo ich geschäftlich selbständig zu denken lernte, hat mir dieses Ziel vor Augen geschwebt, dem ich nun heute ein Stück näherzukommen hoffe, und systematisch habe ich an seiner Verwirklichung gearbeitet. Wenn ich den Umfang unseres Stammwerks wesentlich erweitert und ihm dann nach und nach eine ganze Anzahl anderer Werke angegliedert habe – es geschah alles konsequent unter diesem Gesichtspunkte. Ja, ich habe in gewissem Sinne Eroberungs-, Aufsaugungspolitik getrieben, an mich gebracht, was ich konnte – ich mache gar kein Hehl daraus. Denn ich wollte groß, wollte ein Machtfaktor werden in der Kohlenindustrie, mit dem man rechnen mußte. Aber nicht etwa« – und um seine Lippen spielte es jetzt leise verächtlich – »wie mir vielfach nachgesagt wird, ich weiß es wohl, aus schrankenloser Herrschsucht und Besitzgier – die Leute, die mir das unterschieben, kennen mich denn doch nicht ganz. Nein, es galt einem immerhin doch etwas höheren Ziele: dem Zusammenschluß aller wirtschaftlichen Kräfte des Industriebezirks zu einer Großmacht, die dereinst einmal den Weltmarkt beherrschen und speziell der deutschen Kohlenindustrie eine führende Stellung dabei zuteilen soll. Die Konzentration der Kräfte, der Übergang zum Großbetrieb – für das einzelne Unternehmen ist diese Entwicklung ja längst als gegeben in unserer Zeit anerkannt. Warum aber nicht auch für die großen Industrien selber? Warum hier willkürlich haltmachen? Zeigt uns nicht bereits Amerika deutlich an, wohin der ganze Gang der Dinge treibt? Die großen Truste, Ringe, Syndikate – was sind sie anderes als wieder weitere Konzentrationen der schon entstandenen größeren Gebilde? – Also das ist es; in diesem Sinn habe ich Großmachtpolitik getrieben, um einmal all die anderen mit mir fortreißen, mit meinem Gewicht auf sie drücken zu können. Mir hat dabei immer – du wirst das richtig verstehen – ein Vorgang in der Geschichte packend vor Augen gestanden: Wie einst Preußen zuvor groß werden mußte, um nachher das größere Deutsche Reich, zum Teil gegen den Willen der einzelnen Bundesstaaten zusammenzuschmieden – so muß sich ein gleiches hier vollziehen, im Reich der Industrie.«

Magnus Heckes machte eine Pause.

Mit großen, leuchtenden Augen blickte Volkmar auf den Vater. Zum erstenmal sah er hinein in dessen Innerstes, und, was er sah, packte ihn mit wuchtiger Gewalt. Sie nannten ihn oftmals den »Napoleon« der Industrie, als den Mann, der ehern kalt über Blut und Leichen ging – er hätte jetzt einen besseren Mann gewußt: an den eisernen Kanzler mußte er unwillkürlich denken, der, freilich im gigantischen Maßstabe, ein ähnliches Werk vollbracht, wie es der Vater plante – diesem vielleicht ein bewußtes Vorbild. Und hingerissen von Bewunderung, zu der sich plötzlich eine heiße Sohnesliebe gesellte, sah er so wortlos zu ihm hin.

Auch auf Magnus Heckes' Zügen hatte es für einen Augenblick geglänzt. Wie er so – zum erstenmal in seinem Leben – über das sprach, was ihm der Inhalt seines Daseins gewesen war, mochte auch er sich der Größe der selbstgestellten Aufgabe mit heimlichem Mannesstolz bewußt geworden sein. Aber jetzt schien es Volkmar, als lagerten sich plötzlich tiefe Schatten über das Antlitz des Vaters, und mit einem veränderten, schweren Ton fuhr er fort:

»Das war es etwa, was ich dir sagen wollte. Du siehst nun selber, was da heute geschehen soll, selbst wenn es glückt, es bleibt nur erst der Anfang zu Größerem. Heute vielleicht der Zusammenschluß der Kohlenindustrie – in Jahr und Tag der Zusammenschluß der gesamten Montanindustrie überhaupt. Das ist das Endziel! Stahl und Eisen gehören zu uns. Die Ansätze sind schon da – Zeche und Hütte, der große Angliederungsprozeß ist im Fluß. Aber erst wenn er wirklich alles erfaßt haben wird, was Bedeutung hat, erst dann, wenn der größere, beide umfassende Ring geschmiedet sein wird – erst dann wird die deutsche Montanindustrie die Herrscherstellung einnehmen können, die ihr gebührt. Bis dahin aber wird noch manches Jahr vergehen, und – wer weiß, ob man's noch erlebt. Darum, Volkmar,« und sein Auge suchte jetzt den Sohn mit einem gewaltigen Durchdringen, »wollte ich einmal mit dir gesprochen haben. Du wirst dereinst an meinem Platze stehen – werde ich die Gewißheit mit hinfortnehmen können: mein Werk wird einen verständnisvollen Förderer und vielleicht Vollender finden an dem Sohne?«

Unter dem Bann dieses Blicks, der ihm bis ins Herz drang, war Volkmar aufgesprungen; eine wunderbare Weihe, aber zugleich auch eine tiefe Erschütterung war über ihn gekommen bei diesen Worten des Vaters – das klang ja wie ein Vermächtnis.

»Vater –!«

Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, die Bewegung übermannte ihn, aber seine Augen sagten genug.

Da nickte Magnus Heckes, wie ein Aufleuchten der Befriedigung ging es über seine Züge.

Dann stand auch er auf und sah nach der Uhr.

»Du wirst dich nun umkleiden müssen. In einer halben Stunde sind die Herren hier. Nur eins noch!« und Heckes trat jetzt dicht zu dem Sohn heran. »Ich weiß, du trägst dich mit Heiratsgedanken –«

Volkmar schrak unwillkürlich zusammen. Wie ein Lächeln spielte es da leise um Magnus Heckes' Mundwinkel; aber es hatte heute nichts von jener gewohnten Schärfe an sich, und er legte plötzlich seine beiden Hände dem Sohn vertraulich auf die Schultern.

»Ich habe nichts dagegen. Grüße mir deine Braut.«

Es schoß Volkmar heiß in die Augen. Er konnte nichts sprechen, aber überwältigt von dieser nie erfahrenen Güte, ergriff er die Rechte des Vaters und drückte sie wieder und immer wieder.

Eine Weile duldete es Magnus Heckes; es stand dabei ein seltsamer Ausdruck in seinen Augen – Volkmar verstand ihn später – doch dann entzog er sich den Händen des Sohnes, und sein Ton hatte fast wieder den alten herrischen Klang, wie er nun nochmals mahnte:

»Geh jetzt – es ist die höchste Zeit.«

* * *

Stundenlang währte schon die Konferenz. Jeder der Teilnehmer war sich bewußt: das war eine entscheidende Stunde für ihrer aller Zukunft, und doch war noch kein Beschluß zustande gekommen. Zu tief wurzelten bei vielen doch noch Mißtrauen und Sonderinteressen – die Furcht, sich Fesseln anzulegen bei der Vereinigung, die die Bewegungsfreiheit des einzelnen beschränkte. Da ergriff Magnus Heckes, der nach dem einleitenden Vortrag sich absichtlich zurückgehalten hatte, jetzt wieder das Wort:

»Meine Herren, Sie verlieren über all dem die Hauptsache aus dem Auge – den großen Gesichtspunkt, der namentlich für die Zukunft ausschlaggebend sein wird, und wir wollen doch nicht bloß bis morgen denken. Wie ich Ihnen schon vorhin sagte, der springende Punkt ist die Rivalität zwischen Kohle und Eisen! Beachten Sie doch die Entwicklung der Dinge: Erst die Hüttenzechen, nun die Zechenhütten, die sich eigene Gruben einverleiben, um unabhängig von uns zu werden – ein Verschmelzungsprozeß, der schließlich darauf abzielt, uns leitend zu beeinflussen. Gewiß, den gemischten Werken gehört die Zukunft. Ich habe das ja selber immer vertreten und an meinen eigenen Werken zur Tat gemacht. Nur das Werk ist eben heutzutage in der Montanindustrie noch dauernd konkurrenzfähig, das in den wichtigsten Rohstoffen unabhängig ist von jeder Preisschwankung und unabhängig auch in jeder Beziehung sonst. So wird dann also die Verbindung von Kohle und Eisen auch fortab erst recht die Parole sein – aber unter der Führung der Kohle, meine Herren, das muß unsere besondere Losung sein! Und darum brauchen wir jetzt unsern Zusammenschluß, ganz abgesehen von den übrigen, naheliegenden Gründen. Wir wollen uns nicht von der Eisenindustrie in die Stellung quasi nur einer Hilfsindustrie hinabdrücken lassen. Nein, uns gebührt die Leitung! Wer ist denn hier die ältere, bodenständige Industrie? Doch nur wir – die Kohle! Und darum, meine Herren, noch einmal – lassen wir die Stunde nicht ungenützt vorüber. Sie kommt vielleicht nie wieder!«

Machtvoll hatte Magnus Heckes gesprochen, hochaufgerichtet mit all der gewaltigen Kraft, die von seiner Persönlichkeit ausging und selbst den Widerstrebenden in ihren Bann zwang.

Nun setzte er sich wieder, ruhig und beherrscht, wie es seine Art war; abwartend, wie seine Worte gewirkt haben würden. Sie hallten wuchtig in jedem der Anwesenden nach, die meist gedankenvoll vor sich hin blickten. Nur Volkmar hatte das Auge auf den Vater gerichtet und er allein sah daher auch nur, wie jetzt auf dessen Gesicht ganz plötzlich eine fahle Blässe trat und er mit fest zusammengebissenen Zähnen, die Augen geschlossen im Stuhl leicht zurücksank, wie in einem heftigen, geheimen Anfall von Schmerzen. Freilich nur einen Moment lang – dann schlug er die Lider gleich wieder auf und sah schnell um sich. Keiner hatte es wohl bemerkt, alle waren sie zu sehr mit sich beschäftigt.

Nur Volkmar sah mit einem erschrockenen Ausdruck auf den Vater hin. Was war das eben? Eine seltsame, dunkle Angst begann in ihm aufzusteigen.

Aber wie wenn Magnus Heckes seine Gedanken ahnte, richtete er sich schnell im Sessel wieder auf, und ein Lächeln trat auf seine Züge. Mit fester Stimme sprach er noch einmal – ganz kurz, zur Entscheidung drängend.

Und diese nahte heran. Die Vertreter der einzelnen Werke ergriffen das Wort; eine große Anzahl von ihnen erklärte sich für den Heckesschen Vorschlag. Aber immer noch hielten sich einige, darunter angesehene Namen, zaudernd zurück. Man stand vor der Abstimmung; die Entscheidung balancierte auf des Messers Schneide. Da sprach Heckes noch ein letztesmal. Er war aufgestanden und stützte sich anscheinend leicht, wie in einer zufälligen Bewegung, auf den Tisch. Aber Volkmar, der seit jenem Moment vorhin den Blick nicht mehr von dem Vater wandte, glaubte zu sehen, daß die Hände sich mit äußerster Kraft an der Tischplatte festhielten, als bedürfe er einer solchen Stütze, und die dunkle Angst in ihm wuchs, während der Vater sprach:

»Meine Herren, ein letztes Wort! Keine Halbheiten – Sie kennen diesen meinen Grundsatz. Und so erkläre ich Ihnen denn jetzt hier in letzter Stunde: Wir alle oder keiner! Schließt sich auch nur einer von uns aus, so fällt damit die ganze Sache – ich selber bin der erste, der dann nicht mittut. Und dann – das freie Spiel der Kräfte, der Konkurrenzkampf bis aufs Messer – der Stärkste siegt! Après nous le déluge!«

Er war sich dessen voll bewußt, was er tat: ein Vabanquespiel. Alles konnte gewonnen, aber ebensogut verloren sein. Und wie er so mit stahlharter Miene hineinsah in den Kreis, begann plötzlich sein Herz zu klopfen bis in den Hals hinauf, immer wilder und unregelmäßiger. Ein Angstschweiß brach ihm aus – er fühlte die Tropfen auf der Stirn perlen. Wollte ihn seine Kraft, die ihm noch nie versagte, gerade jetzt verlassen, unmittelbar vorm Ziele?

Nein – und nochmals nein! Alles in ihm bäumte sich auf dagegen. Und wirklich, der gewaltige Wille zwang noch einmal die Natur – er überwand den Anfall, der schon im Anzuge war.

»Also, dann zur Abstimmung, meine Herren – bitte, durch Erheben.«

Fest klang seine Stimme durch den Sitzungsraum und nun, wo das laute Rücken der Stühle verhallt war, wie ein jeder mit gespanntester Erwartung sich umsah – da war keiner sitzen geblieben.

Sieg!

Ein befreiender Atemzug aus tiefster Brust bei Magnus Heckes, und in seinen Augen strahlte es auf, wie Volkmar es noch nie an ihm gesehen hatte. Wie verklärt sah das auffallend blasse Gesicht des Vaters aus, wie er so – jetzt wieder völlig frei, ohne jede Stütze – dastand. Noch nie war ihm das Gewaltige, Überragende an seinem scharf gemeißelten Kopf so aufgefallen wie in dieser Minute – auf dem Höhepunkt seines Lebens. Unter all den vielen Männern hier, denen Energie und Bedeutung auf der Stirn geschrieben stand – er, Magnus Heckes, ohne Widerrede der erste! Und ein unbeschreiblicher Stolz auf den Vater wallte heiß in Volkmar auf – ein Wunsch, ein Geloben, sich stets seiner würdig zu zeigen.

Auch in den Mienen der Männer alle, die sich nun wieder setzten, spiegelte sich die große Bedeutung der Stunde. Sie fühlten, das war ein Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung – sie erlebten hier etwas Ungewöhnliches mit, waren berufen zur Mitarbeit dabei, und dies Bewußtsein hob sie für Augenblicke über die engeren Schranken ihres einzelnen Wirkungskreises, ihrer eigenen Persönlichkeit hinaus. Sie fühlten sich als Glieder eines Großen, Ganzen, für das sie bereit waren, Opfer zu bringen und ihren persönlichen Ehrgeiz unterzuordnen.

In diese Stimmung hinein fiel dann Heckes' Aufforderung zur Wahl des Vorsitzenden des neuen großen Verbandes. Einer der Herren erhob sich sofort:

»Meine Herren, ich glaube, es bedarf weiter keines Worts. Wir alle fühlen: nur einer ist dazu berufen, ist der gegebene Führer auch fernerhin, wie er es in dieser entscheidenden Stunde war –«

Ein brausendes, einstimmiges Bravo unterbrach den Sprecher, bis dieser wieder fortfahren konnte, mit erhobener Stimme:

»So darf ich denn sagen: Zum Vorsitzenden ist gewählt unter allseitiger Zustimmung – Herr Magnus Heckes!«

Noch einmal machte sich die hochgehende innere Erregung der sonst so ernsten, kühl denkenden Männer mit einem freudigen, langanhaltenden Beifall Luft. Dann winkte Magnus Heckes – genug, genug! – und ergriff seinerseits das Wort. Er bemühte sich, mit der gewohnten ruhigen Sachlichkeit zu reden, aber doch merkte man der Stimme die innere Bewegung an.

Er war sehr blaß. Allen fiel es jetzt mit einemmal auf, wo die Spannung von ihnen genommen war; aber keiner ahnte den letzten Grund: da riefen sie ihn begeisterungsvoll zu ihrem Führer aus – ihn, der die Hand des großen Schnitters schon über sich fühlte.

Und so sprach er tiefernst:

»Meine Herren – ich danke Ihnen. Dies eine Wort mag Ihnen alles sagen. Wenn ich aber trotzdem die mich ehrende Wahl nicht annehmen kann – nein, nein, meine Herren, es ist mein voller Ernst, ein wohlüberlegter Entschluß – wenn ich also nicht annehmen kann, so – geschieht das aus einem triftigen Grunde.«

Er schwieg einen Moment, das Auge gesenkt, und Volkmar meinte es in seinem Gesicht heimlich aufzucken zu sehen. Dann aber fuhr er wieder fort, und nun war wieder ganz die alte Ruhe in ihm, wie er jetzt den Blick fest auf die Versammelten richtete.

»Aus einem triftigen Grunde,« wiederholte er noch einmal. »Ich bin doch nicht die geeignete Persönlichkeit für das Amt, das Sie mir ehrenvollerweise zugedacht haben. Wohl war ich vielleicht gerade berufen, Sie bis hierher zu bringen – so ein bißchen mit sanfter Gewalt,« das ihm eigene Lächeln spielte um seinen Mund, »aber nun ist ein andrer besser am Platz. Ein Mann, dem es seiner ganzen Natur nach mehr als mir gegeben ist, Gegensätze auszugleichen und vermittelnd zu wirken. Ich bin eine Kampfnatur, meine Herren, da könnte ich also nur Schaden anrichten im eigenen Lager. Ja, ja – ich kenne mich besser!« winkte er lächelnd ab. »Also, es hilft nichts, meine Herren – Sie müssen sich schon meinen guten Gründen fügen. Wer wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, meinen Rat zu befolgen, so wählen Sie anstatt meiner den Mann, den ich wie keinen anderen für berufen halte, den Vorsitz fortab zu übernehmen, seiner ganzen konzilianten Natur nach. Sie kennen und schätzen ihn alle. Er ist leider heute hier nicht unter uns erschienen, er hat – unabkömmlich durch Geschäfte, wie er mir schrieb – nur seinen Herrn Vertreter zu uns entsandt, aber ich bin sicher, er wird Ihre Wahl trotzdem annehmen. Ich meine – Herrn Bergrat Vermeren!«

Beifallsrufe erschollen, und da Heckes' Entschluß unwiderruflich war, so wurde nach seinem Vorschlage beschlossen. Damit war die Sitzung zu Ende.

Alle traten sie nun zu Magnus Heckes heran, sich mit einem kräftigen Händeschütteln persönlich von ihm zu verabschieden. Daß er, den sie stets für herrschsüchtig gehalten, freiwillig zugunsten seines ausgesprochenen Widersachers vom Vorsitz zurückgetreten war, es hatte sie staunen gemacht, dann aber ihm die Sympathien in erhöhtem Maße gewonnen. Zum Donnerwetter – der Heckes war doch au fond ein Kerl, auf den sie eigentlich allen Grund hatten, stolz zu sein! Und noch nie in seinem Leben hatte Magnus Heckes so viel ehrlich gemeinte Händedrucke empfangen wie in dieser Stunde.

Aber fast schien es, diese ungewohnten Sympathiekundgebungen seien ihm lästig. Seine Mienen hatten plötzlich etwas Ernstes, fast Düsteres bekommen und er biß die Zähne aufeinander, nur ein kaum verständliches Wort zum einen oder anderen murmelnd. Und plötzlich, jetzt – wurde er aschfahl.

»Pardon – mir ist nicht ganz wohl.«

Mit Mühe nur stieß er die Worte hervor, und wandte sich zur Tür.

Betroffen sah man sich an, doch man beruhigte sich dann rasch wieder. Schließlich ja kein Wunder – nach der begreiflichen Spannung, gerade bei ihm! Außerdem, sein Sohn war ja auch schon ihm nach, in den Nebenraum.

In der Tat – Volkmar hatte des Vaters so plötzliches Verfärben gesehen, war, im Innersten erschrocken, ihm nachgeeilt und nun bei ihm im Zimmer.

Da stand Heckes, sich an der Lehne des Sessels krampfhaft aufrecht haltend und wie verzweifelt nach Luft ringend, mit qualvoll verzogenem Antlitz.

»Vater –!«

Die Rechte des Kämpfenden wollte sich abwehrend nach dem Sohn hinstrecken – allein wollte er sein, keinen Zeugen haben für das was nun kam, er fühlte es! – aber plötzlich fuhr die Hand zum Herzen, ein dumpfer Aufschrei, die Linke hing schlaff herunter wie in einer Lähmung, und schwer sank der Körper dann auf dem Sessel zusammen.

Das war das Ende.

Magnus Heckes war gefallen als Sieger nach der gewonnenen Schlacht.

* * *

Schwarz wehten die Trauerfahnen vom Schachtturm auf Zeche Willibrod. Schwarz umflort brannten am hellen Tage die sämtlichen Lampen an den Gebäuden – eine tiefernst-feierliche Stimmung erzeugend – und in ihrem Schein formierte sich auf dem weiten Zechenplatz der Trauerzug, der den Herrn des Werks zugleich mit seinen Arbeitern, den Opfern der Grubenkatastrophe, zur letzten Ruhestätte geleiten sollte.

Es war so der Wunsch gewesen des neuen Herrn, des Sohnes – Volkmar Heckes. Und er wußte, es war im Sinne des Entschlafenen selber. Nicht da draußen hätte er zu ruhen gewünscht, in der Gruft der Familie in dem stillen Bistorp, wo er sich immer nur als ein Fremder gefühlt hatte – nein, hier bei seinen Werken, denen sein ganzes Leben gehört hatte. Der eiserne Taktschlag der Arbeit würde ihm das beste Schlummerlied singen.

Ein Schauspiel voll düsteren Pomps war es, das Zehntausende herbeigelockt hatte von nah und fern. Noch jetzt immer strömte es auf allen Straßen und Wegen der Zeche zu. Die helle Sonne des Spätherbstes lag strahlend über dem Industriebezirk und nahm ihm von der Finsterheit seines Anblicks – ein Abglanz des Lebens, das doch stärker ist als der Tod.

Ein endloser, gewaltiger Zug, wie ihn noch keiner je geschaut hatte hier im Reiche der Kohle, bewegte sich nun unter den ernsten Klängen eines Trauermarsches langsam aus dem offenen Hauptportal der Zeche heraus: Eine unheimliche, riesige, schwarze Schlange, die sich bald die ganze Landstraße zwischen der spalierbildenden Menge hin zog, und in düster gleißender Pracht schillerten an ihr wie blinkende Schuppen die im Sonnenlicht glitzernden, umflorten Banner, Helmspitzen, Uniformen und Metallbeschläge der Särge.

An fünfzig solcher Särge führten sie hintereinander dahin in langem Zuge, mit den Überresten der unglücklichen Opfer der Grubenkatastrophe. Vor den Trauerwagen marschierte eine Abteilung von Knappen mit mächtigen Kränzen und Palmen, in der Bergmannstracht, jener prunklosen Uniform von der Farbe der schwarzen Tiefe, deren schwerer Ernst die ganze Gefahr des Berufs schon äußerlich anzudeuten scheint. Und hinter den Särgen schritten die Hinterbliebenen, Hunderte in tiefster Trauer – Frauen, Kinder und sonstige Anverwandten, ein erschütterndes Bild. Unter ihnen, in der ersten Reihe ein altes Paar, tränenlos, aber schwergebeugt von Gram die müden, welken Glieder: Vater Freukes mit der Gefährtin seines mühsalvollen Lebens. Vielleicht war unter den Aschenresten der fünfzig Namenlosen da in den Särgen doch auch er, dessen Bild sie heute mit brennenden Augen wieder vor sich sahen in all seiner Kraft, die ihnen immer so unverwüstlich geschienen hatte.

Aber erschütternder fast noch war ein anderer Anblick: der Zug der Tausende, der Arbeiter der Zeche Willibrod, die ihren Kameraden die letzte Ehre erwiesen. Ganz schmucklos, ohne jeden Pomp, die meisten sogar nur im einfachen Tagesanzug – aber doch, was sprach alles aus den finsterernsten, blassen Gesichtern, diesem stumm dahinschreitenden Heer von Männern der Arbeit? Neben verwitterten, gebückt gehenden Veteranen die Jungen, auch schon in das harte Joch der Fron gespannt. Wie ein schwerer, dumpfer Hauch ging es aus von diesen Tausenden – der ganze freudlose Ernst des menschlichen Lebens, das unter dem uralten Fluche steht: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!

Und dann hinter diesen ein einzelner Sarg – nicht prunkvoller als die andern da vorn, und doch richteten sich aller Blicke auf ihn, wie von einer magnetischen Macht angezogen – auf diesen schlichten Totenschrein, der als einzigen Schmuck nur einen schlichten Kranz von Lorbeer und eine ernstgrüne Palme trug – – Sieg und Frieden, die Erfüllung eines Lebens, das dem Kampfe geweiht war. So wurde Magnus Heckes den andern nachgetragen, nach dem Wunsche des neuen Herrn und Sohnes – auch nur ein Arbeiter an seinem Werke.

Lautlos standen die Tausende, als mit den andern Särgen auch dieser eine an ihnen vorbeigeführt wurde, und die Köpfe, die so oft in finsterem Trotz und Haß dem Lebenden den Gruß geweigert hatten, sie neigten sich jetzt still dem Toten.

Ein einziges Grab nahm drüben auf dem Kirchhof dann gemeinsam die auf, die zusammen den Tod in der Grube erlitten hatten – ein unheimliches, gewaltiges Grab. Mit schwarzen Tüchern war es ausgeschlagen, mit dunkelm Tannengrün geschmückt, und zahllose, umflorte Grubenlampen spendeten ihr flimmerndes, spärliches Licht den fünfzig da zu ihrer letzten Einfahrt – ein Bergmannsbegräbnis.

Und nun, wo die Särge der schwarzen Tiefe übergeben, erhob sich auf der Tribüne am Grabe der Geistliche, dem das Heil dieser Seelen anvertraut gewesen war. Mit lauter, weithinschallender Stimme sprach er, wuchtige Worte voll ernsten Mahnens an die, die da noch im Licht des Lebens standen. Aus diesen Worten klang, geläutert durch die Kraft des Glaubens, wider, was in den letzten Monaten in trüben Leidenschaften die Herzen der Tausende hier erregt hatte. Und so sprach er:

»Zeugen sind wir geworden eines erschütternden Unglückes – Zeugen eines erschütterten Kampfes. Herrn der Erde – so nennt ein altes Bergmannslied den, der furchtlos ihre Tiefen durchmißt. Herren der Erde – es dünken sich die, die in Macht gewaltig und groß dastehen, denen der Boden unter ihren Füßen gehört weithin mit all den Schätzen der dunkeln Tiefe – Herren über die Tausende, die ihr Brot essen, die ihrem Wink willfährig sein müssen. Herren der Erde – es vermessen es sich aber auch zu werden jene Tausende, die nicht länger mehr ihren Nacken beugen wollen dem Joch; die da meinen, ihrer sei die Gewalt, die Macht, wofern sie sich nur zusammenschweißen zu einem ehernen Mauerbrecher wider die uralte Ordnung der Dinge. Herren der Erde – hüben und drüben welch eitler Wahn! Geduldig trägt und sieht die alte Erde, die ein Größerer geschaffen hat nach seiner uns verborgenen Weisheit, eine lange Weile wohl solch vermessenes Menschenspiel mit an; aber dann zuckt sie auf in zürnendem Grimm, und aus ihrem dunkeln, rätselhaften Schoß brechen finstere Gewalten, furchtbare Schrecken, Tod und Verderben bringend über die, die sich hineingewagt haben in ihr Reich. Darum wir alle, die wir hier stehen, ohne Unterschied, ob hoch und gering – legen wir ab den irrenden Stolz, den vermessenen Wahn, beugen wir die Häupter dem einen, der da ist in Wahrheit: der Herr der Erde!« –

Und dann stand ein engerer Kreis der Trauergemeinde, die Familie und die Berufsgenossen, um die Gruft, die sich drüben auf der andern Seite des Friedhofs geöffnet hatte, um Magnus Heckes aufzunehmen.

Zu Häupten des Grabes Volkmar Heckes, männlich aufrecht, wie er es dem Mann schuldig war, dem sie hier die letzte Ehre erwiesen. Neben ihm zwei Frauen, beide ganz in Schwarz, beide schön in ihrer tiefen Blässe. Und doch welche Gegensätze – die eine das Hoffen, die Jugend, die nach der Zeit der Trauer mit festem Griff hineinfassen wird in das schöne, blühende Leben – die andere das leidverklärte Stillesein, das nichts mehr für sich selber erhofft, das nur anderen noch zu geben gedenkt, was es vermag.

An der Spitze der engeren Berufsgenossen aber, die mit ernstem Blick hinabschauten in die Gruft des Mannes, den sie vor wenigen Tagen noch vor sich gesehen in all seiner bezwingenden Kraft, stand der Bergrat Vermeren, und er hob jetzt die Hand – lautlos lauschte alles seinem Scheidewort:

»Meine Herren, schwächliche Trauer wäre nicht nach dem Sinn des Mannes von Stahl und Eisen, den wir hier dem Schoß der Erde übergeben, aus dem er zeit seines Lebens seine Kraft gezogen. Wir alle haben ihn gekannt, nicht immer geliebt – dies freie Wort sei ihm eine Ehre, denn die Stärke seiner machtvollen Persönlichkeit brauchte viel Raum, sie traf oft hart den andern – aber bewundert haben wir ihn. Keiner unter uns, der das heute nicht neidlos eingesteht! Und so soll er weiterleben für uns, als ein Vorbild allezeit. – Meine Herren, wir haben eben da drüben an einem andern großen Grabe gestanden, dessen dunkler Mund wie mit einer erschütternden Klage zu uns predigte. Aber, es darf uns das doch nicht weich machen und nicht beirren auf unserem Wege. Wenn der Mund hier noch sprechen könnte« – und Vermeren wies auf den Sarg zu seinen Füßen – »er würde uns als echten Mannestrost das rauhe, aber stolze Wort zurufen, das, wie es einst der Wahlspruch der alten Hansa war, so auch zu dem seinen geworden ist: › Navigare necesse est, vivere non.‹ Das bedeutet für uns und für jeden echten Bergmann: ›Das Leben ist uns das Höchste nicht – das ist uns unsere Pflicht, unsere Arbeit!‹ Und mit diesem Wort lassen Sie uns nun hinweggehen von seinem Grabe, mit dem Vertrauen: Arbeit, unermüdliche, vorwärtsstrebende Arbeit von Menschengeist und Menschenhand, sie bringt uns doch noch einmal ans Ziel, sie macht uns doch noch dereinst zu – Herren der Erde!«

* * *


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