Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

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»Wo willst du denn hin? Kommst du nicht mit zu den Eltern? Sie erwarten uns alle doch heute.«

Jupp Freukes fragte seinen Bruder, den Maschinisten, der sich, kurz vor der Mittagstunde, anschickte fortzugehen.

»Ich habe anderes zu tun.«

Ausweichend kam die Antwort.

Der Fahrsteiger sah den Bruder einen Augenblick scharf an; dann sagte er:

»Du willst in die Versammlung nach Wittrop?«

Die Miene des Maschinisten verzog sich finster, während er mit dem Ärmel seinen Sonntagshut abbürstete. Aber dann erwiderte er kurz, fast feindselig:

»Ja – hast du was dagegen?«

Jupp Freukes zuckte die Achseln und sagte nur, aber mit Nachdruck:

»Es ist natürlich eine sozialistische Versammlung, es spricht ja wohl irgendein Parteiführer – du mußt ja wissen, ob du dir damit nicht schaden kannst. Ich habe dir nichts zu verbieten – nur das muß ich dir einmal sagen: Wird es erst öffentlich bekannt, daß du es mit der Partei hältst, dann kann ich natürlich keine Stunde länger mehr hier im Hause bleiben. Damit mußt du also rechnen!«

»Weiß ich! Und meinetwegen zieh' lieber heut aus als morgen. Glaubst du, ich verkaufe um dieser paar Groschen willen das Recht meiner freien Meinung?«

Erregt fuchtelte der Maschinist mit dem Hut herum.

Der Bruder zuckte abermals nur die Achseln, mit dem Reizbaren war ja doch nicht in Ruhe zu reden. Aber selbst diese stumme Gebärde stachelte den älteren Freukes auf.

»Ja, ja – ich weiß ja schon, was du denkst. Ich kenne ja deine Ansichten. Wenn's nach dir ginge, hätte der Arbeiter nur immer das Maul zu halten und wenn man ihm das Fell bei lebendigem Leibe über die Ohren zieht!«

»Red' doch nicht immer solchen Unsinn, Wilhelm. Ich gönne dem Arbeiter sein Recht genau so gut wie du. Mag er sich organisieren, um die Aufbesserung seiner Lage kämpfen – das ist sein gutes Recht, nicht das mindeste gegen zu sagen. Ja, streikt selbst, in Gottes Namen; auch das kann euch niemand wehren, aber – kämpft mit ehrlichen Waffen! Hetzt und wühlt nicht im geheimen, redet die Gutwilligen nicht auf durch gehässige Übertreibungen und Verleumdungen gegen uns Beamte und die Zechen – darin liegt die Gemeinheit! Darum bin ich ein Feind des Sozialismus.«

»Gemeinheit?« In den Augen des Maschinisten funkelte es auf; er hatte aus allem nur das eine Wort herausgehört, an das er sich nun leidenschaftlich klammerte.

»Sag' das nicht nochmal! Ich leid's nicht, daß du unsere Sache beschimpfst, die uns genau so heilig ist, wie euch Thron und Altar. Wir haben sonst nichts mehr auf der Welt, das ist unsere Fahne – die halten wir hoch, die soll uns keiner antasten oder –«

Er ballte drohend die Faust gegen den Bruder.

Der Riese sah ernst aber ruhig auf den Aufgeregten; ja, es war etwas wie Mitleid in seinem Blick, als er so in das erregte, hagere Gesicht des andern sah.

»Ich will euch nicht beschimpfen. Ihr tut mir ja weit eher leid, die ihr verblendet vor euren Parteigötzen kniet. Was geben sie euch denn? Was helfen sie euch denn? Die Zufriedenheit, das Beste, was der Mensch hat, das haben sie euch genommen; Mißtrauen und Haß gegen alle Welt haben sie euch dafür gegeben, und die Zukunftsbilder, die sie euch vorgaukeln, es ist ja der pure Schwindel. Das Paradies auf Erden wird nie kommen – es wird immer Arme und Reiche geben, solange die Welt steht – nie wird der Zukunftsstaat kommen, an den ihr glaubt.«

»Er wird kommen – und vielleicht eher als ihr denkt!« In den tiefliegenden Augen des blassen, hageren Mannes glühte es auf. »Aber selbst, wenn wir ihn nicht mehr erleben sollten, unsere Knochen, die wir für die Blutsauger, die Mammonisten, zu Markte tragen, sie werden die Blutsaat werden, aus denen dereinst unsere Freiheit blüht! Wir kämpfen für unsere Kinder und Kindeskinder, für die Millionen Proletarier, die nach uns kommen werden, und die werden die Ketten einmal abschütteln – die werden die Herren werden auf der Erde, uns rächen, die wir dann vielleicht schon lange vermodert sind!«

Jupp Freukes schwieg. Es lag etwas Prophetisches in den voll leidenschaftlicher Überzeugung hervorgestoßenen Worten. Es wehte ihm daraus ein Hauch jenes Geistes entgegen, der die stumpfen, dumpfen Massen des Volks belebte und sie zu einem einzigen Riesen-Organismus vereinte – zu einer furchtbaren, dämonischen Macht, die in der Tat einmal die Schranken einer tausendjährigen Weltordnung zertrümmern konnte. Wenn sie auch freilich nie die schwärmerischen Ideale dieser modernen Bilderstürmer zur Wirklichkeit machen würde, aber eine Krisis der Menschheitsentwicklung mochte sie wohl herbeiführen, voll Blut und Schrecken – ob der Menschheit schließlich doch zum Segen, wer wollte das sagen?

Der Maschinist war jetzt fertig und griff nach seinem Stock, im selben Augenblick, wo die Tür zum Nebenraum aufging und die beiden ältesten Kinder im sauberen Sonntagskleid von der Mutter drinnen kamen. Das Mädchen ging auf den Vater zu und nahm seine Hand:

»Gehen wir nun zu Großvater?«

Aber der Maschinist entzog sich dem zutraulichen Griff seines Kindes.

»Mutter wird mit euch gehen und Onkel – ich muß weg.«

Und schnell ging er hinaus; er hörte ja schon von nebenan seine Frau herbeikommen. Wirklich trat die Schwägerin im nächsten Augenblick herein, mit den beiden Kleinsten. Sie hatte sich abgehetzt, um rechtzeitig mit allem fertig zu werden und kam nun doch zu spät.

»Ist er weg – wirklich?«

Jupp Freukes nickte nur, still und ernst. Was war das für eine Macht, die den Vater von den Kindern, den Mann von der Frau weglockte – einem dunkeln Phantom nach?

Unwillkürlich tönte ihm plötzlich ein altes, halbvergessenes Bibelwort im Ohr, aus dem Neuen Testamente: »Der wird Vater und Mutter verlassen und folget mir nach!«

War es nicht genau wie damals? Wieder eine gewaltige, die ganze Erde umspannende Bewegung, die die Armen, die Mühseligen und Beladenen ergriff, mit unaufhaltsamer Gewalt? Und doch welch Unterschied! Der milde Heiland predigte der Welt, die er erlösen wollte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«; aber die neuen Propheten hatten den unversöhnlichen Haß auf ihr Banner geschrieben.

Ein Laut schmerzlicher Erregung neben ihm entriß Jupp Freukes seinen ernsten Gedanken. Er sah die Schwägerin mit Tränen kämpfen.

»Na, laß ihn nur,« tröstete er herzlich und klopfte der armen Frau die Schulter, »wir wollen auch ohne ihn vergnügt sein. Kommt Kinder, zum Großvater – da woll'n wir Ostereier suchen!«

Die vier Kleinen drängten sich, schnell wieder getröstet, an ihn; aber die Schwägerin machte keine Miene, mitzugehen.

»Laßt mich nur hier. Mir ist am wohlsten, wenn ich mal ganz still sitzen kann – und es muß doch auch jemand da sein, wenn er nachher nach Hause kommt.«

Da gingen sie ohne die Mutter. Das Geplapper der Kinder ließ Jupp Freukes allmählich wieder auf andere Gedanken kommen, und es war ihm lieb so. Wie traurig das alles auch war – aber man konnte doch einmal nichts daran ändern. Und ein fruchtloses Sichabmühen an einer aussichtslosen Sache, das war nicht nach seinem frischen Sinn. Immer wieder hoch den Kopf – das war seine Losung!

Sie kamen inzwischen dem Häuschen der Arbeiterkolonie nahe, das Großvater Freukes bewohnte. Ein einfacher Bau wie alle andern, aber wie ein Schmuckkästchen war es anzusehen: Blitzblank die Scheiben, schneeweiß die Gardinen und in den Blumenkästen vor allen Fenstern rote Geranien, die dem kleinen Heim etwas Fröhliches gaben.

Eigene Gedanken kamen Jupp Freukes, wie er so das väterliche Haus vor sich liegen sah. Auch das war das Heim eines schlichten Mannes aus dem Volke. Selbst heute, als Markenkontrolleur, hatte der alte Freukes nicht viel mehr als jeder andere Bergmann. Aber doch welch Unterschied, wenn er dies Haus verglich mit der traurigen Wohnstätte des Bruders!

Hier hatte eben die Zufriedenheit ihr Heim aufgeschlagen, die sich mit der Welt abfand, wie sie einmal war und nicht mit fanatischer Verblendung Zielen nachjagte, die nie zu erreichen waren. Und hatten die hier in diesem Häuschen voll Frohsinn trotz aller Einfachheit nicht recht – tausendmal mehr als die andern?

Was jene Fanatiker mit einem gewaltsamen Umschwung aller Dinge herbeiführen wollten, es geschah ja längst, ohne ihr Zutun, durch die natürliche Entwicklung der Dinge – nur freilich nicht mit einem einzigen Schlage, wie jene es wollten, sondern in einer langsamen, natürlichen Entwicklung von Generation zu Generation.

Wenn Jupp Freukes nur an seine eigene Familie dachte! Der Vater selbst noch ein einfacher Arbeiter – er, der Sohn, schon aufgestiegen zu der Schicht der Gebildeten, – und sein Junge sollte dermaleinst, wenn er irgend das Zeug dazu hatte, auch studieren, so gut wie der Sohn seines Grubenherrn! War in diesem langsamen Aufsteigen der Familie aus der breiten Masse des Volks in die höheren Schichten der Gesellschaft denn nicht schon jene ausgleichende soziale Gerechtigkeit erfüllt, die der Bruder und seine Gesinnungsgenossen so fanatisch forderten, als sei es ein Recht, das sie erst droben von den Sternen herunterholen müßten?

Doch die Kleinen, die plötzlich mit lautem Hallo vorwärts drängten, entrissen Jupp Freukes alsbald seinen Gedanken. Sie hatten Großvater Freukes erspäht, der da schon nach ihnen ausschaute. Im ehrbaren schwarzen Sonntagsrock stand er an der Tür seines Gartens, der so sorgfältig aufgeräumt war wie eine gute Stube: Kein Blatt auf dem Wege, die schwarzgraue Kesselasche aus der Kokerei, die den Kies vertrat, schön strichweis geharkt und jeder Strauch, jedes Stämmchen, dem es not tat, am grünen Stock angebunden. Das Gärtchen war ja auch der ganze Stolz des alten Markenkontrolleurs; jede freie Stunde bastelte er hier herum.

Nun begrüßte er froh die Enkelchen und den Sohn. Aber dann sah er noch einmal hinaus auf den Weg.

»Na, wo steckt denn de Wilm un sin Wiw?«

Jupp gab schnell die nötige Aufklärung. Einen Moment beschattete sich das Gesicht des Alten; aber dann lachte er gleich wieder den Enkeln zu, mit seinem unverwüstlichen rheinländischen Lebensmut:

»Dat Dinges is ju't! Na, kommt man Kinderkens; nu sucht ens, ob dat Osterhäsken auch jett för ju versteckt hed.«

Und als, von dem Hallo der suchenden Kinder angelockt, die Nachbarin gegenüber am offenen Fenster erschien, nickte er ihr lustig zwinkernd mit den weißbuschigen Brauen zu:

»Dag, Frau Nachbarn! Ja, dat jlaub' ick – bißken Fensterrausjucken, dat kann jeder ei–ne!«

Jupp Freukes war unterdessen ins Haus getreten, zur Mutter. Er fand sie in der Küche, im Disput mit dem jüngsten Bruder Karl, dem Bergschüler.

»Guten Tag, Mutter! Tag, Karl! – Na, was habt ihr denn miteinander?«

Auch der Fahrsteiger hatte seinen frohen Sinn wiedergewonnen. Die Mutter, noch jugendlich rüstig trotz ihrer Rundlichkeit und des schon angegrauten Haars, gab ihm mit einem versteckt lächelnden Blick auf den jüngsten Sohn, der etwas verlegen am Küchentisch saß, Auskunft.

»Ja, dat is so'n eigen Dinges mit mich un den Karl. De Jung kömmt vor'n paar Dag un set mi eben: West'e, Mutter, dät paßt mich nicht mehr, dat ick immer mein schön Jeld bei dich abjeben muß. Wat min Kollejen sind auf die Zech', die dun dat all auch nicht. – Na, ju't, sag' ick, wat willste denn, min Jüngsken? – Ick will Kostjänger bei dich wer'n, Mutter, set Karl. Ick zahl' dich monatlich 45 Mark, un dat andre Jeld, wat ick verdien', dat jehört mein. – Is ju't, sag' ick, mich soll's recht sein, un wir haben dat Dinges denn ok drei Dag so gemach. Abers jleich dat erstemal, wie Karl von die Schicht kömmt, macht'r so'n lang Jesichte un beklagt sich: Wat is dat, Mutter? Sonst haste mich doch immer Butter un Schinke uf min Brot jetan, aber heute war et man mit fiesen Schmalz jestrichen. – Stimmt, sag' ick. Aber du bist doch nu min Kostjänger, und Kostjängers kriegen dat nich anders. – Und jestern mittag dieselbe Jeschicht, en schief Gesicht: de Surkappes mit Spä'k schmeckt em nich. Sonst hätt' he doch immer en jut Stücke Fleisch jehabt. – Ja, min Jüngsken, sagt ick ihm, dat is als nich anders. Min' Sohn, den jeb ick woll Butter un Schinke un jeden Mittag Fleisch, aber nich 'nen Kostjänger. Die kriegen all man Su'rkappes oder Saubohne mit Spä'k; da frag' man, wen dat de willst. – Un heut bei't Frühstück is dat all dieselbige Liternei. Da hab' ick ihm denn eben jesagt: ›Ja, wenn dich dat nich paßt, min Jüngsken, denn mußt du dich man wo anders in Kost jeben.‹ Un nu sitzt'r als da un weiß nich recht, wie dat Dinges werden soll.«

»Doch Mutter – ich weiß es schon!« In dem frischen Gesicht des jungen Menschen stand plötzlich ein vergnügtes Lächeln. »Nun will ich es man wieder so machen wie früher. Ich geb' dir meinen Lohn und du mir das gute Essen und ein Taschengeld jeden Sonntag – ich glaube, es ist schon besser so.«

»Das glaub' ich auch!« Laut lachend klopfte Jupp Freukes dem Bruder auf die Schulter und nickte dabei der lustig dreinblickenden, alten Frau mit den hellen, jungen Augen verständnisvoll zu: »Das hast du wieder mal gut gemacht, Mutter. Ja, wenn wir dich nicht hätten!« Und er wollte sie übermütig um die Taille kriegen.

Aber Mutter Freukes schob ihn mitsamt dem jüngeren Bruder nun resolut zur Küche hinaus.

»Macht jetzt, dat ihr rauskommt, Jungens; ick kann hier keine Pottkiekers jebrauchen.«

Und sie wandte sich alsdann frohgemut ihrem Herde zu, wo ein guter Feiertagsbraten auf dem Feuer stand.


Bei Betriebsführer Schürmann saß die Familie am Abend des ersten Osterfeiertages beisammen, um den runden Tisch unter der schon brennenden Lampe. Es war auch noch Besuch da, außer Fahrsteiger Freukes noch ein Bruder Schürmanns mit den Seinen, die aus einem benachbarten Industrieort herübergekommen waren. Trotz der Nähe der Wohnsitze sah man sich nicht oft. Beide Brüder hatten in ihrem Beruf bis spät in den Abend zu tun; so waren es denn nur die paar Festtage im Jahre, wo man so vereint beisammen saß in traulichem Geplauder beim alten Schürmann.

Beim »alten Schürmann« – so hieß er allgemein auf der Zeche, trotzdem er gerade erst die Mitte der Vierzig überschritten hatte. Aber die Kohle verbraucht schnell ihren Mann, und Schürmann hatte sich ganz besonders nie geschont. So war sein Gesicht früh verwittert, sein Haar vorzeitig ergraut, aber aus der gedrungenen Gestalt, namentlich aus den hellen, blauen Augen leuchtete die noch immer unverwüstliche Schaffenskraft des Mannes, der mit seinem ganzen Herzen an seiner Arbeit und an dem Hause Heckes' hing, in dem er sich emporgearbeitet hatte.

Der alte Schürmann, sonst meist schweigsam und still, war heute beim feiertäglichen Glase Wein einmal gesprächiger geworden. Das benutzten die Neffen und Nichten.

»Onkel Heinrich – erzähl' uns doch mal wieder was,« baten sie.

»Ja, Kinder, was denn nur?«

»O – von deinen Erlebnissen, weißt du damals, wie du die Taucherarbeiten im Schacht leitetest – oder von der großen Schlagwetterexplosion auf Zeche ›Morgenschein‹!«

»Ach, die alten Döntjers – das habt ihr ja doch schon alles hundertmal gehört.«

»Das schadet ja nichts, wir hören's doch immer wieder gern. Und überhaupt« – die jüngste der Nichten bat es – »eine Geschichte habe ich wenigstens noch nie gehört: Die, wo du beinahe mit dem Kübel untergetaucht und ertrunken wärst!«

Der alte Schürmann lachte und nahm die lange Pfeife aus dem Munde. Er hielt an dieser lieben Gewohnheit noch immer fest.

»Ach so – die Geschichte meinst du, damals beim Schachtabteufen? Na, wenn ihr denn durchaus wollt –«

»Ach ja, Onkel, – bitte, bitte!« und all das junge Volk rückte begierig näher herzu. Nur Maria Schürmann blieb, wo sie war, am Fensterplatz. Abseits von den Ihren saß sie hier im Zwielicht und blickte wie in Gedanken hinaus in den Abend, wo die Dämmerung immer höher heraufzog, drüben hinter den Erkern und Giebeln der Heckesschen Villa, die gerade hier das Gesichtsfeld im Hintergrunde abschloß. Scharf zeichneten sich die Konturen des weißschimmernden Baues von dem Graublau des Himmels ab.

Jupp Freukes, der im Familienkreise mit den andern um den runden Tisch saß, konnte die Augen nicht von ihr lassen. Es lag gerade heute, in dieser Versonnenheit, ein ganz eigener, verstärkter Reiz über dem Mädchen – etwas süß Rätselhaftes, das sein Herz schneller pochen ließ. Ob es in einem geheimen Zusammenhang stand mit seinem ersten Hiersein im Hause?

In Hoffen und Bangen zugleich – der junge Riese verlor vor dem zarten Mädchenbild da all seine Sicherheit und frische Selbstverständlichkeit – sah Jupp Freukes zu Maria hinüber; vielleicht, daß ein leises äußeres Anzeichen ihm Gewißheit gab. Aber diese hielt sich fast geflissentlich fern von ihm, – er legte es sich zum Trost als mädchenhafte Befangenheit aus. Auch nun, wie der Vater erzählte, wandte sie den Kopf nicht herum, und doch hörte sie sonst immer so gern seine Geschichten. Es war ja so selten, daß er in behaglicher Muße bei den Seinen saß.

»Ja, die Sache ging nämlich so zu,« fing der Betriebsführer jetzt an und nahm einen langen Zug aus der Pfeife, »wir hatten den Schacht II drüben schon glücklich bis zur Kohle niedergebracht und bauten gerade an der Pumpenkammer auf der Fördersohle. Da wollte ich wieder mal mit einfahren, um nach den Arbeiten drunten zu sehen. Ich steige also in den Kübel, mit dem sie sonst das Wasser weiter drunten im Schacht ausschöpften, und rufe dem Maschinisten zu: ›Zur Pumpe!‹ Gut – die Reise geht also los und schon seh' ich den Lichtschein von der Sohle. Aber was ist das? Es geht dran vorbei! Da krieg' ich 'nen Schreck: Weiß Gott, der Kerl da oben an der Maschine vertut sich und läßt den Kübel weiterlaufen – runter nach dem Sumpf! Schon bin ich an den Lichtern wieder vorbei und immer tiefer geht's, haste nicht gesehen. So perplex war ich im Augenblick, daß ich nicht mal den Leuten auf der Sohle im Vorbeifahren zurief: ›Aufklopfen – nach oben das Signal Halt geben!‹ Und sie standen auch mit offenen Mäulern wie die Brummochsen, ließen mich ruhig runterrutschen.«

»Schrecklich!« entfuhr es der jüngsten Nichte. »Was dachtest du in diesem Augenblick, Onkel? Wie war dir denn zumute. Hattest du nicht eine Totenangst?«

»Dazu hatt' ich gar keine Zeit,« lächelte der alte Schürmann und stopfte mit dem Daumen die Pfeife nach. »Dann im nächsten Moment dacht' ich gleich: Jetzt heißt's festsitzen, wenn der Kübel ins Wasser taucht und sich umkehrt, daß du nicht rausfliegst! Und so stemmte ich mich denn mit aller Gewalt mit Knien und Ellenbogen gegen die Wand, grad' wie ich das Klatschen höre, mit dem der Kübel aufs Wasser aufschlägt – da, im nächsten Moment plötzlich ein Ruck, der Kübel steht still und geht dann langsam wieder auf. War's meinem alten Freund da oben an der Maschine doch noch im letzten Augenblick eingefallen: ›Herrgott, du hast ja diesmal einen Mann drin!‹ und so gibt er Gegendampf, bremst und bringt auch glücklich noch die Kutsche zum Stehen, ehe's zu spät ist.«

Atemlose Stille in dem Raum, alle hingen ja noch mit Spannung an dem Mund des Erzählers, da klang vom Fenster her ein schweres Aufatmen – wie ein Seufzer.

»Na, na – nimmst du dir die Geschichte so zu Herzen?« Scherzend sah Schürmann zu der Tochter hin, von der der Laut gekommen war.

Maria hatte, wie heute den ganzen Tag, auch jetzt wieder an die verstohlene Begegnung zwischen ihr und Willibald Heckes denken müssen: An das kurze, stockende und doch für sie so bedeutungsvolle Gespräch über die Gartenhecke hinweg und an ihr Versprechen, morgen wieder da zu sein, um dieselbe Stunde. Nun schreckte sie das Scherzwort des ahnungslosen Vaters auf und sie sah herum.

»Ich? Ach nein – ich war nur so in Gedanken.«

Ihr Blick begegnete dabei dem Auge des jungen Fahrsteigers, das mit einem Ausdruck an ihr hing, der ihr plötzlich das Blut in die Wangen trieb. Schnell wandte sie das Antlitz wieder ab und blickte mit heiß pochendem Herzen auf die Straße hinaus.

Am Tisch hinter ihr sprachen sie dann weiter, vom Beruf des Vaters, seiner langen Tätigkeit auf dem Heckesschen Werk und dann von Heckes selbst. Sie horchte jetzt herüber, ohne jedoch hinzusehen. Jedesmal, wenn der Name Heckes fiel, zuckte sie heimlich zusammen, als stände sie mit diesem Namen jetzt in einer besonderen geheimen Verbindung. Der Onkel sprach sich ganz ungeniert über den Brotgeber ihres Vaters aus und nannte ihn rücksichtslos und kaltherzig bis zum äußersten.

»Der geht über Leichen – ohne mit der Wimper zu zucken!« schloß er.

»Gewiß, er ist streng und auch hart bisweilen,« gab der Vater zu, »aber wie sollte er sonst wohl all das erreichen, was er fertig bringt? Im übrigen, man übertreibt da auch sehr. Man muß nur seine Pflicht tun, dann ist schon mit ihm auszukommen. Mir ist er immer ein gerechter Herr gewesen.«

»Ja, dir!« wandte der Onkel ein. »Das wär' ja wohl auch noch schöner! Einen Mann wie dich soll er sich auch erst wieder mal suchen – einen, der seine Haut nicht ein-, nein zehnmal für ihn zu Markte getragen hat!«

»Ach, macht doch kein Aufhebens davon – ich tue meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit und nichts weiter.«

Sie sprachen noch lange so weiter, der Onkel wie auch die Mutter bemüht, die Bescheidenheit des Vaters nicht gelten zu lassen, der jedes Verdienst für sich ablehnte.

Maria Schürmann hörte es mit an, ein seltsames, zwiespältiges Gefühl im Herzen: Stolz auf den lieben Vater mit seiner rührenden Schlichtheit und zugleich ein quälendes Schuldbewußtsein ihm gegenüber. Da war seit heute morgen etwas in ihr, was sie heimlich mit sich herumtrug, etwas, was sie sich selber nicht einmal einzugestehen wagte – sie, die bisher stets mit klarem Auge jedem frei ins Gesicht hatte sehen können.

Und doch! Es ließ sie nicht mehr, hielt sie fest mit einer so unwiderstehlichen, süßen Gewalt.

Ihre junge Brust hob sich in dunkelm Sehnen, und der Blick flog plötzlich hinüber zu dem weißen, stolzen Hause da drüben, wo jetzt alle Fenster in festlichem Licht erstrahlten – wie mit einem verstohlenen Gruße.


Das Osterdiner im Heckesschen Hause hatte eine unerwartete Bedeutung bekommen. Unerwartet für alle, bis auf Regina; denn sie hatte wohl schon geahnt, daß der Baron Laach bei der nächsten Gelegenheit sein freilich nur ihr bemerkbares, diskretes Werben in Worte kleiden würde.

Das war nun heute geschehen. Natürlich ganz in jener vornehm gedämpften Weise, wie sie für den Baron und sie selbstverständlich war. Beim Promenieren nach dem Diner in dem großen, parkähnlichen Garten, in dem sich die Gäste gruppenweise zerstreuten, hatte der Baron die gesuchte Gelegenheit gefunden, und Regina hatte ihm ihr Ja nicht verweigert.

Laach war der Mann, den sie haben wollte: Von altem Namen – seine Familie gehörte zu den ältesten, ureingesessenen Geschlechtern im Lande – eine distinguierte Erscheinung, ganz Haltung und vornehmste Repräsentation und dazu eine große Karriere in Aussicht – der Baron war bei Hofe persona gratissima, man sah allgemein in der Provinz in dem noch jungen Landrate einmal den zukünftigen Oberpräsidenten – so bot Laach der verwöhnten, reichen Erbin alles, was sie brauchte, um einmal die tonangebende Rolle zu spielen, die ihr stets vorgeschwebt hatte.

Ganz selbstverständlich hatte sich die Verständigung der beiden auf die diskreteste Behandlung der Angelegenheit beschränkt – um Gottes willen nicht etwa eine Publikation coram publico mit knallenden Sektpfropfen und drüber schwebendem Segen des Schwiegerpapas! – nein, eine ganz unauffällige, leise Information ihres Vaters durch Regina, nur mit drei Worten, die ebenso diskrete Aufforderung Magnus Heckes' an den Baron, nachher doch noch ein wenig zu bleiben – das war alles gewesen.

Und doch hatte man schon leise gemunkelt, die Gesellschaft hat ja merkwürdig feine Instinkte für so etwas, und als dann der Aufbruch kam – Laach war möglichst unauffällig mit den Heckesschen Söhnen noch beim Pilsner und der Zigarre in der Bibliothek hinten zurückgeblieben – da raunten es sich nachher in den abfahrenden Autos und Equipagen alle Damen zu: Habt ihr's nicht auch gemerkt? Die Regina Heckes und der Baron – die Sache ist perfekt!

Die Unterhaltung zwischen Heckes und Laach, hierauf allein in der Bibliothek, war nur sehr kurz gewesen, wenige Minuten bloß. Magnus Heckes hatte ja auch seinerseits nichts gegen den Bewerber einzuwenden. Machte der Baron die vermutete große Karriere, so konnte ihn die einflußreiche Position des Schwiegersohnes nur stützen in seinen weitausschauenden Plänen. Also gab auch er sein Ja. Das übrige war eine reine Formalität, die die beiderseitigen Notare ins reine bringen würden.

So saß denn also jetzt die um ein neues Mitglied vermehrte Familie in der Bibliothek beisammen. Das Brautpaar ein wenig abseits – es gab ja nun mancherlei zu besprechen – aber ganz distinguierte Zurückhaltung, als wenn sie gesellschaftliche Konversation miteinander machten.

Volkmar Heckes, der mit dem Vater und dem Bruder in der Nische saß, sah mit einem eigenen Empfinden zu den beiden hinüber: Verlobung im Hause Heckes! Auch das war wie es hier nicht anders sein konnte – eine Sache mit einem leisen Frosthauch. Und er mußte wieder an die Vermerens denken. Wie anders würde da so etwas aussehen.

Der Vater entriß ihn plötzlich seinem Sinnen. Magnus Heckes fühlte sich in der Rolle des Familienvaters, die er heute einmal notgedrungen spielen mußte, reichlich unbehaglich, und nur um überhaupt etwas zu sagen, fragte er den jüngeren Sohn:

»Wo warst du eigentlich heut vormittag hingeritten? Du warst ja lange fort.«

»Nach Bistorp,« gab Volkmar Auskunft. »Ich war erst am Grabe und nachher ein paar Minuten bei Vermerens – ich traf Hedwig im Garten.«

»So – bei Vermerens.«

Magnus Heckes griff wieder zur Zigarre, die er ein Weilchen beiseite gelegt hatte.

»Wie hat sich denn die Kleine herausgemacht?« erkundigte sich Willibald. Er sah in Gedanken noch immer das unfertige, überschlanke Geschöpf vor einem halben Dutzend Jahren vor sich.

Auf Volkmars Stirn lagerte sich eine Wolke. Die Art des Bruders, jedes weibliche Wesen nur unter einem bestimmten, ihm ja hinlänglich bekannten Gesichtspunkte zu betrachten, erschien ihm auch Hedwig Vermeren gegenüber unerträglich. Er überhörte daher die Frage Willibalds und wandte sich an den Vater, in seinem Berichte fortfahrend.

»Sie nahmen mich freundlich auf, wir haben sehr nett geplaudert. Übrigens machte da Frau Vermeren eine Beobachtung, die mir ganz neu war: Ich soll nämlich dir ähnlich sehen – in deinen jungen Jahren.«

Und er blickte zum Vater hin.

Magnus Heckes saß in seiner gewohnten Undurchdringlichkeit da, die Augen auf die Zigarre zwischen seinen Fingern gerichtet. So meinte er leichthin: »So – fand sie das?« Dann zuckte er die Achseln, »Nun, mag ja am Ende sein.«

Das Thema schien ihm nicht weiter interessant.

Volkmar aber durchlebte im Geist noch einmal jene Stunde bei Vermerens mit allen ihren Eindrücken, und da drängte es sich ihm wieder auf die Lippen:

»Übrigens, was ist die Frau jung geblieben – ganz unglaublich! Noch genau so schön und frisch wie zu unsrer Kinderzeit.«

Der warm bewundernde Ton machte Magnus Heckes plötzlich aufsehen. Ein rascher Blick traf den Sohn – scharf durchdringend. Aber gleich im nächsten Augenblick spielte wieder ein leises, ironisches Lächeln um seine Lippen. Wie konnte er nur so etwas denken – bei dem da!

Doch dann wurde seine Miene nachdenklich. Also immer noch so schön war Eleonore Vermeren – schön und jugendlich. Und Magnus Heckes zog aus seiner Zigarre dichte Rauchwolken, wie um damit den Ausdruck seiner Züge zu verhüllen. Aber es wäre überflüssig gewesen. Diese harten, kalten Mienen verrieten auch so nichts davon, was in seinem Innern vorging.

Der Baron war gegangen. Er hatte die Nachsicht seines Schwiegervaters kaum länger als eine halbe Stunde in Anspruch genommen, und doch war Magnus Heckes selbst das schon zu viel gewesen.

Jetzt wäre es gut, wenn hier eine Frau im Hause wäre, um all diesen Firlefanz der Brautzeit ihrerseits zu erledigen. Er ahnte mancherlei Lästiges für die Zukunft. Wenn auch die Hochzeit möglichst beschleunigt werden sollte – immerhin, drei Monate würde dieser wenig erquickliche Zustand doch dauern, wie ihm Renate eben als Resultat ihrer Besprechungen mit dem Verlobten eröffnet hatte.

Eine Frau im Hause – der Gedanke beschäftigte Magnus Heckes auch noch, als er schon drüben, in seinen Zimmern war. Er dachte noch nicht an das Entkleiden, sondern zündete sich eine neue Zigarre an. Die Hände auf dem Rücken schritt er so gedankenverloren in dem Raum hin und her.

Nicht daß etwa seine Erinnerungen zu der verstorbenen Gefährtin seines Lebens flogen, sie wehmutsvoll zurückwünschend. Eine derartige Sentimentalität und Zweckwidrigkeit war Magnus Heckes fremd. Was die Erde einmal hielt, gab sie nicht wieder – wozu also da solch Wünschen? Und außerdem, seine Ehe war nur aus Vernunftsgründen geschlossen worden; die Verstorbene hatte ihm innerlich niemals näher gestanden.

Also das war es nicht. Aber in anderer Richtung, vorwärts trieben ihn seine Gedanken.

Er war noch kein alter Mann, erst Ende der Vierzig, und spürte eine unverbrauchte Lebenskraft in sich, es lag voraussichtlich noch eine geraume Spanne Zeit vor ihm – an die dachte er.

Wie würde es hier werden, wenn nun auch die Tochter aus dem Hause sein würde? Der große Hausstand erforderte eine leitende Hand, eine geeignete Repräsentantin.

Eine Hausdame engagieren, eine Dame von Stand – es war wohl das Nächstliegende, und doch! Er hatte da mancherlei in anderen Familien erlebt, und er wußte es nur zu genau: Es war nicht leicht, sich mit ihm zu stellen, der keine Rücksichten auf andere nahm.

Das Zimmer hüllte sich in immer dichtere Rauchwolken. Die Sache war wirklich gar nicht so einfach – im Grunde doch so eine Art Lebensfrage für ihn.

Und plötzlich blieb er stehen: Aber es gab ja da doch noch einen anderen Weg – wenn er wieder heiratete! Wenn wirklich wieder eine Frau hier ins Haus käme, deren Interessen auch die seinen wären, dann wären alle jene Schwierigkeiten mit einem Schlage beseitigt.

Hm – der Gedanke hatte etwas für sich. Und er nahm seine Wanderung wieder auf. Der Zeitpunkt, die Änderung seiner äußeren Verhältnisse ließen jetzt einen solchen Schritt ganz natürlich erscheinen. Die Tochter ging aus dem Hause, er war ganz allein – die Söhne ja auch meist draußen – wer wollte es ihm verdenken, wenn er da noch einmal zur Ehe schritt?

Soweit also alles ganz gut, aber nun die Hauptsache – die Personenfrage! Magnus Heckes hatte sich in seinem Leben nie um die Frauen gekümmert. Ihm war die Arbeit, das Erreichen seiner Ziele alles gewesen. Für zärtliche Regungen dem weiblichen Geschlecht gegenüber war da bei ihm weder Zeit noch Platz gewesen – niemals.

Nie?

Wie kam es doch, daß da plötzlich mit einem Male ein Frauenbild vor seiner Seele stand? Eleonore Vermeren.

Ja, Eleonore! – Aber das war einmal, eine Jugendphantasterei, schon so lange her, daß er selbst kaum noch davon wußte.

Und er warf den Kopf zurück, wie man eine unbequeme Geschichte abtut.

Aber seltsam, er ertappte sich doch immer wieder auf demselben Gedanken – Eleonore Vermerens Bild tauchte immer wieder vor ihm auf, schön und immer noch jugendlich, wie sie der Sohn vorhin geschildert hatte.

Zum Donnerwetter, was sollte das! Ungeduldig schlug er mit der Rechten auf den Tisch, an dem er gerade vorüber kam. Was hatte das alles mit den Erwägungen zu tun, die allein ihn jetzt ernsthaft beschäftigten: Könnte eine nochmalige Ehe für ihn in Frage kommen oder nicht?

Wieder setzte er seine Wanderung fort, aber wieder ging Eleonore Vermeren neben ihm her – stumm, in ihrer ganzen stolzen Zurückhaltung, und doch, in diesen dunkeln Augen –! Sprach es da nicht wie mit Zungen, die ihm jetzt fremd geworden waren, deren Laut er aber auch einst verstanden hatte? Freilich, es war schon lange her, sehr lange.

Der Kopf sank Magnus Heckes auf die Brust. Die Zigarre in seiner Rechten erlosch – er ging gedankenverloren im Zimmer auf und nieder, als lausche er nach sich selber hinein. War da drinnen wirklich alles so stumm und still geworden, wie er wähnte, oder tönte doch noch ein leises Echo von dem, was einst war?

Und wieder entriß er sich mit einem gewaltsamen Aufraffen seinen Empfindungen.

Unsinn, und wenn selbst – Eleonore Vermeren konnte ja doch für ihn nie mehr in Betracht kommen, sie war die Frau eines andern!

Damit war die Sache abgetan, ein für allemal. Schade vielleicht – denn wenn er wirklich noch einmal an eine Heirat denken wollte, sie wäre die Richtige gewesen – gerade sie! Da war Geist von seinem Geist, Eleonore wäre nicht bloß wie ein stiller Schatten neben ihm hergegangen wie die erste – nein, ihre königliche Art hätte auch neben ihm ihre volle Geltung beansprucht, und er würde sie dieser Frau nicht verweigert haben.

Aber was half das alles? Sie war eines andern Weib. Da waren Schranken gezogen, die sich nicht durchbrechen ließen.

Magnus Heckes' Stirn runzelte sich. Es war ihm nicht leicht, anerkennen zu müssen, daß etwas für ihn unerreichbar sei. Und gerade in diesem Falle!

Ja, wenn jener andere noch der Mann danach gewesen wäre. Aber der Bergrat Vermeren! Ein guter Kerl – ohne jeden Zweifel, aber ein Durchschnittsmensch, kein Mark in den Knochen. Und es überkam ihn plötzlich ein Ärger, daß gerade er es war, dem Eleonore gehörte. Es war ihm wie eine persönliche Niederlage.

Pah! Und doch hätte es damals nur eines Wortes von ihm bedurft, und die schöne stolze Frau wäre nie die Gattin des andern geworden – im ganzen Leben nicht!

Ja, aber warum hatte er dies Wort nur nicht gesprochen damals? Wäre nicht vielleicht manches anders geworden in seinem Leben – reicher, schöner? Eine Frau wie Eleonore hätte ihm sicher auch einen Sohn geschenkt, wie er ihn sich heimlich wünschte als Erben seines Besitzes und seiner Pläne. War's also nicht doch ein falscher Schachzug gewesen damals, als er die andere nahm?

Er grübelte und rechnete nach, wog Chance gegen Chance ab – doch dann entschied er fest: Nein, es hatte sein müssen. Er stünde sonst heute nicht dort, wo er war. Also war es richtig gewesen, was er getan hatte.

Und Magnus Heckes wies den Gedanken von sich weg. Aber trotzdem kam er noch nicht zur Ruhe. Es war nun heute einmal da an etwas in ihm gerührt worden, was doch noch lebendiger war als er dachte. Seltsam – und es waren doch so viele Jahre schon seitdem vergangen. Gab es doch etwa noch Empfindungen in ihm, denen sich nicht so kühl gebieten ließ, wie er wähnte?

Lange noch schritt Magnus Heckes in seinem Zimmer auf und ab. Der Zechenwächter, der alle Stunden auch an der Kontrolluhr am Gartenportal der Villa zu schließen hatte, sah jedesmal, wenn er dort hinkam, die dunkle Gestalt noch hinter den hell erleuchteten Fenstern auf und ab gehen. Und kopfschüttelnd dachte er:

Was hat der Mann nun von all seinem Geld? Es läßt ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Nein, glücklich ist der auch nicht!


Im Sitzungszimmer von Schacht III war Betriebsführerkonferenz. Die Leiter all der fünf Schächte und Kokereianlagen und der Brikettfabrik von Zeche »Willibrod« waren mit den Betriebsinspektoren und den beiden Direktoren vereint, saßen um den langen, grün behängten Tisch, ein jeder sein Taschenbuch vor sich. Magnus Heckes präsidierte am oberen Ende des Tisches. Er nahm allmonatlich einmal auch an diesen Beratungen teil, deren Leitung er sonst dem technischen Direktor der Zeche überließ.

All die regulären Punkte der Beratung, Förderungs- und Vorbereitungsarbeiten im nächsten Monat, Gedingefragen und Materialienbestellungen waren erledigt, die Teilnehmer an der Konferenz klappten wie auf einen geheimen Befehl ihre Bücher zu – Magnus Heckes liebte auch bei diesen Gelegenheiten keinen Zeitverlust, im Moment, wo er die Sitzung aufhob, sollte auch schon alles vom Tisch aufstehen und wieder an seine Arbeit eilen – da ergriff anstatt der erwarteten, entlassenden Handbewegung der Grubenherr noch einmal das Wort.

»Ich habe da noch eine Mitteilung zu machen. Mein Sohn, der Bergreferendar, wird von morgen ab hier auf der Zeche steigern. Ich habe ihn Schacht III zugewiesen, Ihnen, Herr Schürmann. Er wird sich morgen früh bei Ihnen zum Dienst melden. Sie wollen dann alles Weitere veranlassen.«

»Jawohl, Herr Heckes.«

Und der alte Schürmann wollte sich erheben, zum Zeichen seines Dankes für diese Auszeichnung und weil er nun damit die Sitzung beendet wähnte. Aber ein Wink des Zechenherren wies ihn noch einmal auf seinen Platz zurück.

»Es versteht sich ja einfach von selbst, aber ich will es doch noch einmal hier besonders betont haben: Ich wünsche nicht, daß der Steiger Heckes etwa eine Ausnahmestellung erhält. Er hat seine Arbeit zu leisten wie jeder andere und sich selbstverständlich auch jeder Anordnung seiner Vorgesetzten zu fügen. – So, das hatte ich Ihnen noch sagen wollen. Ich danke.«

Eine verabschiedende Neigung des Kopfes und im selben Augenblick ein allgemeines, eilfertiges Aufstehen, die Konferenz war zu Ende. Nur der kaufmännische Direktor blieb noch zu einer besonderen Rücksprache.

»Nun, Voßmann, wie steht's – noch immer kein Anziehen des Geschäfts?«

Der Gefragte schüttelte den Kopf.

»Die Konjunktur zeigt eher einen noch weiteren Niedergang. Alle Tage laufen Beanstandungen von unseren Briketts ein – in guten Zeiten nehmen sie alles unbesehen, da sind sie froh, wenn sie nur überhaupt was bekommen – und mit der Kohle, das ist ja überhaupt ein Jammer. Wir haben kaum noch Platz auf dem Lager, und unsere Reisenden verlieren alle Lust. Sie werden behandelt wie die Schuhputzer. Überall an den Fabrikkontoren hängen große Plakate: ›Kohlenreisenden ist der Zutritt untersagt!‹«

»– Gesellschaft!«

Wuchtig setzte Heckes die schwere Hand auf den Tisch. In seinen Augen zuckte es auf, ein blitzendes Drohen, und halb wie zu sich selbst sagte er mit leisem Ingrimm:

»Aber sie sollen uns doch schon noch kommen!«

Eine Weile schritt Heckes, in irgendeinen, ihn geheim sehr stark beschäftigenden Gedankengang vertieft, mit laut hallenden Schritten im Zimmer auf und nieder. Direktor Voßmann sah währenddessen in respektvollem Schweigen zu ihm hin. Was mochte da wieder für ein Plan im Entstehen sein, eine jener gewaltigen Transaktionen, mit denen Magnus Heckes Freund und Feind zu verblüffen pflegte!

Dann aber blieb der Grubenherr mit kurzer Wendung stehen – das andere da zu seiner Zeit, einstweilen das Nächstliegende. So entschied er:

»Die Produktion also noch weiter einschränken! Wieviel fördern wir augenblicklich?«

»Im Durchschnitt auf allen fünf Schachtanlagen zusammen 6300 Tonnen pro Tag.«

»Also herunter auf 6000.«

Voßmann neigte den grauen Kopf, aber dann machte er doch eine Bewegung, als wolle er etwas vorbringen.

»Nun – haben Sie noch was, Voßmann?«

»Ja, ich hätte wohl, Herr Heckes –«

»Na nur heraus damit, heraus!«

Der Direktor war nun entschlossen.

»Diese neue Produktionsbeschränkung bedeutet zwei weitere Feierschichten. Die Leute klagen jetzt schon, daß sie nicht auskommen können.«

Magnus Heckes zuckte die Achseln.

»Müssen sie sich eben noch weiter einschränken. Tut mir leid, aber läßt sich nicht ändern.«

»Ja, ja gewiß, Herr Heckes, nur ich fürchte – jeden Tag kommen jetzt schon Leute zum Betriebsführer gelaufen, in allen Arbeiterausschußsitzungen ist dieselbe Klage –! Was soll man ihnen sagen?«

Heckes machte eine ungeduldige Bewegung.

»Sagen Sie ihnen, wie es ist: Eben schlechte Zeiten. Und wenn's uns schlecht geht, geht's auch dem Arbeiter schlecht, das ist nicht anders. Na, und wem's nicht paßt, der braucht ja nicht. Glaubt er anderswo besser fortzukommen – in Gottes Namen.«

»Sehr wohl, Herr Heckes.«

Der Graukopf verneigte sich, wenn auch schweren Herzens. Voßmann hatte sich wie alle höheren Beamten der Heckesschen Werke von der Pike an emporgearbeitet – Heckes hielt nichts von den Akademikern, er glaubte besser mit alten Praktikern zu arbeiten, denen der Respekt von Jugend an in den Knochen saß – und er hatte so immer noch ein warmes menschliches Empfinden für die kleinen Angestellten und die Arbeiter, deren Kreisen er selber entstammte. Er wußte, was es heißt, sich noch weiter einzuschränken, wenn man schon hart an der Grenze des Möglichen angelangt ist. So versuchte er noch ein letztes.

»Ich fürchte nur, wenn die Unzufriedenheit unter den Leuten wächst, es könnte zu Mißlichkeiten, vielleicht sogar zur Arbeitseinstellung kommen.«

»Streik? – Jetzt bei der schlechten Konjunktur? Das glauben Sie doch wohl selber nicht! Das besorgen die Herren doch nur, wenn das Geschäft im besten Schwunge ist, wenn sie uns damit in Verlegenheit bringen können. Nein, mein Lieber,« er sah den Alten mit einem ironischen Lächeln an, »es hilft Ihnen alles nichts. Ich kann Ihrem guten Herzen zu Gefallen nicht unwirtschaftlich handeln. Na, und nun Schluß! – Guten Morgen.«



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