Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

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Die Heckessche Villa lag ein Stück abseits vom Zechenplatz, inmitten eines parkähnlichen, großen Gartens, den eine hohe Mauer mit zierlicher Rokokokrönung rings umschloß. So lag der schloßähnliche Besitz, wiewohl ganz nahe den Werken, doch von diesen abgesondert, und das Treiben seiner Bewohner war allen zudringlichen Blicken entzogen.

Volkmar hatte abgelegt, sich in dem reich mit Marmor und geschliffenen Spiegeln ausgelegten Garderoberaum vom Reisestaub gereinigt, nun ging er durch die Flucht der luxuriösen Repräsentationsräume nach hinten in den Wintergarten. Er hatte vom Diener gehört, daß die Geschwister dort beim Tee säßen.

Bei seinem Eintreten verstummte plötzlich die Unterhaltung von Bruder und Schwester, die er eben noch im Nebenraum durch die geschlossene Glastür hindurch sehr lebhaft – fast erregt, wie es ihm hatte scheinen wollen – vernommen hatte. Die Köpfe der beiden, die dort in der Palmenecke in den roten Korbmöbeln saßen, drehten sich mit einem Ausdruck des Unwillens zu dem unerwartet Eintretenden hin; sie hatten wohl einen dienstbaren Geist vermutet. Aber nun wich dieser Verdruß einer leichten Überraschung.

»Ach, du bist's!«

Und man begrüßte den Bruder, aber ohne jeden Überschwang, als ob man sich nur ein paar Tage nicht gesehen hätte, und es waren doch volle zwei Jahre.

»Na, wie geht's?«

Leichthin erkundigte sich der ältere Bruder, Willibald, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Er war nur auf Urlaub hier aus seiner Garnison in der Nähe Berlins, wo er bei einem vornehmen Kavallerieregiment stand. Und die Schwester Regina fragte:

»Nimmst du nicht auch eine Tasse Tee?«

Im Tone vornehmer Repräsentation, wie wenn er hier als Fremder zu Besuch wäre. Und ebenso klang nun Volkmars Antwort zu der Schwester hinüber, deren blonde, rassige Schönheit ihm in dieser Pose der Hausfrau noch neu war – er war ja seit dem Tode der Mutter nicht mehr hier gewesen:

»Vielen Dank, ich nehme gern – nur, ich fürchte, ich komme euch ungelegen. Ich merkte wenigstens, wie ich eintrat –«

»Ach so!« Willibald lachte. »Waren wohl ein bißchen lebhaft in unserer Debatte? Wir hatten nämlich gerade ein heikles Thema beim Wickel – Finanzen, weißt du! Da werden die Gemüter leicht erregt.«

Und er stieß den Zigarettenrauch behaglich langsam von sich. Regina, die schon mit dem Einschenken des Tees beschäftigt war, sah zu Willibald hinüber, mit einem unwilligen Ausdruck.

»Ich finde, liebster Willi, du nimmst die Sache doch recht sehr leicht.«

»So – findest du?«

»Allerdings, die Summen, um die es sich handelt, sind doch wahrhaftig keine Bagatellen mehr.«

»Also, da krieg' ich's nochmal zu hören! Und nun wird dir vermutlich ja Volkmar als guter Bruder beispringen. Denn nicht wahr – du Musterknäblein, hast wahrscheinlich ja in deiner ganzen Studienzeit keinen Pfennig Schulden gemacht – im Gegenteil, vermutlich noch gespart, beim Bankier einen ganzen Batzen gut stehen. Nicht?«

»Ganz recht,« ruhig erwiderte Volkmar auf den ironischen Ton des Bruders, während er dankend die Tasse aus Reginas Hand nahm. »Und ich stehe dir gern damit zu Diensten, wenn dir damit geholfen ist.«

Überrascht sah Willibald auf. Etwas wie Beschämung wollte einen Augenblick bei ihm aufsteigen. Aber dann lachte er gleich wieder, sein gewohntes leichtfertig-liebenswürdiges Lachen, dem man so schwer widerstehen konnte:

»Wie weise hat es doch eine gütige Vorsehung eingerichtet, daß wir Menschenkinder nicht gleich sind allzumal. Wohin sollte es einmal mit uns kommen, wenn du auch die leichte Ader hättest wie ich! So sammelt der eine von uns wenigstens in die Scheuern, was der andere hinausstreut in die Winde. Ausgleichende Gerechtigkeit! – Also, lieber Volkmar, ich akzeptiere natürlich dein freundliches Anerbieten mit Kußhand. Wir sprechen wohl nachher noch mal drüber.«

»Dein Leichtsinn ist wirklich göttlich!« grollte Regina. Sie ärgerte sich heimlich, daß Willibald bei dem gutmütigen Bruder so leichtes Spiel haben sollte. Aber der Unverbesserliche nahm sie übermütig um die Taille.

»Leichtsinn? Nee – Grundsatz, my darling! Noblesse oblige: Einer von uns muß doch wenigstens das unanständig viele Geld etwas unter die Leute bringen, das unser alter Herr zusammenkratzt. – Ihr habt nur eben gar kein soziales Empfinden!«

Und seelenvergnügt warf er die nur halb aufgerauchte, teure Zigarette fort und entzündete sich eine neue. Das Thema war für ihn erledigt.


Freukes schritt in der Grube, im Querschlag, hin. Völlige Dunkelheit umfing ihn hier unten, die nur der Schein seiner Lampe auf ein paar Schritt hin dürftig aufhellte. In dem gelblichen Licht blinkten zu seinen Füßen die Schienen der Förderbahn auf.

Jetzt drangen vor ihm aus dem Dunkel menschliche Stimmen an sein Ohr; der Schall trug hier in den engen Gängen des festen Gesteins ja viel weiter als das winzige Licht, und im nächsten Augenblick hörte er es auch schon deutlich herüberschallen:

»St – der Fahrsteiger!«

Der Hall der eigenen, schweren Tritte mochte denen da vorn sein Nahen schon angekündigt haben. Es überraschte ihn auch nicht weiter, daß sie, die ihn doch noch gar nicht erkannt hatten, bereits wußten, wer da kam – kannte er doch aus der eigenen Lehrzeit her das geheime Telegraphensystem in der Grube. Sowie ein Beamter droben zur Einfahrt in den Förderkorb gestiegen war, meldete es ja schon das Telephon hinunter im Schacht zur Sohle, und von hier ab wurde durch Klopfsignale an den Röhren der Wetterleitung die Meldung weitergegeben. So fand dann der Revidierende alles stets in bester Ordnung vor.

Aber er kannte wie gesagt die Schliche, und wenn es, wie auch jetzt auf seinem Gange, allenthalben in den Wasserleitungen zu der vorgeschriebenen Berieselung verdächtig lebhaft rauschte, so wußte er, was die Glocke geschlagen hatte – Potemkinsche Dörfer! Vor ein paar Minuten noch hatte hier sicher kein Mensch an Rieseln gedacht.

Aus der Finsternis vor ihm tauchte jetzt die kleine Gruppe von Leuten auf, aus deren Mitte eben der Warnruf erschollen war. Es waren Reparaturhauer, die sich nun mit geflissentlichem Eifer an der Zimmerung des Querschlages zu schaffen machten. Freukes trat jetzt herzu.

»Jawohl, der Fahrsteiger!« Mit grimmigem Humor rief er es ihnen zu. »Müßt ein andermal nicht so laut schrein! – Ihr arbeitet ja hier recht fleißig, wie's scheint – he?«

Die Leute lachten verlegen. Aber schon sah er mit scharfem Blick zu einem von ihnen hin.

»Na, alter Freund, willst wohl mal wieder hübsch Hölzchen mit nach Haus nehmen?« und er wies auf ein Stück frisch abgesägten Kernholzes, das verdächtig abseits gelegt war.

Der Angeredete richtete sich von seiner Arbeit auf. Mit dem Ton der gekränkten Unschuld antwortete er im harten Deutsch des schlesischen Polen:

»Wirr sein Preißen, Herr Farrsteiger – wirr nemmen nix mit!«

Er spielte wohl auf die »wilden Völker«, die Ausländer, in der Grube an.

»Na, euch Brüder kennt man!« meinte aber Freukes, mit dem Fuß gegen den Holzbutzen stoßend.

Weitergehend hörte er den Mann halblaut in einer fremden Sprache hinter ihm her fluchen. Da drehte er sich lachend noch einmal herum:

»Na siehst du, du Schubbiack! Wie schön polnisch du nun mit einemmal wieder fluchst – du edler Preuße du!«

Der Pole schwieg still, wie es in der Art seines Volkes lag: frech und aufsässig hinter dem Rücken, aber kriechend, wenn es die Herrenfaust über sich spürt. Erst wie die Tritte des Fahrsteigers ganz verhallt waren, drohte er mit der Faust hinter ihm her: » Paza Krev!« und spie verächtlich aus. Auf polnisch sprach er dann zu seinen Arbeits- und Stammesgenossen, mit fanatischem Ton:

»Die Preußen sind für uns eine Seuche, eine Pest! Weil Gott gerecht ist, wissen wir, daß die Preußen einst zu unseren Füßen um Gnade winseln werden!«

Ein Evangelium, das ihm sein polnisches Hetzblatt tagtäglich predigte, und auf das er mit den Seinen schwor. –

Im Weitergehen sah Freukes bald wieder mehrere Lichter vor sich über den Geleisen auftauchen – Schlepper. Die Leute, es waren ihrer drei, bemühten sich vergebens, einen mit Steinen schwer beladenen Wagen an den Zug heranzuschieben, den sie zusammenstellen wollten.

Freukes trat näher heran.

»Na, was soll denn hier die Volksversammlung?«

»Dat geht nich,« klang es aus der Gruppe zurück, und die Männer wischten sich den Schweiß von der Stirne.

»Ach was, geht nicht! Natürlich, gestern war Lohntag, nun seid ihr schlapp!«

Inzwischen war er selber an den Wagen getreten und packte den Rand mit seinen eisernen Fingern. »Na, nu mal alle noch mal ran – hupp – hupp – so!« Mit einem Ruck flog der Wagen auf die Schienen. »Na seht ihr, es geht alles! Man bloß keine Müdigkeit vorschützen.«

»Jo, wenn Se mit anpacken, Här Föhrstieger!« meinte einer der Leute und sah auf den Riesen, wohl einen Kopf größer als er.

Aber Freukes ging schon wieder weiter, sich die Hände am rotbunten Taschentuch abwischend. Er bog nun ab in eine der Strecken, an denen Betriebspunkte lagen, um auch hier nach dem Rechten zu sehen. So kam er an ein kleines Ort, das nur mit drei Leuten belegt war.

Ihrer zwei von der kleinen Kameradschaft arbeiteten vor der Kohle; kräftige Männer, völlig entkleidet bis auf Hose und Schuhe, knieten sie vor dem Ortsstoß und führten unablässig ihre Hiebe gegen das Flöz.

Herantretend – sie hatten ihn noch gar nicht bemerkt – sah Freukes ihnen einen Augenblick zu, wie sie, ohne ein Wort zu wechseln, unermüdlich ihre Arbeit taten. Dann rief er sie an:

»Glück auf!«

Die Leute ließen die Keilhauen sinken und drehten sich um.

»Glück auf!«

Gewohnheitsmäßig erwiderten sie den Gruß, der für sie nur noch eine leere Formel war, und wollten die Haue wieder heben. Aber der Fahrsteiger trat näher auf sie zu.

»Na, wie steht's denn hier mit dem Wetter – alles frei?«

»Jo, alles gut.«

»So. Seht ihr denn auch mal nach?«

Freukes fragte es, während er schon seine Lampe herabdrehte, ganz klein, und sie dann prüfend gegen die Firste des Kohlenstoßes hielt. Er fragte es nicht ohne Grund. Kannte er doch aus seiner Lehrzeit her die Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit der meisten Leute gegen diese Vorschriften zu ihrer eigenen Sicherheit, die, nur um die Minute der Wetterprobe zu sparen, lieber ihre Lampen ruhig da oben am Stempel hängen ließen.

Die Hauer erwiderten nichts, sondern sahen jetzt nur mit einem stumpfen Blick auf das Licht des Fahrsteigers. Was half das alles groß? Man konnte doch nicht jeden Moment nach dem Wetter sehen, da kam man ja überhaupt nicht zur Arbeit. Und wenn das Unglück kommen sollte, kam es doch.

In der Lampe Freukes' zeigte sich jetzt über dem herabgeschraubten Flämmchen ein kleiner, blauer Lichtsaum, das charakteristische Anzeichen für das gefürchtete Grubengas.

»Seht ihr Kerls – es ist hier doch nicht wetterfrei,« wandte er sich an die Leute. Dann blickte er wieder auf die Lampe. Der blaue Saum nahm nicht zu, blieb klein wie er war. »Es ist ja zwar nicht viel, aber ganz gleich – ihr müßt selber revidieren und melden, wenn ihr was gefunden habt, auch wenn's noch so wenig ist. Ihr wißt doch, ihr seid hier auf einer Wettergrube!«

»Jawoll, Här Föhrstieger.«

Der eine der beiden antwortete es endlich, aber mehr mechanisch. Man hörte deutlich heraus, daß nach wie vor doch alles beim alten bleiben würde. Nur so tun, so lange der Steiger da war; nachher machte man doch wieder, was man wollte.

Freukes wußte das nur zu gut. Bei der Stumpfheit der Leute war schwer etwas zu erreichen. Na, man tat eben seine Pflicht. Und so fragte er weiter:

»Wie ist's – habt ihr auch immer genügend gute Luft hier?«

Die Leute sahen sich nach der Wetterführung um, hinter ihnen in der Strecke. Dann sagte der eine langsam:

»Die Lutte kann woll wat näh'r 'ran.«

Auch Freukes blickte hin. Das Blechrohr, das die einfallende Tagesluft der Arbeitsstelle zuführte, mündete in der Tat etwas zu weit ab. Er nickte, während er sich eine Eintragung in sein Notizbuch machte.

»Ich werde euch Lutten 'runterschicken. Warum habt ihr's nicht nur schon eher gemeldet? Ihr kommt ja doch jeden Morgen am Steigerbureau vorbei; wozu sitzt denn der Steiger da?«

Wieder nur ein stumpfsinniges Stillschweigen.

»Na, ist gut. Dann arbeitet nur wieder.«

Und Freukes ging langsam vom Ort, während die Leute schon wieder ihre Hauen hoben und von neuem auf die Kohle loshieben. Kopfschüttelnd sah der Fahrsteiger noch einmal zu ihnen hin: die reinen Arbeitstiere – fleißig, unermüdlich, aber ohne Intelligenz, ohne Interesse, nicht einmal für das Nächstliegende. Freilich, die Menschen waren verschieden. Er hatte auch andere Leute im Revier, die waren aufgeweckt, pfiffig; da hieß es sogar die Augen offen halten, daß sie einem nicht ein Schnippchen schlugen.

Als Freukes wieder in die Strecke einbog, trat ihm ein Mann entgegen und hielt ihm sein Lohnbuch hin.

»Ick möcht' bitten, Här Föhrstieger –«

»Vorschuß?« Freukes wußte schon Bescheid. »Frau krank?«

Er sah sich den Mann scharf an. Es war ein ihm als zuverlässig bekannter langjähriger Arbeiter auf der Grube.

»Jawoll, Här Föhrstieger – seit drei Wecken all.«

Freukes nickte kurz, gab die nötige Bescheinigung für den Kassierer und reichte dann dem Mann das Buch zurück, der sich dankend damit entfernen wollte, aber immer noch mit sorgenvoller Miene. Der Fahrsteiger sah ihm einen Moment nach. Dann rief er ihn noch einmal zurück.

»Kersken – hören Sie mal!« Der Mann kam wieder zu ihm. »Wenn's etwa nicht langen sollte zu dem Vorschuß, so soll er ihn auf mein Konto schreiben – verstanden?«

»Här Föhrstieger –!«

Der Mann brachte unbeholfen nichts weiter hervor, aber seine Augen leuchteten den Vorgesetzten an.

»Schon gut, Kersken,« Freukes wandte sich bereits wieder ab, »und gute Besserung für Ihre Frau.«

Der Fahrsteiger setzte seinen Revisionsgang fort. Ein Stück weiter trat er in eine andere Strebe ein, einen größeren Betriebspunkt, vor den ein halbes Dutzend Hauer gelegt waren.

»Na, wie arbeitet's sich denn hier?« erkundigte er sich bei dem Ortsältesten. »Seid ihr mit dem Gedinge zufrieden?«

Der Mann sah auf und ließ die Haue sinken.

»De Kohle geht hier schwor weg; se is verdammt hart un meist ok angebrannt. Dor –« und er wies auf eine Stelle im Liegenden, wo man in der Tat die Kohle mit dem Gestein fest verwachsen sah. »Dat Gedinge könnt maklich woll wat höher wirn. Wie makt doch ok all twe Feierschichten pro Monat!«

»Na, was kriegt ihr denn für ein Gedinge?«

Freukes fragte es, und nun, wo die Lohnfrage verhandelt wurde, hörten mit einemmal auch alle die andern fünf Hauer mit ihrer Arbeit auf; alles sah auf den Fahrsteiger, während der Ortsälteste weiter Auskunft gab.

»Ene Mark vattig pro Wagen.«

»Und wieviel fördert ihr?«

»Na, so an 22, 23 Wagen sind dat immer woll.«

»Na, also kommt auf den Kopf immer noch fünf Mark vierzig. Das ist doch noch ein ganz schönes Geld für die schlechten Zeiten. Ihr wißt doch, es ist kein Geschäft, draußen liegt uns das ganze Lager voll Kohle. Seht's ja täglich, wenn ihr vorbeikommt.«

»Dat stimmt ja woll, Här Föhrstieger, obers wi feiern doch all twe Mol in 'n Monat! Dat mäck ok wehr tähn Mark achßig weniger.«

»Jo, up de annern Zechen arbeten se noch ohne Feierschichten.« Ein anderer warf es ein, ein ernster Mann mit verbitterten Zügen in dem hageren Gesicht. Man sah es deutlich trotz der Rußschicht darüber. »Hunnertfifundattig Mark verden ick den Monat, dorvön goht för Gefälle un de Stürn noch enmol tähn Stück af – wat, dor fall ick mit hunnertfifuntwintig Mark mine Frau un de acht Blagen dörbrengen? – ne, dat geht nich.«

Freukes machte eine Gebärde des Bedauerns, aber dann sagte er:

»Ja, lieber Mann, wenn Sie acht Kinder haben, das ist Ihre Sache, dafür können wir nichts. Da müssen Sie eben zusehen, wie Sie's machen, daß Ihre Frau noch was zu verdient – nehmen Sie sich doch 'nen Kostgänger.«

»n' Kostgänger? Nee, dann lewer noch so! Ick will min Wiw doch alleen hebben.«

Die andern lachten laut, sie verstanden sofort die derbe Zweideutigkeit des Wortes – kannten sie doch alle die Schattenseiten des Schlafburschenwesens, Der Fahrsteiger aber zuckte die Achseln; dann sagte er:

»Na, das geht uns ja auch, wie gesagt, gar nichts an. Aber was die Feierschichten anlangt, da solltet ihr doch froh sein, daß unsere Zeche es überhaupt noch so macht. Oder wär's euch lieber, wenn wir's machten, wie die anderen – die nicht feiern, aber dafür so und so viel Leute abkehren, jetzt bei den schlechten Zeiten?«

Die Männer erwiderten nicht gleich etwas. Natürlich entlassen zu werden war ja noch schlimmer.

Der Fahrsteiger wandte sich schon wieder zum Gehen, aber dann wollte er den Leuten doch noch ein tröstliches Wort sagen, und so kehrte er sich noch einmal dem mit den acht Kindern zu:

»Na, lassen Sie nur den Kopf nicht hängen, es werden ja auch wieder andere Zeiten kommen – das Geschäft wird wieder besser werden und damit auch Ihr Lohn. Und überhaupt« – er dachte weiter an den ständigen Fortschritt, die segensreiche Arbeiterfürsorge des Staats in dem letzten Menschenalter – »es wird ja doch alles besser auf der Welt, haben Sie nur Geduld und verlieren Sie den Mut nicht!«

Aber der Angeredete erwiderte mit bitterm Spott:

»Wisser woll, de Tid wed ümmer better – bloß wi erlewt dat nich mähr!«

Und er drehte sich kurz ab. Im nächsten Augenblick hallten schon wieder die harten Schläge der Haue gegen den Kohlenstoß.


Der Brand war völlig niedergekämpft. Ein weites Aschenfeld deckte den Platz, wo vordem die Grubenhölzer gelagert hatten. Aus den verkohlten Resten stieg wohl noch ein schwälender, weißgelber Qualm und züngelte hier und da ein Flämmchen, aber es war keine Gefahr mehr davon zu befürchten. Die Feuerwehr konnte abrücken; es genügte eine Brandwache von drei Mann, die auf der Stätte zurückblieb.

Auch die Arbeiter, die sich noch an den Aufräumungsarbeiten beteiligt hatten, waren schon längst entlassen; nur einige wenige waren bis zuletzt geblieben, um unter der Leitung von Betriebsführer Schürmann so gut es eben ging, auf dem wüst aussehenden Platze Ordnung zu schaffen. Aber nun schickte Schürmann auch diese nach Haus; die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen, die Leute würden froh sein, endlich heimzukommen – morgen war ja Ostern.

Nun wischte sich aufatmend auch Schürmann den Schweiß von der Stirn und wandte sich an den Fahrsteiger, der nach Beendigung seiner Grubenfahrt wieder auf die Brandstätte zurückgekehrt war und dort dem Betriebsführer bis zum letzten Moment getreulich zur Seite gestanden hatte.

»Das war heiße Arbeit heut, Freukes. Ich denke, nun können wir uns wohl auch Feierabend gönnen – wir haben uns den Schlaf heute ehrlich verdient.«

Jupp Freukes reckte lachend seinen Riesenleib; er schien, trotzdem er für drei gearbeitet hatte, noch immer nichts von Müdigkeit zu wissen.

»Mit dem Schlaf eilt's noch nicht; aber einen guten Trunk will ich jetzt tun. Die Kehle ist mir verdammt trocken.«

»Da haben Sie recht – als ob einem der Schlund selber ausgebrannt wäre.«

Und die beiden gingen zusammen von der Brandstätte. Vor dem Beamtenbad trennten sie sich.

»Na gut' Nacht, Freukes – lassen Sie sich Ihren Schoppen gut schmecken. Wenn sie mich nicht zu Haus schon lange erwarteten, käm' ich heut, weiß Gott, selber gern mal mit. Aber, wie ist's – haben Sie Lust, morgen abend bei uns zu sein?«

Die Dunkelheit verbarg die freudige Röte, die plötzlich dem jungen Steiger ins Gesicht schoß. Er hätte sich ja keine größere Feiertagsfreude wünschen können – die älteste Tochter seines Betriebsführers, die dunkeläugige, schlanke Marie, hatte es ihm schon lange angetan, und immer schon hatte er sich die Gelegenheit heimlich herbeigesehnt, sich dem Mädchen offen nähern zu können – krumme Wege, ein Anbändeln etwa hinter dem Rücken der Eltern, das gab es für einen ehrlichen Kerl wie ihn nicht. So erwiderte er denn den Händedruck seines Vorgesetzten mit einem Überschuß freudiger Kraft, der selbst der arbeitsgewohnten Faust Schürmanns fast zu viel war.

»Danke herzlich, Herr Betriebsführer! Wenn ich nicht störe, komme ich natürlich mit größtem Vergnügen.«

»Ach was, stören! Wir sind ganz unter uns in der Familie. Umstände werden nicht gemacht. Also dann auf Wiedersehen, morgen zum Kaffee.« –

Jupp Freukes pfiff sich eins beim Heimgehen. Es klang nicht gerade schön, und auch die Wahl der Melodie war nicht besonders auserlesen – immer und immer wieder der abgehackte, kurze Rhythmus des »Holzhackermarsches« – aber es kam ihm aus dem Herzen. Irgendwie mußte er seiner Frohheit Luft machen. Und aus diesem Gefühl, aus dem Wunsche heraus, auch andere an seiner Freude teilnehmen zu lassen, beschloß er auch nicht, wie dies erst seine Absicht gewesen war, ins Wirtshaus zu gehen, sondern sein Bier daheim zu trinken bei seinem Bruder, dem Fördermaschinisten. Da gab es freilich anstatt des eisgekühlten Faßbieres nur ein laues Flaschenbier vom Kaufmann, aber tat nichts – der Bruder und die Schwägerin sollten auch einmal ein kleines Bene haben; es ging ja sonst immer knapp genug zu bei ihnen. Fünf Kinder – da mußte mit dem Groschen gerechnet werden.

Das war auch der Grund, warum der Fahrsteiger sich bei ihnen in Quartier gegeben hatte; er wollte ihnen diese Nebeneinnahmen zufließen lassen. Denn gern tat er's ja eigentlich nicht; er verstand sich ganz und gar nicht mit dem älteren Bruder.

Bei diesem war's Neid, daß der Jüngere – nachdem der Vater als Markenkontrolleur ein paar Taler mehr verdiente – die gute Karriere hatte machen können, das Einjährige, und nun »seinen Betriebssichrer« in der Tasche hatte, während er es nur bis zum einfachen Maschinisten hatte bringen können. Damals, als der Vater selber nur noch Bergmann gewesen war, hieß es ja für ihn, sich mit vierzehn Jahren schon sein Geld selber verdienen. Das vergaß er dem jüngeren Bruder nicht.

Diesem seinerseits war die verbissene Art des Ältesten zuwider, und ganz besonders dessen politische Gesinnung. Wenn freilich der Maschinist auch seiner Stellung wegen nach außen hin vorsichtig war und sich nur unter Gesinnungsgenossen offen gab, in der Familie machte er doch kein Hehl daraus, daß er »rot« war bis auf die Knochen. Der Steiger hatte daher schon oft ernste Bedenken gehabt – er konnte sich ja selber sehr schaden – aber das Mitleid mit der häuslichen Misere des Bruders hatte ihn doch immer wieder ein Auge zudrücken lassen. Und so vergaß er auch heute in seiner Herzensfreude alles andere – sie wollten einmal vergnügt sein zu Haus, alle drei!

Das Haus, in dem Freukes wohnte, lag im Arbeiterviertel der Industriestadt, nahe der Zeche. Eine schmutzige Straße, schlecht gepflastert, tagsüber der Tummelplatz unzähliger, schmutziger Kinder – jetzt dunkel, von spärlichem Laternenschein dürftig erhellt. Einförmig, wie düstere Kasernen standen dicht gedrängt die dreistöckigen Häuser, jedes ein Dutzend kinderreicher Familien in engen Räumen beherbergend.

Schon wie Jupp Freukes in den Treppenflur trat, schlug ihm der Geruch von dumpfer Stubenluft und zwiebelversetzten Bratkartoffeln entgegen, der hier stets um die Mittags- und Abendzeit das ganze Haus durchzog. Auf den Treppenpodesten standen noch die Waschkübel mit der Kinderwäsche, und hinter den Türen drang hier und da der keifende Laut einer scheltenden Frauenstimme hervor.

Es fiel Jupp Freukes das alles aber kaum mehr auf. Das war ja etwas ihm Gewohntes, ganz Selbstverständliches hier – es schien nun einmal zum Familienleben des Arbeiters zu gehören.

Auch wie er nun im dritten Stock in sein Zimmer trat – es hatte einen besonderen Eingang vom Flur aus – hörte er im Nebenraum laute, heftig erregte Stimmen. Aha, wieder mal eine kleine häusliche Auseinandersetzung zwischen Bruder und Schwägerin; auch das war ihm ja etwas Geläufiges, es war ja leider auch an der Tagesordnung. Aber heute, in seiner froheitsbedürftigen Stimmung störten den jungen Steiger diese Mißlaute doch. Er empfand sie plötzlich als etwas Häßliches, und, entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit, trat er, der sich grundsätzlich nie in die ehelichen Zwiste der beiden mischte, bei ihnen ein, um Frieden zu stiften.

Der Raum war Küche und Wohnzimmer zugleich; das kleine Hinterzimmer diente den Eltern mit ihren fünf Kindern als Schlafraum. Die beiden Kleinsten hatten sie dort bei sich in den Betten liegen; die drei größeren teilten sich in das dritte Bett.

Augenblicklich bot der Wohn- und Kochraum den Anblick eines wüsten Wirrwarrs dar. Die Möbel standen übereinander, der Fußboden war unter Wasser gesetzt, und die Schwägerin bearbeitete die Dielen mit Aufwischtuch und Schrubber. Der Bruder retirierte, die Tabakspfeife im Mund, wütend vor der Wasserflut von einem Winkel in den andern.

»Verfluchte Wirtschaft!« ergrimmte er sich. »Man weiß überhaupt nicht mehr, wo man bleiben soll. Da nebenan liegen die Blagen schon im Schlaf, und hier schwimmt alles. Kannst du deinen Dreckkram nicht wie andere Weibsleute schon am Nachmittag in Ordnung bringen?«

»Ja, bring' ihn doch in Ordnung, wenn dir die Fünfe da auf dem Halse sitzen!« Erbost richtete sich die Frau von ihrer Arbeit auf. »Die Kleinste warten, die Sachen flicken – ich kann sie doch nicht rumlaufen lassen wie die Lumpenmätze – dir dein Essen kochen, du willst ja auch nicht warten – und dann heute die ganze Gesellschaft baden, vor dem Fest – alles soll sein. Ich kann mich doch nicht zerreißen! Ich raxe mich so schon ab, daß ich bald nicht mehr weiter kann. Wenn's dir nicht paßt, dann hol' dir doch 'ne andere. Vielleicht wird die dir's mehr zu Danke machen. Lange wird's ja sowieso nicht mehr dauern mit mir.«

Und mit einer leidenschaftlichen, verbissenen Wut fuhr die Frau mit ihrem Schrubber wieder über den Boden hin, von dem inzwischen hereingekommenen Schwager gar keine Notiz nehmend.

Mit wirklichem Mitleid sah Jupp Freukes auf die Schwägerin, auf deren magerem, abgehetztem Gesicht jetzt zwei brennend rote Flecken auf den Backenknochen brannten. Sie konnte ihm in der Tat leid tun – eine unglückliche Natur, der der kinderreiche Hausstand über den Kopf gewachsen war. Sie verstand sich ihre Arbeit nicht einzuteilen, daran lag alles.

Wenn er an seine eigene Mutter dachte. Sie waren sogar ihrer sechs zu Haus gewesen und der Verdienst des Vaters damals eher noch geringer – aber wie war da alles am Schnürchen gegangen! Trotzdem ließ ihn jedoch sein gutes Herz die abgehetzte Frau hier in Schutz nehmen.

»Du mußt eben mal Geduld haben,« wandte er sich beschwichtigend an den Bruder.

»Mal!« höhnisch lachte dieser auf. »Hat man denn hier überhaupt jemals seine Ordnung? Ich kann kommen, wenn ich will, nie ist das Haus propper, nie das Essen zur Zeit fertig! Ewig muß man warten, wenn man müde und ausgehungert von der Zeche kommt. Aber ich habe die Lumpenwirtschaft bald satt – der Deuwel soll so weiterleben!«

Und krachend schlug er mit der Faust auf den Küchentisch, daß die daraufgestellten Töpfe und Schüsseln klirrend zusammenfuhren.

»Lumpenwirtschaft – Lumpenwirtschaft!« Mit verzerrtem Gesicht fuhr die Frau auf. »Wer ist denn schuld daran? Wer lumpt denn mehr von uns beiden? Ich, die ich von früh bis spät mich hier abschinde, oder du, der du Abend für Abend ins Wirtshaus läufst? Gib mir nur das Geld, das du da hinträgst, daß ich mal was anschaffen kann, daß ich nicht jeden Lumpen, der schon in Fetzen fällt, immer und immer wieder flicken muß! Unsere Kinder laufen ja schon rum, daß man sich vor den Nachbarn schämen muß. Aber da hockt ihr jeden Abend zusammen im Wirtshaus, schimpft über die Hungerlöhne, führt großmäulige Reden, wie ihr's ändern wollt und jagt dabei euer sauer verdientes Geld durch die Gurgel. Laßt lieber das ganze Geschwefel und spart eure paar Groschen – da werdet ihr weiter kommen!«

Lautes Kindergeplärr aus dem Nebenraum ließ die eifernde Frau verstummen und hinüber zu dem Säugling eilen, der vielleicht von dem Lärm aufschreckt war.

Mit einem dumpfen Fluch drohte der Maschinist mit der Faust hinter ihr her. Sie hatte ihn an seinem empfindlichsten Punkt getroffen. Dann riß er grimmig die Mütze vom Nagel.

»Bleib' doch, Wilhelm,« der Steiger trat begütigend zu ihm. »Deine Frau redet das ja nur so in ihrem Ärger hin. Ich will nachher mal ein ruhiges Wort mit ihr sprechen, und dann lassen wir alles vergessen sein – trinken mal gemütlich eins zusammen.«

Doch der Bruder riß sich von ihm los.

»Mir ist die Lust dazu verdammt gegangen. Ich kann das Frauenzimmer jetzt nicht ansehen, sonst –!«

Und abermals ingrimmig die Faust nach dem Schlafraum hinschüttelnd, lief er schnell hinaus; krachend flog die Tür ins Schloß.

Mißgestimmt kehrte Jupp Freukes allein wieder in sein Zimmer zurück. Selbst die Lust zu einem Trunk Bier war ihm vergangen; er begnügte sich mit einem Zug aus der Wasserflasche.

Die Hände auf dem Rücken ging er dann langsam in der kleinen Stube beim Schein der Lampe auf und ab. Laut hallte sein schwerer Tritt von den Wänden wider. Etwas Unbehagliches stieg in ihm hoch. Ihm war nicht gerade danach zumute, von den Freuden einer eigenen Häuslichkeit zu träumen.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, blieb er schließlich stehen und griff nach den Büchern in dem Regal, das über seinem Tisch an der Wand hing. Er mußte sie erst vom Staub abklopfen, es verirrte sich sonst nie eine Hand in diese kleine Hausbibliothek – ein Dutzend Bändchen, von seiner Schwägerin mit in die Ehe gebracht: ein »Andachtsbuch«, der »Praktische Hausarzt«, ein paar Erzählungen aus der frühchristlichen Märtyrerzeit, dazwischen drei Lustspiele für Liebhaberaufführungen. Die Schwägerin mochte wohl als junges Mädchen selber darin mitgewirkt haben bei der Aufführung im Verein.

Unwillkürlich blickte Jupp Freukes zu der Photographie unter dem Regal, die ein hübsches, frisches Frauengesicht zeigte. Ja, sie sah damals freilich anders aus! Und mit ernster Miene faßte der Fahrsteiger unwillkürlich nach dem letzten Buch in der Reihe, der Traubibel des damaligen jungen Paares. Er schlug die Titelseite auf – zuoberst ein Bibelspruch, der Trautext von der Hand der Schwägerin eingetragen:

»Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.« 1. Kor. 1, 13. Und darunter »Zur Erinnerung an unsere Trauung, den 6. Februar 1905.«

»Die Liebe höret nimmer auf«, der Wahlspruch dieser Ehe, und vorhin die traurige Szene – wie war doch alles so anders gekommen bei den beiden!

Mit gefurchter Stirn sah Jupp Freukes weiter auf das Titelblatt hin. Es folgten noch einige weitere Eintragungen:

»Tochter Alwine Martha, geb. 11. Juni 1905.«

Schon vier Monate nach der Hochzeit! Mit naiver Selbstverständlichkeit war es hier eigenhändig von der jungen Mutter bekannt. Sie hatten sich eben lieb gehabt und, als es Zeit war, geheiratet – in ihren Kreisen das Übliche, an dem niemand Anstoß nahm.

Und zweimal noch wiederholten sich diese Eintragungen, noch nach dem zweiten und dem dritten Kinde. Aber während zu Anfang die Niederschriften sauber, mit sorgfältiger Schönschrift gemacht waren, sah man ihnen nachher deutlich an, wie sie die Hand der Schreiberin nur noch in Eile hingekritzelt hatte, und von dem dritten Kinde ab fehlten die Eintragungen überhaupt ganz – Sinn und Zeit dafür waren nicht mehr da. Das Titelblatt der Traubibel war so ein beredter Spiegel ihres Lebens.

Gedankenvoll klappte Jupp Freukes das Buch wieder zu. Ging das nun in jeder Ehe so?

Er nahm seine Wanderung wieder auf.

Aber plötzlich blieb er stehen. Ein liebes Gesicht war vor ihm aufgetaucht mit einem Paar dunkeln, lachenden Augen. Das verjagte ihm flugs wieder alle solche dummen Gedanken. Nein, ihm würde es einmal nicht so gehen wie dem Bruder!

Diese Gewißheit machte ihn mit einem Schlage wieder froh, und als er sich nun die gewohnte Abendzigarre angezündet hatte, da scholl, wie vorhin auf dem Heimwege, sein Pfeifen munter durchs Zimmer. Ja, bis drunten auf der zweiten Treppe vernahm man den kurzen, abgehackten Takt des Holzhackermarsches, und so fidel klang es, daß selbst die abgehärmte Frau im Nebenzimmer droben für Minuten ihr Leid vergaß.


Am Morgen des Ostersonntags machten Willibald und Volkmar Heckes, nachdem sie die Brandstätte besichtigt hatten, später noch einen kleinen »Bummel durch die Völkerschau«, so nannte der erstere die Arbeiterkolonie, die sich nach der anderen Seite an die Zechenanlagen anschloß; nicht ganz mit Unrecht, denn die Belegschaft der Zeche Willibrod bestand nur zum geringen Teil aus landeseingesessenen Arbeitern. Die meisten waren von weither gekommen, aus Masuren, Schlesien, Polen, Galizien, Steiermark, Siebenbürgen, Slovenien, Rumänien, Italien, Holland und Belgien – in der Tat ein buntes Völkergemisch, das hier nun friedlich beieinander hauste.

Die Arbeiterkolonie mit ihren neuen, hübsch gebauten Häuschen, alle inmitten von Gärten gelegen, machte einen überaus freundlichen Eindruck. Die meisten der kleinen Bauten im einfachen Landhausstil verrieten schon von außen durch blanke Fenster, saubere Gardinen und Blumen auf den Fensterbrettern wohlgeordnete Häuslichkeiten, in denen selbst ein kleiner, behaglicher Wohlstand nicht fehlte.

Es herrschte heute, am Morgen des Osterfests, ein reges Treiben in der Kolonie. Die Frauen hantierten noch geschäftig im Hause und die Männer harkten in den Vorgärten – alles war bestrebt, sein kleines Anwesen in feiertäglichen Putz zu versetzen.

Während Willibald die günstige Gelegenheit dieses Alleinseins mit dem Bruder für seine Finanzangelegenheiten ausnutzte, hatte Volkmar seine Gedanken ganz wo anders. Er war ja entschlossen, dem Bruder das Geld zu geben; die Einzelheiten der Sache interessierten ihn nicht. Sein Sinnen war vielmehr, während er nur scheinbar auf die Worte Willis hinhorchte, ganz bei diesem geschäftigen Treiben der Koloniebewohner, bei dem freundlichen Bilde rings umher.

Volkmar Heckes sah dies geschäftige Leben mit innerer Frohheit; war es ihm doch ein Beweis, daß trotz all der gehässigen Agitation der Arbeiterführer, die mit ganz besonderer Vorliebe sich gegen die Person seines Vaters richtete, bei dessen Angestellten doch Zufriedenheit und Freude am Leben herrschte. Gewiß, sie mußten schwer arbeiten, aber sie hatten doch auch ihr gutes Auskommen. Und er gab dem jetzt zu dem Bruder Ausdruck:

»Man mag nun sagen, was man will, die Arbeiterkolonien sind doch ein unschätzbarer Segen für die Leute.«

»Und ein unschätzbares Mittel für die Werkbesitzer, um die Leute mehr in die Hand zu bekommen,« skeptisch erwiderte es Willibald. »Oder glaubst du, unser alter Herr würde Millionen über Millionen in diese Buden da stecken, wenn sich die Chose nicht hintenrum wieder bezahlt machte?«

Volkmars Züge überschatteten sich, aber nur einen Moment lang. Im nächsten rief er schon wieder:

»Und trotzdem – es ist eben hier wie mit vielen Dingen. Der Kaufmann, der übers Meer zieht, sucht auch seinen Vorteil, und doch bringt er den Wilden die Segnungen der Kultur. So geht's hier auch. Was auch die Motive sein mögen, die Sache selbst wird den Leuten zum Segen. Sieh' dich doch nur um, die Tatsachen sprechen ja beredt genug!«

Der Leutnant, der bisher seiner Umgebung kaum Beachtung geschenkt hatte, ließ jetzt durch das blitzende Einglas einen flüchtigen Blick darüber streifen. Er blieb schließlich an einer kleinen Gruppe von Leuten vor ihnen auf der Straße haften und sah nun schärfer zu.

»Sag' mal – steht da nicht Bongartz?«

»Der Kolonieverwalter?« Nun sah auch Volkmar hin. »Ja, richtig – das ist er ja.«

Willibald beschleunigte seine Schritte etwas.

»Wollen doch mal sehen, was der macht.«

Er nahm ein gewisses Interesse an dem Mann, der lange als Wachtmeister bei seiner Schwadron gestanden hatte. In der kleinen Gruppe hatte man inzwischen in den Herannahenden die Söhne des Werkbesitzers erkannt. Rasch waren die Kolonisten in ihr Haus zurückgetreten, nur der Verwalter war stehen geblieben. Mit abgezogenem Hut machte er militärisch Front vor seinem früheren Vorgesetzten.

»Tag, Herr Bongartz!« Und der Leutnant winkte ihm zu, sich den Kopf wieder zu bedecken. »Na, wie geht's Ihnen denn? Sich gut eingelebt in der neuen Stellung?«

»Danke gehorsamst, Herr Leutnant.« Bongartz, ein breitschulteriger, blonder Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart, aber doch gutmütigen Zügen, hatte zwar den Hut wieder aufgesetzt, behielt aber immer noch seine altgewohnte stramme Haltung bei. Die Linke hielt den derben Knotenstock fest gegen die Hüfte, als wäre es noch der Säbel wie ehedem. »Mit der Zeit gewöhnt man sich ja an den neuen Beruf.«

»Ist wohl nicht immer ganz leicht, hier Ordnung zu schaffen – was?« Und der Leutnant lachte.

»Nein, allerdings nicht, Herr Leutnant.« Auch das Gesicht des alten Wachtmeisters überzog ein respektvolles Lächeln. »Man hat schon seine Mühe mit den Völkern – namentlich, was die ganz wilden sind, die Kroaten und so. Man kriegt da Kerls, die bisher überhaupt noch nicht gewohnt waren, im Bett zu schlafen. Neulich hatt' ich doch so 'nen Burschen, der sein Schwein unterm Küchentisch eingebuchtet hatte – bei ihm zu Hause machten sie's im Winter immer so.«

Die beiden Heckes lachten, und der Leutnant meinte:

»Teufel auch – netter Bruder! Haben Sie viel von der Sorte, Bongartz?«

»Na Gott sei Dank ja nicht. Und allmählich zieht man sich die Kerls ja auch, Herr Leutnant. Mit den Mannsleuten geht das überhaupt noch ziemlich gut, nur was die Frauenzimmer sind, da hat man oft seine liebe Not.«

»Will ich glauben, lieber Wachtmeister. Das ist schwerer als Rekruten drillen. Was?«

»Das weiß Gott, Herr Leutnant! Aber ich kriege sie am Ende doch. Man muß nur immer höllisch hinterher sein. Wenn dreimaliges Verwarnen nichts hilft, dann lass' ich die Weibsbilder antreten mit Schrubber und Besen, dann wird Reinemachen geübt und ihnen die Propertät eingedrillt wie beim Kommiß. Das hilft, Herr Leutnant. Wenn ich bloß einmal so mit ihnen richtig exerziert habe, dann sitzt das; dann brauch' ich ein andermal bloß so im Vorbeigehen nach den Scheiben raufsehen – da wissen sie schon Bescheid.«

»Bravo, lieber Wachtmeister, bravo!« lobte Willibald. »Sie sind hier am richtigen Platz. Na, freut mich, freut mich wirklich, daß Sie sich hier so reingefunden haben – nehmen Sie sich doch eine Zigarre, Hier – da!«

Er hielt ihm das Etui hin.

»Danke gehorsamst, Herr Leutnant. Ich bin so frei.«

Das ehrliche Gesicht des alten Soldaten strahlte vor Freude über die ihm gewordene Anerkennung.

»Na, dann lassen Sie sich's nur immer weiter gut gehen.«

Und Willibald reichte seinem ehemaligen Wachtmeister jetzt zum Abschied die Hand.

»Freut einen doch, wenn so'n alter, strammer Soldat auch nachher im Leben seinen Mann steht,« äußerte er sich ein Stück weiter zu dem Bruder. »Der bringt wenigstens Zug in die Bande.«

Und er tat mit dem dünnen Gertenstock einen pfeifenden Lufthieb.

Die beiden gingen dann weiter. Am Ende ihres Rundgangs durch die ausgedehnte Kolonie kamen sie in jenes besonders gelegene Viertel, das die Beamtenwohnungen enthielt, der Steiger, Fahr- und Obersteiger und der Betriebsführer. Die Häuser hatten hier zum Teil richtigen Villenstil, und große, wohlgepflegte Gärten umrahmten sie.

Im Vorübergehen an der dichten Hecke, die diese Gärten nach der Hinterfront zu abgrenzte, scholl aus einem der Grundstücke helles Frauenlachen und Kinderjauchzen an das Ohr der Brüder. Unwillkürlich blickten beide über den lebenden Wall hinüber. Ein anmutiges Bild bot sich ihnen dar.

Auf dem kurz geschorenen, grünen Rasenplatz spielte ein junges Mädchen mit mehreren Kindern, wohl ihren Geschwistern. Mit einem Tennisschläger trieb sie jedesmal den ihr von den Kleinen drüben zugeworfenen Ball zurück. Die Spielende, die nahe der Hecke stand, aber den Vorübergehenden den Rücken kehrte, war mit vollem Eifer bei dieser Beschäftigung. Nicht ahnend, daß sie beobachtet wurde, sprang sie behend nach dem Ball, und die schnelle, gewandte Bewegung ließ die feinen Linien des jugendlich schlanken Leibes in fesselndem Spiel hervortreten. Es lag der ganze Reiz mädchenhafter Unberührtheit, einer unschuldigen, noch halb kindlichen Lebenslust über dem jungen Geschöpfe.

Willibald war stehen geblieben und hatte das Glas ins Auge gesetzt. So betrachtete er mit aufsteigendem Wohlgefallen das Mädchen, das ganz in duftiges Weiß gekleidet war, bis auf die zierlichen Füße in schmalen Lackschuhchen.

»Donnerwetter! Was ein allerliebster kleiner Kerl!«

Leise flüsterte er es dem Bruder zu. Volkmar nickte leicht, aber machte Miene weiter zu gehen. Auch er hatte seine Freude an dem hübschen Bilde, aber hielt es für unschicklich, als ein so auffälliger Bewunderer stehen zu bleiben.

Doch der Bruder hielt ihn am Arm zurück.

»Wer mag es sein? Hast du keine Ahnung?«

Volkmar ließ jetzt einen orientierenden Blick über die Häusergruppe gleiten.

»Es ist der Garten vom Schürmannschen Haus – sicher seine Tochter. Komm!«

Und er drängte den Bruder zum Vorwärtsgehen. Das gedämpfte Sprechen der beiden war aber wohl von dem jungen Mädchen vernommen worden oder sie hatte die Mienen der Geschwister bemerkt, die plötzlich still und verlegen auf die so aufmerksam herübersehenden Fremden starrten – mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich unerwartet herum. So bemerkte sie noch, wie Volkmar den Arm des Bruders gefaßt hatte, um ihn fortzuziehen, wie dieser aber abwehrend stehen blieb, die Augen unverwandt auf sie gerichtet.

Im ersten Moment erkannte sie den Beobachter nicht gleich. Der tief in das gebräunte Gesicht hinabhängende Panamahut verdeckte seine Züge. Aber an dem Bruder neben ihm merkte sie plötzlich – es war Leutnant Heckes, sie hatte die Söhne des Werkbesitzers vor sich.

Im Augenblick, wie sie es merkte und in einem Gefühl aufsteigender Befangenheit still stand – daß sie sich so ganz im Spiel hatte gehen lassen, sie war gewiß recht wild umhergesprungen! – zog auch schon Willibald den Hut, und mit der ganzen bestrickenden Liebenswürdigkeit, die er gegen Frauen entfalten konnte, verneigte er sich grüßend vor ihr.

In Marias Antlitz, das den Brüdern voll zugekehrt war, sah man wie in einem klaren Spiegel die Regung ihres Innern in diesem Moment.

Ein jähes Erschrecken, Verwirrtsein – der Sohn von Magnus Heckes grüßte sie, die Beamtentochter, die eben noch geschwankt hatte, ob sie nicht die beiden Herren ihrerseits begrüßen müßte, wie sie es als Kind ja stets ganz selbstverständlich getan hatte – dann aber noch ein anderes Empfinden. Die kecken, lachenden Augen in dem sonnengebräunten Antlitz des jungen Offiziers, die noch immer an ihr hingen, sprachen ja so beredt – und plötzlich stieg ein lichtes Rot in ihr feines Gesichtchen, gerade während sie mit einem anmutigen Neigen des Kopfes für den Gruß dankte, dem sich nun auch Volkmar, um nicht unhöflich zu erscheinen, angeschlossen hatte.

Willibald nahm ihre Verwirrung, die sie entzückend kleidete, mit wachsendem Wohlgefallen wahr. Schon wollte er, keck die günstige Situation ausnutzend, über die Hecke hinweg das Wort an sie richten, aber da wandte sie, die die verräterische Glut auf ihren Wangen fühlte, sich schnell ab und lief ein Stückchen in den Garten hinein, wie um sich nach dem dort liegenden Ball zu bücken.

Volkmar drängte nun aber energisch den Bruder mit sich fort.

»Komm doch nur – was soll denn das? Du machst die Kleine ja ganz verlegen!«

Willibald folgte. Er sagte sich heimlich, daß er eine Annäherung auch besser ohne Zeugen vornähme. Aber nach ein paar Schritten blickte er doch noch einmal im Gehen zurück. Im gleichen Augenblick schaute auch drüben Maria Schürmann, nachdem sie den Ball aufgehoben hatte, noch einmal verstohlen nach dem Sichentfernenden, mit ihren dunklen Rehaugen, in ihrer ganzen scheuen Lieblichkeit. So trafen sich ihre Blicke einen Pulsschlag lang, bis das Mädchen ihm im Weitergehen hinter dem grünen Schutzwall entschwand.

»Süßes, kleines Schmaltierchen!«

Wie ein zu ihr hinübergesandter, kosender Gruß entfuhr es halblaut den Lippen Willibalds. Aber die Worte ließen Volkmar aufhorchen. Sie enthüllten ihm da plötzlich etwas bei dem Bruder, an das er in seiner eigenen Harmlosigkeit vorhin noch gar nicht gedacht hatte.

»Du – um Gottes willen!« Er sah den Bruder ganz erschrocken an. »Das Mädchen ist die Tochter vom alten Schürmann!«

»Ganz recht. Du sagtest es mir ja vorhin schon.«

Willibald antwortete es leichthin, als verstände er den Bruder nicht. So mußte dieser deutlicher werden.

»Du wirst doch keine Geschichten anfangen mit dem Mädchen –?« Erinnerungen überkamen ihn an allerlei ähnliche Abenteuer Willibalds. Dieser hatte ja selbst vor dem väterlichen Hause nicht haltgemacht mit seiner Unbedenklichkeit in solchen Dingen. »Der alte Schürmann ist ein hochachtbarer Mann, der auf sich hält und seine Familie. Der verwände so etwas niemals. Und außerdem – der Mann steht über dreißig Jahre im Dienst unseres Vaters. Damals, als er den Schacht II niederbrachte, hat er mehrmals sein Leben eingesetzt – Willibald, mit dem Mädchen darf nichts geschehen!«

»Aber was regst du dich denn nur so auf, mein Junge?« Mit seinem leichtherzigen Lachen erwiderte es der Leutnant. »Habe ich denn schon ein Wort von solchen Absichten verlauten lassen? Ich werde doch noch ein hübsches Mädel hübsch finden können! Oder verstößt auch das schon gegen deinen Moralkodex?«

Volkmar verstummte. An dem lachenden Leichtsinn des Bruders prallte ja doch jedes ernste Wort ab. Im stillen hoffte er nur, daß dieser schnelle Eindruck bei dem leicht Entflammbaren auch ebenso schnell wieder vergessen sein würde.


Vom Turm der Pfarrkirche der Industriestadt läuteten die Glocken. Sie verkündeten den Schluß der Hauptmesse. Eine dicht gedrängte Menge hielt die Pforten des Gotteshauses umlagert, alles Leute, die schon die Frühmesse gehört hatten und nun bloß als Schaulustige hier waren.

Es gab ja heute auch etwas Besonderes zu sehen. Da mitten auf dem Rundplatz vor der Kirche hielt ein luxuriös ausgestattetes Automobil. In dem schneeweißen Lackspiegel der Karosserie brachen sich glitzernd, die Augen blendend, die Sonnenstrahlen. Das rote Glanzleder der Polster war von tadelloser Neuheit, und die Livreen von Chauffeur und Diener vorn auf dem Lenksitz waren gleichfalls wie frisch aus dem Schneideratelier gekommen. Unbeweglich, in vornehmer Würde saßen die beiden da oben auf ihrem Sitz, und die glatt rasierten Lakaiengesichter blickten kühl verächtlich über die Köpfe der sie umdrängenden Menge hinweg.

Diese diskutierte lebhaft über das auffallende, elegante Gefährt.

»Junge, jüst äs de Kaiser sins!«

»Jo – wenn de't nich könnt! De hed ja sicher mähr tüsken de Mauen äs de Kaiser sülwst.«

»Kloar! Mensch'k, de is stump to rik! Dem gehört jo hier alles, wat unner un wat up de Erde is – un den Himmel krieg he noch gratis to!«

»Jawoll, alles ut usen suren Schwet. Mi hed he wat Troppen afzappt.«

»Jo, mi hed he ok de Knocken stolln.«

Die Umstehenden lachten. Dann gab einer der Sache eine andere Wendung.

»Obers frumm is he doch. Dat mot man em loaten. Altid in de Messe, un för de nee Karke in Bistrop hed he ok all wehr füftähndusend Daler stiftet.«

»Kloas, bis du denn nich wis? Dat is doch bloß Raffiniertheit! De kriegt doch sin vulle Geld, dat he brukt, al vön den Klöstern un Jesuiten. Dor mot he doch den Klingelbüerljob spelln. Wat mennst du woll, wu de sick in't Füsken lacht: De? de glöw doch nich an Gott un den Düwel.«

»Jo, dat stimmt – bloß an den Mammon.«

Wieder lohnte man die trockene Bemerkung mit einem Lachen, und schadenfrohe Blicke flogen zu den beiden Bediensteten in der Heckesschen Hauslivree auf dem Auto hinauf. Diese taten jedoch, als sähen und hörten sie nichts von dem, was um sie her vorging, und doch machten sie sich auch ihrerseits heimlich über die Gaffer lustig.

Es war ein buntes Gemisch von Leuten aus aller Herren Länder, Männern und Weibern; vielen sah man ihre Nationalität noch deutlich an. So den Tschechen mit den breitgedrückten Nasen, den Steiermärkern im grünen Lodenhut mit dem Gemsbart, den Italienern in der braunen Manchesterhose und im verwegenen Calabreser, am meisten aber den Polen, die das vorherrschende Element bildeten.

Die Männer trugen zum feierlichen Bratenrock nur die schwarze steife Tuchmütze mit Schirm, aber die Frauen waren dafür um so bunter herausgeputzt, in Seidenbändern, ‑schürzen und Röcken in den grellsten, sich beißenden Farben.

»Sehen sie nicht aus wie die Affen im Zirkus?«

Mit verächtlichem Lippenschürzen sagte es der Diener zum Chauffeur.

Der nickte nur und gab dann halblaut zurück, mit einem Blick auf die Männer daneben:

»Und dazu quälen sich nun die Kerls die ganze Woche, damit sich die Weibsbilder das alles anhängen. Was der Plunder wohl kosten mag? Hiebe verdient so'n Frauenzimmer! Und dann wird noch über schlechte Zeiten geschrien.«

Das Gemurmel in der Menge verstummte plötzlich, und die Gesichter der beiden Bediensteten wurden ganz starre Haltung. Die Kirchentür hatte sich geöffnet – die Familie Heckes kam aus dem Portal.

Der berittene Schutzmann, der mitten in der Menge dicht vor den Kirchenstufen bisher still gehalten hatte, warf das Pferd herum, daß der Haufe nach allen Seiten zurückwich.

»Platz da – den Weg frei halten!«

Dann drängte er selber seinen Braunen zurück, daß die Passage ganz unbehindert war. Die Hand am Helm salutierte er vor Magnus Heckes.

Dieser dankte, kurz den Hut lüftend. Dann ging er scharf geradeaussehend, als wäre die Menschenmauer rechts und links nicht da, zu seinem Auto hin, hinter ihm die Seinen. In der Menge, der er Brot und Unterhalt gab, regte sich keine Hand zum Gruß. Alles starrte ihn nur mit unverhohlner Neugier an: das also war er – so sah er aus!

Schnell folgten die Angehörigen Heckes' ihrem Vater zum Wagen, das Angaffen war ihnen lästig. Als letzter kam Volkmar, seine Bewegungen waren hastig, fast befangen. Seine feinen Instinkte fühlten deutlich die Stimmung dieser stummen Menge; er hörte förmlich die unausgesprochenen Gedanken, die all die Hunderte hier über seinen Vater hatten und die zu ungenierten Worten werden würden, sobald das Auto davongerollt war.

Es ging ihm wie stets in solchem Fall: er hatte ein Gefühl, als habe er ein Unrecht an diesen Leuten gut zu machen, für das seinem Vater und den übrigen Seinen überhaupt jedes Verstehen fehlte.

Nun saß man im Auto, der Diener hatte den Schlag zugeworfen, war eilig wieder auf den Sitz vorn gestiegen, und die Maschine begann ratternd rückwärts zu drücken. Der Menschenhaufe hatte jetzt einen großen Kreis um den Wagen gebildet, in dem dieser bequem wenden konnte, um dann mit wachsender Geschwindigkeit fortzurollen. Wenige Sekunden später war er den Blicken der Zurückbleibenden schon in einer dichten Staubwolke entschwunden.

Regina Heckes atmete erlöst auf. Diese Kirchenbesuche en famille, auf denen der Vater aus Repräsentationspflicht streng bestand, waren ihr immer ein kompletter Greuel. Ihre Mienen verrieten es deutlich, und Willibald sprach ihr nur aus der Seele, als er jetzt sein Zigarrenetui zog und verächtlich sagte:

»Gott sei Dank, daß wir wieder aus dem Kasten raus sind! Eine Luft da drinnen zum Übelwerden. Schätze das höchst wenig.«

»Darauf kommt es auch sehr wenig an,« verwies ihn ruhig der Vater, entnahm aber doch auch seinerseits der Tasche eine Zigarre, als ob er gleichfalls den dumpfen Brodem der Menschenmassen in dem Gotteshause baldmöglichst in seiner Erinnerung vertreiben wollte. »Es gibt eben höhere Gesichtspunkte für den Kirchenbesuch.«

Das Auto schoß auf der glatten Landstraße dahin. Die spärlichen, erst kürzlich angepflanzten Bäumchen zu beiden Seiten flogen nur so vorüber. Beständig erscholl das helle Fanfarensignal aus der versilberten Signaltrompete des Dieners; die Straße war ja heut am Feiertag von zahlreichen Gruppen von Fußgängern belebt, Arbeiterfamilien, die ihren Osterspaziergang machten.

Von weitem schon durch das Warnsignal benachrichtigt, flüchtete alles, so schnell es nur ging, sich seitlich auf die Felder. Die Hast, mit der es geschah, hatte für die im Wagen Sitzenden etwas Komisches an sich. Es war, als käme der Teufel in Person oder die Pest. Und es war für jene Fußgänger ja auch nicht viel anders. Die noch lange nachher auf der Straße stehende, dichte Staubwolke und der Benzingeruch verleideten ihnen die Freude an ihrem Feiertagsweg. Und so ging es alle paar Minuten; kaum daß man sich einigermaßen von dem Übel erholt hatte, kam schon ein neues Auto angejagt. War es da ein Wunder, daß nur zu oft giftige Verwünschungen und Flüche dem Heckesschen Wagen nachgeschleudert wurden?

»Hunde, verdammte! In den Chausseegraben sollt' man Ju schmieten!«

Grimmig schrie es ihnen ein schwarzhaariger Kerl vom Straßenrand zu.

Magnus Heckes überhörte es kalt, Willibald lachte laut – es mußte zu dem Wütenden zurückschallen.

Volkmar sah den Bruder verweisend an.

»Du solltest die Leute doch nicht noch reizen. Ihre Erregung ist verzeihlich. Den armen Teufeln wird so auch noch das bißchen Sonntagsfreude vergällt. Man sollte eigentlich die Rücksicht üben, an Feiertagen nicht Automobil zu fahren.«

Der Vater tat einen Blick zu dem Sohn hinüber; aber er sagte nichts.

»So, und lieber selber zu Fuß nach Haus laufen – zwei Stunden lang auf der Chaussee! Nicht wahr?« höhnte Willibald.

»Man kann ja den Wagen nehmen,« beharrte Volkmar. »Der staubt nicht halb so.«

Da blies Magnus Heckes den Rauch fort, mit einer gelassenen Bewegung.

»Öffentliche Verkehrsstraßen sind keine Promenaden, Wer frische Luft atmen will, mag wo anders gehen.«

»Aber wo, Vater?« Der Eifer machte Volkmar kühn. »Die Leute haben ja hier im Bezirke nichts anderes als die Landstraße.«

Der Vater zuckte die Achseln.

»So können wir's nicht ändern. Im übrigen zerbrich dir den Kopf lieber über andere Probleme,« ein scharfer Blick traf den Sohn. »Bist du noch immer nicht über deine menschheitsbeglückenden Ideen hinaus? Kinderkrankheiten, Volkmar!«

Unter diesem Blick, der ihm durch und durch drang, so daß es kein Verbergen des Innersten mehr gab, stieg Volkmar eine immer stärker werdende Röte auf. Er verstummte, verwirrt und niedergedrückt wie immer von der wuchtigen Persönlichkeit des Vaters.

Es wurde nicht mehr viel gesprochen in der Viertelstunde, die die Fahrt noch dauerte.

Die Familie nahm dann daheim gemeinsam ein kleines Frühstück ein, ganz einfach – nur einen kalten Imbiß und dazu ein Glas leichten Tischweins, es stand ihnen ja noch das große Diner am heutigen Nachmittag bevor, zu dem zahlreiche Einladungen ergangen waren.

Dann stand man auf; jeder tat das, wozu ihn seine Neigung trieb.

Magnus Heckes ging hinüber in seine Bibliothek. Er hatte sich den Privatsekretär heute ins Haus bestellt, statt drüben im Verwaltungsgebäude zu arbeiten – das war der ganze Unterschied, den er heute, am ersten Osterfeiertag, machte.

Regina wollte sich um die Vorbereitungen zum Diner kümmern. Seitdem der Tod ihrer Mutter die Rechte der Frau vom Hause ihr zugewiesen hatte, war es ihr ganzer Ehrgeiz, hier eine gesellschaftliche Repräsentation vornehmsten Stils zu üben, wie sie es bei ihren Freundinnen drüben in England auf den großen Landsitzen der altaristokratischen Geschlechter kennen gelernt hatte.

»Und was werdet ihr anfangen?«

Regina wandte sich an ihre Brüder.

»Ich?« Willibald überlegte einen Augenblick, dann stand er auf. »Ich mache einen kleinen Bummel – durch die Kolonie.«

»Schon wieder heute?«

Volkmar fragte es mit Bedeutung und warf einen beunruhigten Blick auf den andern. Er ahnte, wem dieser Gang gelten sollte. Aber der Leutnant behielt seine lächelnde Dreistigkeit.

»Ja, mein Junge – oder hast du was dagegen?«

Volkmar schwieg, mit Rücksicht auf die Anwesenheit der Schwester. Diese sah jetzt nach ihm hin.

»Na, und du?«

Das jüngste der drei Geschwister sandte einen stummen Blick zu dem Ölbild, das im Nebenraum sichtbar war: einem feinen, stillen Frauenantlitz, in dessen dunklen Augen etwas Verschleiertes lag wie ein stolz getragener, geheimer Schmerz. Dann sagte er, nun auch aufstehend:

»Ich werde nach Bistorp hinüberreiten.«

Dort, wo der Sommersitz der Heckes war, lag im Erbbegräbnis der Familie die Mutter begraben. Er hatte seit ihrem Tode vor zwei Jahren nicht wieder an ihrem Grabe geweilt.

Eine momentane Pause entstand. Es hatte in dem Ton des Bruders so etwas wie ein leiser Vorwurf gelegen, dann sagte Regina:

»Ich würde dich gern begleiten, aber meine Hausfrauenpflichten –«

Und Willibald fragte, rasch um diesen Punkt herumgehend:

»Welchen Gaul willst du dir denn satteln lassen?«

»Ja, wie steht's denn damit?« wandte sich Volkmar an die Schwester. »Den ›Fred‹, den ich früher immer ritt, habt ihr wohl kaum noch im Stall?«

»Natürlich nicht! Der war ja schon damals reif für den Wurstkessel,« nahm der Leutnant der Schwester die Antwort ab.

»Du wirst dir am besten die ›Dina‹ satteln lassen,« entschied dann Regina nach kurzem Überlegen. Ihr Auge hatte dabei Volkmar wie taxierend überglitten. »Vater reitet sie noch manchmal. Sie braucht ja eigentlich ein schwereres Gewicht, aber sie ist absolut zuverlässig und geht noch immer gut.«

Volkmar lächelte leise doch gutmütig über die Mißachtung seiner kavalleristischen Qualitäten auch durch die Schwester, die allerdings eine Reiterin von anerkanntem Ruf war – sie ritt jeden Herbst in England auf ihrem eigenen Vollblut hinter den Hunden.

»Ihr habt ja viel Vertrauen zu mir – nun gut, so werde ich mir die ›Dina‹ satteln lassen.« Und er ging, sich zurecht zu machen. Auch Willibald verließ bald nach ihm das Zimmer.

Das Klappern der Pferdehufe auf den Fliesen der Auffahrt, als »Dina« vorgeführt wurde, ließ Magnus Heckes, der seinem Sekretär diktierend in der Bibliothek auf- und abging, mechanisch aufhorchen. Weiter sprechend trat er zum Fenster und schob den Store beiseite – gerade im Augenblick, wo Volkmar unten aufsaß, vor den Augen Reginas, die ins Portal getreten war, um den Bruder abreiten zu sehen.

Unwillkürlich verglich der Vater die schlanke, ein wenig in sich zusammengesunkene Gestalt des Sohnes mit der rassigen Erscheinung der Tochter. Wenn die die Zügel in die Hand nahm und ihr Pferd versammelte, das sah anders aus.

Ein Schatten überflog Magnus Heckes Züge. Warum hatte das Mädel nicht der Junge sein können – das wäre ein Kerl nach seinem Herzen geworden, ein Draufgänger mit stählerner Hand, auch hier im Betriebe! Aber der da?

Er sah noch einen Moment mit gerunzelter Stirn dem langsam Davonreitenden nach. Dann ließ er den Store zurückfallen und nahm das Diktat mitten im Satz wieder auf; seine Gedanken hatten über der kleinen Abschweifung den Faden nicht verloren.

Der Weg führte Volkmar an den Beamtenhäusern vorbei. Da fiel ihm die Sache mit Willibald wieder ein, und unwillkürlich flog sein Blick zu dem Schürmannschen Garten hin. Wirklich, dort sah er an der Hecke eine schlanke weiße Gestalt – Maria.

Wie in Gedanken verloren stand sie; die kleinen Geschwister waren heute nicht bei ihr. War es nur ein Spiel seiner Einbildung, oder lag tatsächlich etwas Verträumtes, Sehnendes über dem Mädchen, das gestern noch ein ahnungsloses Kind geschienen hatte?

Ein quälendes Angstgefühl stieg plötzlich in Volkmar auf. Daß er sie ansprechen und warnen müßte vor dem eigenen Bruder! Und doch, wie hätte er das gekonnt?

Nun schrak sie beim Nahen der Huftritte zusammen und blickte auf. Er grüßte, und wenn er auch nichts sprach, so war vielleicht doch in seinem Blick ein stummes Beschwören. Wie wenn sie es verstanden hätte, senkte sie das liebliche Antlitz nach einem scheuen Gruß tief auf die junge Brust.

Mit beklommenem Herzen ritt Volkmar weiter. Wußte er doch: Wenige Minuten nach ihm würde Willibald desselben Wegs kommen – und dann?

Außerhalb der Kolonie setzte Volkmar sein Tier in Trab, und schließlich lenkte der flotte Ritt – »Dina« hatte wirklich noch ein sehr gutes Tempo – die Gedanken von diesem Punkte ab. Er schlug die Straße ein, die zu den mehr ländlichen Distrikten am Ufer des Niederrheins hinführte.

Erinnerungen aus alten Zeiten kamen nun über ihn. Wie oft war er nicht diese Wege an der Seite der Mutter hinausgefahren zu ihrem Landsitz drüben in Bistorp!

Aber mit jenen Bildern stiegen noch andere auf, die unzertrennbar mit ihnen verknüpft waren: Die Spiele und Träumereien der Jugend, und deren vertraute Gefährtin – Hedwig Vermeren.

Nachbars Kinder waren sie, das Besitztum des Bergwerksdirektors Vermeren grenzte unmittelbar an das der Heckes, und so hatten sie sich von früh auf gekannt.

Wie deutlich er sie vor sich sah – die ganze Familie. Ihn, den Bergrat, den Mann mit einer gewissen Würde, aber doch von einer durchleuchtenden, inneren Wärme, die so wohltat im Gegensatz zu der kalten Unnahbarkeit von Magnus Heckes.

Und dann ihre Mutter – die stolze, schöne Frau Eleonore Vermeren. Er hatte stets einen tiefen Respekt vor dieser Frau gehabt. Ihr Name paßt so ganz zu ihrem Wesen. Der Tasso Goethes kam ihm stets dabei in den Sinn. Ganz so voll Anmut, Schönheit und doch stolzer Würde hatte er sich jene fürstliche Eleonore immer vorgestellt.

Aber noch ein anderes war hinzugekommen. Der reizvolle Hauch von irgend etwas Rätselhaftem, Unaufgeklärtem umschwebte für ihn diese Frau.

Waren es verblaßte Eindrücke frühester Jugend, unbewußte Erinnerungsbilder, oder hatte er einmal als Kind etwas derartiges munkeln hören, vielleicht hinten in den Domestikenstuben – genug, die Vorstellung stand fest bei ihm: da mußte einmal früher etwas anderes gewesen sein in den Beziehungen von Frau Eleonore zu seinem Vaterhause.

Nicht daß jetzt etwa ein offener Konflikt bestand, nein – das nicht, aber trotzdem, es war wie ein leises, unauffälliges Sich-aus-dem-Wege-gehen von beiden Seiten, wenn man freilich auch den nachbarlichen Verkehr der Kinder im Sommer stillschweigend duldete.

Das alles ging jetzt Volkmar auf seinem Ritt wieder durch den Sinn, bis ihn dann, in Bistorp angelangt, andere Gedanken gefangen nahmen – auf dem stillen Dorfkirchhof, wo im tannenumfriedeten Erbbegräbnis die Mutter auf ihren Wunsch die letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Langsam kehrte er von dort zu dem Landsitz zurück, wo er schon vorher sein Pferd beim Gärtner abgegeben hatte, und trat nun in das Haus, begleitet von der Gärtnersfrau, die in jedem Raum, in den sie kamen, erst die Läden aufstieß. Es lagerte jene abgestorbene, dumpfe Luft in dem Hause, wie in verschollenen Fürstensitzen, in die sich nur selten einmal ein fremder Besucher verirrt, um neugierig nach den Spuren verblichenen Glanzes zu spähen.

»Es war wohl schon lange niemand von uns mehr hier?«

»Ach nein, gnäd'ger Herr, schon lange nicht! Seit dem Tode der seligen Frau Mutter ist niemand von der Herrschaft mehr hier gewesen.«

Volkmar nickte nur stumm. Er hätte es sich denken können. Dann verließ er das Haus und ging, die Frau verabschiedend, in den Park und weiter zum Strom hin. Hier lichteten sich die hohen Buchenhallen zu einer frischgrünen Wiese, aus der der süße, würzige Hauch des jungen Grases stieg und dahinter lag das Weidendickicht am Rhein, das Paradies seiner Kinderjahre.

Soweit das Auge sah, dehnte sich nach rechts und links das dicht verwachsene Buschwerk. Volkmar mußte im Nähergehen lächeln. Nur wenig über mannshoch war dieser Busch, und doch war er ihm als Kind immer als ein hoher, unermeßlicher Urwald vorgekommen. Das »Dschungel« hatte er ihn mit weitschweifender Phantasie getauft, und alle süß-geheimen Schauer der Romantik hatten ihn dort umwittert.

Die schmalen, ungebahnten Schleichwege, wo den Kindern das Buschwerk wieder über dem Kopf zusammenschlug, waren ihm als Wildpfade erschienen, auf denen nachts die Tiere der Wildnis zur Tränke an den Strom gingen. Immer nur mit lautem Herzklopfen hatte sich Hedwig Vermeren an seiner Seite, fest seine Hand packend, durch dieses Dickicht geschlichen, als könne da jeden Augenblick wirklich aus dem Gebüsch neben ihr mit glühenden Augen und gierigem Rachen der Tiger brechen.

Selige Kinderzeit, die uns alles so ins Große projiziert! Wie klein und nüchtern lernen wir nachher das Leben sehen.

Volkmar dachte es, indem er einem unwiderstehlichen Zwang gehorchend auch jetzt wieder hineinschritt in diese grüne Wildnis.

Ganz still war es hier. Sein Blick drang in dem Dickicht nicht weiter als der Fuß. Nur ein Plätschern, das Anschlagen verlorner Dampferwellen an das noch unsichtbare Gestade und der dumpfe Schaufelschlag der Räder, wie aus weiter Ferne, kündeten die Nähe des Stromes an.

Nun hatte sich Volkmar durch die grüne Wirrnis hindurchgezwängt, da war der Rhein – ein weiter, stahlgrauer Spiegel, voll Kraft und Lebensfreude, darüber ziehende, schwergeballte weiße Wolken. Es war wie an der See. Der eigenartige, herbe Hauch, der vom Wasser ausging, und der feine Sand des Strandes erhöhte diesen Eindruck noch.

In jenen Jugendzeiten waren Hedwig und er hier immer barfuß umhergewatet, – es war ihnen als ein köstliches Vergnügen erschienen – und sie hatten an jedem Morgen von neuem voll Neugier nach »Strandgut« ausgeschaut, – nach dem, was der Strom ihnen über Nacht ans Land gespült hatte. Und wenn sie irgendeinen alten Tuchfetzen, ein weggeworfenes, rostiges Schifferhausgerät im Sande entdeckten, so ergingen sie sich in den abenteuerlichsten Mutmaßungen über seine Herkunft: Aus welchen unbekannten Fernen mochte es hier ans Land getrieben sein? Was für eine geheimnisvolle Geschichte mochte es vielleicht haben?

Das alles stand wieder so greifbar vor Volkmar, als wäre es gestern, und immer sah er Hedwig Vermeren dabei. Es war, als sei sie mit dem Leben seiner Jugend unlösbar verknüpft. Und der Wunsch, sie wieder zu sehen nach so langer Trennung ward immer sehnsüchtiger in ihm. Das flüchtige Begegnen gestern rechnete ja nicht mit – vor wildfremden Menschen, ein paar banale Phrasen. Nein, hier wollte er sie so recht zum erstenmal wieder haben, allein ohne störende Gesellschaft, an der geweihten Stätte ihrer Jugenderinnerungen.

Und er ging nun schneller vorwärts, den schmalen Weg am Ufer hin, der hinüber führte auf das Nachbargebiet. Nun noch ein kurzes Stück auch hier durch Weidenbuschwerk, und gleich würde er im Park der Vermerens stehen. Da schollen plötzlich Stimmen an sein Ohr – er glaubte den Bergrat heraus zu erkennen und Frau Eleonore – sicherlich, sie waren es, auf einer Promenade durch ihren Park, und gewiß würde doch auch Hedwig bei ihnen sein!

Eilends zwängte er sich durch das Dickicht, von freudiger Ungeduld getrieben, und nun bog er die letzten Zweige auseinander – fast im selben Augenblick, wie Hedwig Vermeren die Stelle passieren wollte, die ein Stück hinter den Eltern gehend und nach Anemonen suchend des Wegs kam.

Die Bewegung im Buschwerk hatte sie wohl aufmerksam gemacht, sie sah gerade her – erst in unwillkürlichem Erschrecken, als da plötzlich ein Mann aus dem Dickicht trat, dann aber lachte sie froh auf:

»Das nenn' ich eine Überraschung! Wahrhaftig, wie Zieten aus dem Busch! Aber das ist lieb, daß Sie Ihr Wort so bald wahr gemacht haben.« Sie reichte ihm mit kameradschaftlichem Druck die Hand. »Ein frohes Osterfest! Aber nun sagen Sie vor allen Dingen – wir haben ja gestern den Ausgang des Brandes nicht mehr abwarten können – es ist doch alles gut abgelaufen?«

»Danke, ja; das Feuer ist auf das Holzlager beschränkt geblieben.«

»Nun, Gott sei Dank! Ich muß nämlich gestehen –« sie sah ihn mit einem leis verlegenen Lächeln an – »ich habe mich gestern eigentlich hinterher ein bißchen geschämt. Was mußten Sie nur von uns gedacht haben, daß wir da so mit Lachen und Scherzen zusahen, wo doch vielleicht allerlei auf dem Spiele stand!«

Er dankte ihr mit einem aufleuchtenden Blick. Aber schnell wechselte sie nun wieder den Ton, während sie mit ihm weiter schritt, den Eltern nach, die um die Wegbiegung vor ihnen verschwunden waren.

»Doch nun erzählen Sie einmal von sich. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Volkmar entsprach ihrem Wunsche, dann fragte er seinerseits.

»Und wie ist es Ihnen ergangen?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wie's unsereinem so geht. Ein paar nette Jahre im Pensionat, drunten in Lausanne, und nun hier das gesegnete Normalleben bürgerlicher Wohlanständigkeit.«

Er blickte auf, von dem Ton überrascht, der ihm ganz fremd an ihr war.

»So sind Sie nicht zufrieden mit Ihrem Leben hier?«

»O doch – gewiß! Die Unzufriedenheit hab' ich mir längst abgewöhnt. Hilft ja doch zu nichts. Also leb' ich, so vergnügt wie es eben geht, in den Tag hinein – viel Sport und möglichst oft in froher Gesellschaft – schließlich ist das Dasein auf diese Weise doch auch zu ertragen.«

Sie sprach es leichthin, mit einem Stich ins Scherzhafte, aber doch klang ihm ein leiser Unterton voll Bitterkeit entgegen, und wieder ruhte sein Auge forschend auf ihr. Was war aus der stillen, versonnenen Hedwig seiner Jugendtage geworden? Wer war sie jetzt? Zum erstenmal empfand er deutlich: trotz aller äußeren Vertraulichkeit – sie war ihm fremd geworden. Und dies Bewußtsein machte ihn plötzlich schweigsam.

»Na, hören Sie, sehr amüsant sind Sie gerade auch nicht geworden!« neckte sie ihn. »Ich hatte mich schon gefreut: endlich einmal wieder ein bißchen frisches Leben hier in unsere Windstille! Der Kreis ist ja so eng, tagtäglich immer wieder dieselben Menschen, – aber die Akquisition mit Ihnen scheint mir doch zweifelhaft.«

»Da dürften Sie recht haben, ein Gesellschaftsmensch bin ich allerdings ganz und gar nicht.«

Es kam noch ernster und schwerfälliger heraus, als er es gewollt hatte. Ihr oberflächlicher Ton, ihre ganze problematische Art reizte ihn, weil sie ihm insgeheim weh taten. Er hatte sich Hedwig Vermeren in seinen Gedanken immer so ganz anders vorgestellt. Aber um keinen Preis wollte er ihr das zeigen; darum jetzt das steife, ablehnende Verhalten seinerseits.

Aber sie schien seine Zurückhaltung gar nicht zu bemerken. In ihrer leichten, mit allem spielenden Art nahm sie seine Entgegnung auf, mit einem Lachen.

»Hu – das ist ja eine regelrechte Absage! Und wir hatten so große Pläne mit Ihnen vor. Sie sollten mit in unsere Tennispartie hinein und in den Reitklub. Aber nun wagt man schon gar nicht mehr, Ihnen mit solchem Ansinnen zu kommen!«

»Sehr freundlich, aber ich werde in der Tat verzichten müssen – meine Arbeit wird mich bis abends in Anspruch nehmen.«

»Arbeit? Ich denke, Sie sind grad' fertig damit? Das Referendarexamen liegt doch hinter Ihnen.«

»Allerdings, aber ich muß jetzt praktisch tätig sein – als Steiger auf unserer Zeche ›Willibrod‹.«

»Ach so!«

Es klang nun doch enttäuscht, und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu:

»Aber wir müssen nun wohl zu den Eltern.«

»Ganz recht.«

Und sie schritten schneller vorwärts, – beide schweigsam.

Bald hatten sie Hedwigs Eltern eingeholt, die langsamer voraufgingen. Die Tochter berichtete mit einem Scherzwort, wie sie Volkmar drunten im Busch »aufgelesen« und mitgebracht hätte, und freundlich nahmen Vermerens den jungen Mann auf.

»Freut mich, Sie einmal wiederzusehen, Herr Kollege,« lächelnd spielte der Bergrat auf die junge Beamtenqualität Volkmars an. »Sie waren ja lange draußen,« und herzlich schüttelte er ihm die Rechte.

Dann neigte sich Volkmar über die Hand Frau Eleonorens.

»Wie ähnlich Sie Ihrem Herrn Vater geworden sind,« sagte sie, »es ist ganz überraschend.«

»Ich meinem Vater?« Der junge Heckes mußte unwillkürlich lächeln. »Das hat mir noch niemand gesagt!«

»Doch,« beharrte sie, und ihre schönen dunkeln Augen hafteten noch immer an seinem Antlitze, »ich meine allerdings, wie Ihr Vater früher aussah – damals, als er in Ihren Jahren war.«

Sie sagte es mit einem seltsamen, halblauten Ton, wie untertauchend in vergangene Zeiten.

Schien es Volkmar nur so, oder machte in der Tat der Bergrat eine leise, nervöse Bewegung?

Aber auch Frau Vermeren schien sich plötzlich auf sich zu besinnen, und mit einem veränderten, leichteren Sichgeben sagte sie zu dem jungen Mann:

»Das ist hübsch, daß Sie Ihre alte Jugendkameradin nicht vergessen haben. Wir haben manchmal von Ihnen gesprochen – nicht, Hede?«

Sie nickte zu der Tochter hin. Dann wandte sie sich wieder an ihn, sie waren inzwischen alle vier weiter geschritten.

»Sie bleiben doch ein bißchen hier? Ich sehe,« ihr Auge streifte seine Reitgamaschen, »Sie sind zu Pferd gekommen, ich darf Ihnen wohl eine kleine Erfrischung reichen?«

Volkmars Blick streifte Hedwig. Wenn sie ihm zu erkennen gab, daß ihr daran gelegen wäre – aber sie tat, als bemerkte sie sein geheimes Fragen nicht. Da lehnte er dankend ab.

»Sehr gütig, gnädigste Frau – aber wir haben heute Gäste zu Tisch. Meine Zeit ist gleich herum.«

Und nach wenigen Minuten schon verabschiedete er sich wieder. Frau Eleonore lud ihn freundlich ein, sich bald wieder sehen zu lassen. Hedwig schwieg, nur ein konventionelles Wort des Abschieds, ein flüchtiges Handreichen ohne seinem Auge zu begegnen, das das ihre nun doch noch einmal suchte – da ging er schnell hinaus, eine leichte Falte zwischen den Brauen.

Nachher im Sattel ein schmerzliches Grollen mit ihr, die seine Vorwürfe ja doch nicht erreichten. Wie hatte sie so werden können – gerade so! Er hätte ihr diese Oberflächlichkeit, diese Freude an einem leeren Genußleben nie zugetraut. Schade um sie! Und er drückte Dina die Sporen ein – ein langer Galopp.

Doch dann ließ er die Stute wieder in Schritt fallen. War denn das aber wirklich ihr wahres Wesen, was sie so zur Schau trug? Jener leise Unterton voll Resignation fiel ihm ein, der ein paarmal mit angeklungen hatte, und er verfiel in ein Grübeln. Vielleicht verbarg sich da hinter der leichtherzig lächelnden Maske ein ernstes, ja trauriges Gesicht?

Und plötzlich tat es ihm leid, daß er sich so kühl gegen sie gezeigt hatte – ihr Benehmen nachher war ja nur das Echo davon gewesen. Und hatte er sich denn Mühe gegeben, ihr wahres Gesicht zu entschleiern?

Die Selbstvorwürfe verstärkten sich, je weiter ihn der Ritt von ihr entfernte. Er war sehr unzufrieden mit sich, und ungeduldig sehnte er sich schließlich die Gelegenheit herbei, sie wiederzusehen, um das Versäumte nachzuholen.



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