Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Zechenwärter, dem auch die Bewachung der Heckesschen Villa oblag, hatte wieder einmal seine Runde vollendet und pflichtgemäß an der Kontrolluhr beim Gartenportal geschlossen. Nun schritt er langsam an der Mauer des Grundstückes entlang, um dann wieder drüben nach dem Zechenplatz hinüberzugehen.

Es war eine dunkle Nacht, kein Stern am Himmel, nur der Schein seiner elektrischen Lampe warf einen scharfen Lichtkegel in die Finsternis vor ihm und strich langsam vor dem Gehenden her an der Mauer entlang, daß der weiße Kalkbewurf grell aus dem Nachtdunkel aufleuchtete. Da – plötzlich wurde an dem hellbeschienenen Hintergrund ein Schatten sichtbar: Eine menschliche Gestalt – ein Mann, der in sich zusammengesunken auf dem vorspringenden Sockel der Mauer saß.

Der Wärter sah schärfer zu. Richtig – derselbe wie vorhin! Schon bei der vorigen Runde hatte er den da ja bemerkt, wie er ohne sich zu rühren, den Kopf in die Fäuste gestemmt, dasaß – offenbar ein angetrunkener Arbeiter, den die Müdigkeit auf dem Nachhauseweg überwältigt hatte.

Aber nun hockte er immer noch dort, genau in derselben unveränderten Haltung. Da mußte er doch einmal hin, um sich den Mann näher anzusehen und ihn, wenn nötig, wachzurütteln, damit er endlich nach Haus kam, in sein Bett. Und der Wächter ging auf ihn zu.

Aber der Mann vor ihm schlief keineswegs. Nun, wo das Geräusch der herannahenden Schritte an sein Ohr drang, hob er den Kopf und sah her, aber mit einer gleichgültigen, schwerfälligen Bewegung.

Der Wächter verwunderte sich. Also kein Betrunkener! Aber was hatte der Mann denn da hier herumzulungern? Und mit erwachendem Mißtrauen blickte er forschend auf den Sitzenden, der jetzt seine frühere Haltung wieder eingenommen hatte und sich nicht weiter um ihn kümmerte.

Das scharfe Licht der Laterne überflog nun aus nächster Nähe den Unbekannten – ein großer, starker Mann, schon im Sitzen zeigte sich das, und anständig gekleidet, offenbar kein Arbeiter. Aber was dann? Und die Verwunderung des Wächters wuchs noch; er stand jetzt dicht vor dem Sitzenden.

»Gut'n Abend!« sprach er ihn an; vielleicht, daß er so Gelegenheit bekam, sich den Mann näher anzusehen.

Aber der Angeredete erwiderte nur mit einem stummen, kaum merklichen Kopfnicken; die gegen die Schläfe gestemmten Fäuste verdeckten nach wie vor den größten Teil seines Antlitzes. Doch trotzdem hatte der Wächter im Moment des flüchtigen, aber scharfen Zusehens das Gefühl, in ein ihm wohlbekanntes Gesicht zu blicken. Aber wer nur – wer?

Langsam weiterschreitend dachte er nach. Plötzlich aber hatte er's: Fahrsteiger Freukes! Der starke, blonde Schnurrbart, die ganze mächtige Figur kein Zweifel, er war es.

Aber was in aller Welt hatte der in später Nacht hier zu sitzen? Und so sonderbar, in sich versunken? Wenn er sich nicht eben vom Gegenteil deutlich überzeugt, er hätte darauf geschworen, der Fahrsteiger wäre total betrunken – so etwas Schwerfälliges hatte in seiner Bewegung gelegen.

Oder sollte dem Mann ein Unglück passiert sein – etwa ein Hitzschlag oder etwas Ähnliches? Es war ja heute ein sehr heißer Tag gewesen, eine Bruthitze.

Unwillkürlich blieb der Wächter stehen und sah noch einmal zurück nach dem unbeweglich Sitzenden. Aber dann schüttelte er doch wieder den Kopf und ging langsam weiter. Auch das war es wohl nicht. Aber er nahm sich vor, wenn er den Fahrsteiger auch bei der nächsten Runde noch hier so vorfinden sollte, dann wollte er ihn doch ansprechen.

Mit diesem Entschluß trat der Wächter wieder drüben durch die kleine Nebenpforte, für die er einen Schlüssel hatte, auf den Zechenplatz, um dort seinen Kontrollgang auf dem weitläufigen Gelände fortzusetzen.

Jupp Freukes aber saß unbeweglich, nach wie vor; es war wirklich, als ob eine Lähmung seinen riesigen Leib befallen hätte. Und es war ja auch so. Freilich keine Lähmung seiner Gliedmaßen, aber die Seele, die sie belebte, hatte einen vernichtenden Streich empfangen.

Stumpf dämmerte Freukes so vor sich hin. Nicht einmal ein Schmerz war jetzt mehr in ihm, nur das Gefühl einer völligen Gleichgültigkeit – als ob da alles in ihm erstorben wäre, vorhin in der furchtbaren Stunde.

Wie das so plötzlich über ihn gekommen war, den ganz Ahnungslosen!

Spät abends war er von der Zeche nach Haus gekommen, er hatte lange in der Grube zu tun gehabt und sich daher auch, ohne noch mit einem der Kollegen zu sprechen, schnell umgekleidet und heim begeben. Zu Haus erst hatte er so von allem erfahren. Es hatte sich ja schon auf der ganzen Zeche herumgesprochen: heut nachmittag, während er im Schacht war, hatte sich die Tochter vom alten Schürmann ins Wasser gestürzt – ein Selbstmordversuch. Die Gründe? Keiner wußte etwas Genaues, nur ein Gemunkel von unglücklicher Liebe oder gar noch etwas anderem.

Als Jupp Freukes das erste Wort davon vernommen, da war er, der große, starke Mann fast zurückgetaumelt: Seine Maria – ins Wasser gegangen?

Dann war er davongestürzt, hinüber zum Hause des alten Schürmann. Gewißheit mußte er haben, Klarheit! Noch war ja immer ein Hoffen in ihm, daß alles nur ein falsches Gerücht sei – daß zum mindesten nur ein Unfall vorliege.

Aber dies Hoffen sollte ihm bald grausam zerstört werden im Hause Schürmanns. Maria bekam er gar nicht zu Gesicht, auch die Mutter nicht – es war überhaupt alles so totenstill in dem sonst so freundlichen Hause, als wäre wirklich einer gestorben – und wie er endlich zum alten Schürmann vorgelassen wurde, da hatte ihm schon der erste Blick das Herz stillstehen lassen. Was mußte hier geschehen sein? Der Vater Marias war ja von gestern auf heute ein alter, gebrochner Mann geworden.

Und dann hatte er alles erfahren. Ihm, als dem Bewerber um die Hand seiner Tochter, mußte Schürmann ja rückhaltlos Aufklärung geben. Da hatte Jupp Freukes den vernichtenden Streich empfangen. Als er dann wieder fortging aus dem Hause, dessen Frieden und Glück dahin war für immer, schleppte er seine schweren Glieder nur mühsam einher; wie eine Lähmung an Leib und Seele war es über ihn gekommen.

Wo es ihn dann die nächsten Stunden herumgetrieben hatte, was er in dieser Zeit getan, gedacht – er wußte es selber nicht zu sagen. Das lag wie in einem Dämmerzustand hinter ihm. Licht war es erst wieder in ihm geworden, als dann plötzlich ein klarer Gedanke bei ihm aufgetaucht war – freilich ein grelles, wild aufflammendes Licht, wie wenn die erste Feuergarbe eines Brandes zum dunkeln Nachthimmel aufschießt.

Das war gewesen, als er plötzlich wieder daran dachte, was der alte Schürmann ihm ganz zum Schluß noch gesagt hatte: daß nämlich Willibald Heckes, der Leutnant, noch heute hier eintreffen würde, mit dem Nachtzuge – von seinem Vater telegraphisch herberufen.

Freukes hatte im Augenblick auf jene Mitteilung kaum noch geachtet. Nachdem er den Schlag empfangen, der all seinem Hoffen ein Ende machte, hatte ja alles weitere kein Interesse mehr für ihn gehabt. Im ersten furchtbaren Wüten des Wundschmerzes hatte er über dies und anderes noch, was der unglückliche Vater weiter sprach, achtlos hingehört. Aber nun war ihm mit einemmal das Erinnern daran wieder aufgeschossen und hatte gezündet.

Herkommen würde der, der an allem schuld war – in wenigen Stunden schon! Das hatte ihn auf einmal aus seiner dumpfen Starre aufgestört. Nun hatte er ja wieder etwas, auf das seine Triebkraft sich richten konnte, der da vorhin mit jenem Schlage jedes Ziel vernichtet schien. Es gab doch noch etwas für ihn zu tun: abzurechnen mit dem andern, der ihm sein Glück zertrümmert hatte.

Und dieser Gedanke hatte ihn plötzlich wieder zu bewußtem Handeln aufgerüttelt. Er hatte seinen Weg hierhergenommen und sich hier niedergelassen, um auf den Eintreffenden zu warten. In derselben Minute, wo der seinem Wagen entstieg, wollte er ihn stellen, und dann –

In der Vorstellung dessen, was dann kommen sollte, hatte sich Jupp Freukes eine lange Zeit hindurch genug getan, der rasenden Überspannung seiner Nerven Luft gemacht. Aber als er sich so ausgetobt, war er alsbald wieder in jene stumpfe, müde Gleichgültigkeit versunken. Jenes Werk der Vergeltung, es würde schnell getan sein – ein flüchtiger Augenblick der Entladung von aufbrausender, alles vergessender Leidenschaft – aber was dann?

Was war ihm im Grunde mit dieser Rache geholfen? Konnte er damit das andere ungeschehen machen?

Ein Stöhnen klang dumpf in seinem Innern. Nein – Maria war ihm verloren, wie es auch kam. In qualvoller Selbstprüfung hatte er sich immer und immer wieder die Frage vorgelegt: ließ sich denn nicht über so etwas hinwegkommen? Wenn man ein Mädchen liebte, so aus tiefstem Herzen wie er? Wer mit grausamer Klarheit empfand er immer wieder: nein, nicht für einen Mann wie ihn. Trotz des besten Willens nicht. Er würde es nie verwinden können, daß das, was ihm einmal so heilig gewesen war, in den Staub getreten war.

Und da sank ihm wieder der Kopf in die großen, starken Hände und mit brennenden Augen starrte er in das Nachtdunkel vor sich hin. Es war aus – alles aus. Er würde Maria nie zu lieben aufhören, nie vergessen, niemals – aber sie war ihm verloren. Er würde sie nur noch lieben, wie man eine Tote liebt.

Das war der Schluß seiner Selbstprüfung. Dabei verharrte er nun; in die Trostlosigkeit dieses Bewußtseins versank er tiefer und immer tiefer, während er so einsam saß und auf den Mann wartete, mit dem er abrechnen wollte.

Und aus diesem stillen Schmerz heraus erwuchs ihm schließlich doch noch ein anderer Gedanke: ja, Maria war ihm verloren; aber gab es nicht für sie wenigstens noch etwas zu retten?

Sie liebte ja jenen anderen – wie weh es auch tat, sich das sagen zu müssen, es war doch so – wie hätte sonst geschehen können, was geschehen war? Nun gut, wenn dem aber so war, so konnte doch ihr wenigstens noch geholfen werden – wenn jener andere sie heiratete, ihr die Ehre wiedergab.

Freilich, er würde es wohl nicht aus freien Stücken tun. Aber wenn man ihn zwang? Ihm die Wahl stellte: Entweder – oder?

Nur schwer fand sich Freukes mit dem Gedanken ab: auch noch verhandeln mit dem da, während es ihm in der Faust zuckte, ihn ohne ein Wort zu Boden zu schmettern!

Aber es hieß hier nicht an sich denken, sondern an Maria. Das war ja noch das einzige, das letzte, was er für sie tun konnte. Und endlich war es entschieden: ja, es sollte geschehen. Wenn ihm Willibald Heckes sein Ehrenwort gebe, Maria zu heiraten, dann wollte er sein Rachegelüst niederkämpfen.

Mit diesem festen Entschluß harrte Jupp Freukes weiter des Erwarteten. Langsam strichen in der dunkeln Nacht die Stunden dahin. Aber was tat es? Ihm leuchtete ja doch kein hoffnungsfroher Morgen.

Endlich machte ein herannahendes Rattern den Fahrsteiger aufhorchen. Nun sah er auch schon da hinten die gleißenden Lichter des Autos blitzen – schnell schoß das Gefährt heran.

Freukes erhob sich. Er fühlte es nun doch zucken in seiner Brust, wie er jetzt drüben im hellen Schein der Bogenlampen am Tor den Aussteigenden gewahrte. Deutlich vernahm er seine Stimme, die dem Chauffeur noch einige Weisungen gab, dann fuhr das Auto wieder zurück; die Garage lag hinten bei den Pferdeställen.

Solange war Freukes, vom Nachtdunkel verborgen, noch auf seinem Platz geblieben, jetzt aber ging er schnell zum Gartenportal hin. Er hörte dort schon an der Tür schließen.

»Einen Augenblick – ich habe mit Ihnen zu reden!«

Verwundert sah sich Willibald Heckes nach der Richtung um, von wo plötzlich aus dem Dunkel die Worte an sein Ohr schlugen. Nun sah er in den Lichtbereich der Bogenlampen einen Mann treten – eine hohe, breitschultrige Gestalt. Befremdet fixierte er den Herantretenden einen Moment, dann fragte er kurz:

»Mit mir?«

»Jawohl, Herr Heckes,« und fest sah ihn der andere an. Ein ihm unbekanntes Gesicht, aus dem aber eine finstere Entschlossenheit sprach.

Willibald Heckes drückte instinktiv die schon aufgeschlossene Pfortentür auf; aber dennoch blieb er draußen stehen, er war nicht feige. So maß er den jetzt dicht vor ihm Stehenden, der aussah, als wollte er ihm nötigenfalls den Eintritt in den Garten mit Gewalt verwehren, kühl von oben bis unten.

»Eine etwas ungewöhnliche Stunde, mein Lieber. Im übrigen – wer sind Sie?«

»Fahrsteiger Freukes.«

»Kenn' ich nicht.« Es klang nachlässig. »Und was wünschen Sie von mir?«

Die erzwungene Ruhe Freukes war von diesem Ton schon wieder stark erschüttert; doch noch einmal beherrschte er sich.

»Ich komme Marias wegen – wegen Fräulein Schürmann.«

Er hatte gemeint, der andere würde unter diesem Namen zusammenzucken, im Bewußtsein seiner Schuld. Aber Willibald Heckes' Miene verriet nur höchstes Erstaunen und hochmütige Ablehnung.

»Sie?« Und wieder musterte er kalt den Fahrsteiger. »Was haben Sie denn mit der Angelegenheit zu schaffen?«

Freukes zuckte zusammen.

»Ich bin ein Freund der Familie – im übrigen hat Sie das auch gar nicht zu kümmern.« Seine Stimme hatte etwas Rauhes, Drohendes. »Wir wollen nicht viel Worte machen. Es handelt sich hier nur um eines: Wollen Sie das Mädchen heiraten oder nicht?«

Willibald Heckes war plötzlich ganz hochmütigste Unnahbarkeit, und es tönte unverkennbare Verachtung aus seiner Antwort, wie er nun mit einem bezeichnenden Blick erwiderte und dabei langsam zurücktrat, als habe er schon zu lange in einer seiner unwürdigen Gesellschaft geweilt:

»Mein Lieber, das sieht ja fast aus wie – Erpressung. Sie können wohl nicht im Ernst erwarten, daß ich auf diese sonderbare Zumutung irgendwie reagiere.«

Und seine Linke griff zur Klinke der Pforte.

»Halt!«

Freukes war mit einem Schritt heran, so dicht, daß sein heißer Atem dem andern ins Gesicht schlug. Die blau aufgeschwollenen Stirnadern gaben seinem Gesicht etwas Schreckliches.

»Nicht von der Stelle! Und nun zum letztenmal: Ihr Ehrenwort, daß Sie Fräulein Schürmann heiraten werden, oder –!«

Die Rechte des Fahrsteigers hob sich, zur Faust geballt.

Das Antlitz des jungen Offiziers wurde im selben Moment totenblaß. Er sah die Katastrophe vor sich. Was hatte er sich auch in einer Regung falscher Furchtlosigkeit dem Menschen hier gestellt – einem Unebenbürtigen, einem Rasenden, zu allem fähig und ihm an Körperkraft dreimal überlegen! Und in plötzlich ausbrechender Verzweiflung starrte Willibald Heckes dem Riesen vor ihm ins Gesicht. In seinen weitgeöffneten Augen war das alles zu lesen, was er doch zu stolz war, dem andern zuzurufen.

Jupp Freukes verstand diese stumme Sprache; aber statt Mitleid weckte sie bei ihm nur zitternde Nachbegier. In dem sonst so Gutmütigen waren die uralten Instinkte der Bestie erwacht, die mit grausamer Wollust die Todesangst im Auge ihres Opfers wahrnimmt.

»Antwort!« Heiser klang seine Stimme Willibald im Ohr. »Sonst, sonst –!«

»Lassen Sie mich – zurück!«

Ein Stoß traf den Fahrsteiger an die Brust eine instinktive Bewegung des Selbsterhaltungstriebs, und zugleich griff Heckes nach dem Türgriff: vielleicht gelang es doch noch – ein rettender Sprung da hinein.

Aber zu spät! Im nächsten Moment ein dumpfer, schrecklicher Laut – es war schon geschehen, die Faust des Fahrsteigers hatte den jungen Offizier getroffen mit einer furchtbaren Wucht. Wie tödlich verletzt von dem schmetternden Hieb taumelte er gegen den Mauerpfeiler der Pforte; wäre dieser Halt nicht gewesen, er wäre zu Boden gestürzt.

Eine Stille entstand, sekundenlang – eine schreckliche, bange Stille. Ohne sich zu rühren, stand Freukes, noch immer vornüber geneigt; nur seine Augen lebten, eine Glut entfesselten Jähzornes. So stierte er auf den andern. Der regte sich nicht. Er lehnte mit geschlossenen Augen zusammengebrochen an dem Mauerpfeiler, wie ein Lebloser. Sollte er wirklich –?

Aber jetzt kam Bewegung in den Getroffenen. Er schlug die Augen auf und richtete sich empor – langsam, mühselig, sich mit den Händen am Mauerwerke stützend, und nun traf sein Blick den vor ihm Stehenden.

Ein einziger, kurzer Blick, und doch verrauchte vor ihm all der Jähzorn des Riesen, der eben noch nur befriedigter Rachedurst gewesen. Dieser Blick hatte etwas an sich, das Freukes plötzlich einen kalten Schauer über die Seele laufen ließ. In diesen leeren Augen hatte etwas gestanden – etwas Furchtbares.

Und dann, ohne einen Laut, klinkte der junge Offizier die Tür auf und trat in den Garten ein. Langsam mit schweren, schleppenden Schritten ging er auf das väterliche Haus zu.

Wie festgebannt stand Freukes und sah ihm nach, und mit jedem dieser mühseligen Schritte, mit dem der völlig Gebrochene da sich weiter von ihm entfernte, stieg es immer quälender in ihm auf: eine dunkle Unruhe, Angst fast – als müsse er dem andern da, der sich so lautlos hinwegschleppte, etwas nachrufen.

Aber die Lippen des Fahrsteigers blieben fest aufeinandergepreßt. Was hätte es auch genützt? Was geschehen war, war geschehen.

So stand er nur und starrte ihm nach, bis jener im Vestibül der Villa verschwunden war, die in nächtlicher Ruhe schweigend dalag.

Dann erst raffte sich Jupp Freukes empor. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, die ihm feucht geworden war. Doch wie er die schwere Hand so an seinem Antlitz spürte, zuckte er plötzlich zusammen.

Aber dann schüttelte er das mit finsterer Entschlossenheit ab. Genug nun damit! Und, um den peinvollen Anblick da eben aus seinem Gedächtnis zu verwischen, rief er sich nun Marias Bild vor die Seele, ihre arme, zerbrochene, zarte Jugend. Wog das nicht schwerer? Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen, er hatte nur Vergeltung geübt, und er, der andere, hatte es ja nicht besser gewollt. Er selber hatte sich sein Schicksal bereitet; mochte er sich nun damit abfinden, so gut er konnte.

Und der Fahrsteiger wandte sich von der Heckesschen Villa ab. Im Schein der Bogenlampen sah er nach seiner Uhr – gleich vier. Da konnte er schon immer nach dem Schacht hinübergehen und einfahren. Schlaf gab es heute doch nicht mehr für ihn. Arbeiten wollte er, arbeiten, bis er vor Müdigkeit hinsank. Das würde das beste für ihn sein – das war ja auch noch das einzige, was ihm blieb.

Mit langsamen, schweren Schritten ging Jupp Freukes so zu den Zechenanlagen hinüber.

Als der Wächter auf seiner Runde wieder zur Heckesschen Villa kam, war der Platz an der Gartenmauer leer – der Fahrsteiger fort. Nun, um so besser; hatte er sich doch noch heimgefunden.

Beim Überblicken von Garten und Haus sah der Mann dann aber Licht oben in einem der Zimmer des Seitenflügels. Doch er wunderte sich nicht weiter. Wußte er doch, dort lagen die Fremdenzimmer, und vom Chauffeur drüben bei den Ställen hatte er ja vorhin gehört, der junge Herr war eben mit dem Nachtzug gekommen, zu einem kurzen Aufenthalt hier, wohl einem Jagdbesuch.

Der Wächter bemerkte dann noch die offenstehende Pfortentür, die Willibald Heckes vorhin vergessen hatte, wieder zu schließen, und suchte gerade an seinem Schlüsselbund, als er plötzlich aufhorchte: War da nicht eben ein dumpfer Schall aus dem Haus herausgeklungen – fast wie ein Schuß?

Er lauschte, aber nichts regte sich weiter in der nächtlichen Stille, und auch droben hinter den erleuchteten Fenstern war nichts wahrzunehmen. Vielleicht hatte er sich doch geirrt.

Da suchte er denn wieder weiter an seinem Bund, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, schloß ab und ging seines Wegs.

* * *

Volkmar Heckes hatte Nachtdienst in der Grube gehabt. Nun ging er, kurz vor Beginn der Frühschicht, nach dem Schacht zu, um wieder auszufahren.

Die Arbeit, die ihn so wach gehalten hatte, war ihm nur lieb gewesen; er hätte doch kein Auge zutun können. Noch spät am Abend hatte ihm der Vater ja Mitteilung gemacht, von dem, was sich zugetragen hatte – von dem Unglück im Hause Schürmanns.

Volkmar war tödlich erschrocken. Also doch – sein dunkles Ahnen damals war nur zu richtig gewesen.

Die ganze Nacht ließ es Volkmar keine Ruhe; immer wieder überfiel es ihn, sobald er, allein mit sich, durch die stillen Strecken hier unten wanderte.

Zorn über den frevelhaften Leichtsinn des Bruders wechselte ab mit tiefstem Mitleid mit dem armen Mädchen und dem alten Schürmann. Wie mochte den unglücklichen Mann das getroffen haben!

Und schließlich Jupp; der arme, arme Kerl! Der Riese mit dem weichen Kinderherzen, der zu dem Mädchen aufgeschaut hatte wie zu einer Heiligen – das verwand der ja nicht so bald, vielleicht überhaupt nicht, und der Kummer über das Unglück, das der Leichtsinn eines Einzigen über so viele brave Menschen gebracht, fraß Volkmar am Herzen. Und die Scham, daß der eigene Bruder dieser Schuldige war! Wie sollte er nun wieder dem alten Schürmann oder dem Jupp vor die Augen treten?

Eine böse Nacht war es so für Volkmar gewesen, die nun endlich herum war. Schon waren die Vorbereitungen zur Arbeit der Frühschicht im Werk. Als er ein an seinem Weg gelegenes Ort passierte, war dort gerade der Schießmeister angekommen, um die Schüsse zu besetzen

Volkmar trat heran, er wollte, da er einmal gerade da war, die ordnungsgemäße Ausführung dieser Arbeit überwachen. Es war gut, daß sich von Zeit zu Zeit ein Beamter dabei sehen ließ; die Vorschriften wurden aus Bequemlichkeit, um sich Zeit und Mühe zu sparen, ja nur zu oft von den Leuten übersehen. Auch jetzt bemerkte er gleich, daß noch nicht gerieselt war.

»Wo ist der Rieselmeister? Warum ist noch nicht gespritzt?«

Energisch stellte er den Mann zur Rede, der sich jetzt schnell am Schlauch zu schaffen machte.

»Ick wör just dorbi,« entschuldigte er sich, etwas unsicher, während er den Schlauch an das Wasserrohr schraubte.

Volkmar sah ihn nur mit einem stummen Blick an. Dann warnte er mit Nachdruck:

»Lassen Sie mich das nicht noch einmal sehen!«

Der Mann nickte verlegen und ließ nun einen dichten Sprühregen von Wasser auf den Kohlenstoß und seine ganze Umgebung niedergehen, um den explosionsgefährlichen Kohlenstaub niederzuschlagen.

Inzwischen hatte der Schießmeister seinem Blechkasten die Sprengpatronen entnommen und besetzte den Schuß, stopfte die Patronen, vier bis fünf hintereinander, mit dem hölzernen Ladestock fest in das Bohrloch hinein.

Während Volkmar dieser Verrichtung zusah, näherten sich Schritte. Er sah sich um – Jupp Freukes kam herzu. Aber als er beim Schein der Grubenlichter Volkmar gewahrte, zögerte sein Schritt; es sah aus, als ob er am liebsten wieder umgekehrt wäre.

Auch Volkmar Heckes überkam ein Gefühl tiefer Pein: nun war der Augenblick da, dem er so gern aus dem Wege gegangen wäre. Aber es half ja nichts, es mußte ja doch einmal sein! Und so trat er denn dem Freunde entgegen, der noch immer abseits stand.

»Glückauf!«

Der Gruß kam Volkmar heute wie ein bitterer Hohn vor. Doch dann suchte er die Hand des Freundes. Worte verboten sich ja hier mit Rücksicht auf die Anwesenden; aber sein Händedruck sollte Jupp sagen, wie tief er mit ihm empfand.

»Glückauf!«

Kurz nur klang der Gegengruß des Fahrsteigers, und seine Rechte entzog sich nach flüchtigem, nur widerwilligem Überlassen dem Druck des Jugendkameraden. Mit finster gefurchter Stirn sah Freukes an diesem vorbei, als gewahrte er gar nicht dessen schmerzliches Betroffensein.

Still trat da Volkmar fort, mehr zu den Leuten hin. Er ahnte ja nicht, was in der Seele des anderen vorging, der nun nur ein paar Schritte von ihm entfernt dastand und gleichfalls dem Besetzen des Schusses zusah, immer noch mit jenem düsteren Blick. Da hatte eben seine Rechte die Hand Volkmars freundschaftlich berührt, die vor einer Stunde erst dessen eigenen Bruder –

Wenn er doch hätte reden können! Und die Brust des Fahrsteigers lag unter einem Zentnerdruck, während er so in sich versunken, nur ganz teilnahmlos und rein mechanisch dem Hantieren des Schießmeisters zusah.

Nun befestigte dieser die Zündschnur an der letzten Patrone und entzündete das äußere Ende der mit Guttapercha umwickelten Schnur.

»Es brennt!«

Laut scholl der Warnruf durch das Ort, auf den hin die bis dahin unbekümmert weiterarbeitenden Leute ihr Gezäh, das Handwerkszeug, aus der Hand legten und sich langsam in die Deckung zurückzogen. Schon witterte auch der charakteristische Schwefelgeruch der glimmenden Zündschnur durch den engen, niedrigen Raum.

Der laute Ruf hatte auch Freukes aus seiner Versunkenheit aufgestört. Langsam schritt er nun den übrigen nach, als letzter neben Volkmar hergehend.

Dieser hatte das Verletztsein von vorhin schon wieder überwunden und sah nun mit tiefem Mitgefühl auf den finster Schweigenden. Wie hätte er ihm das auch nachtragen sollen! Ahnte er ja doch, wie es in seiner Seele aussah. Und von seinem Freundesempfinden überkommen, flüsterte er gedämpft dem neben ihm Gehenden zu:

»Ich leide mit dir, Jupp – glaub' es mir!«

Er suchte das Auge des Jugendgefährten. Aber in dessen Zügen zuckte es jetzt auf, und rauh stieß er nun hervor:

»Laß, laß – du weißt nicht –!«

Und er schritt schneller vorwärts, den andern nach, die inzwischen schon aus dem Ort herausgegangen und in die Strecke eingetreten waren. Ein Stück um die Ecke herum hatten sie haltgemacht. Rechts und links stellte sich nun je ein Mann auf und schwenkten ihre Lampen, etwa herannahenden Förderwagen zum Zeichen, daß geschossen wurde.

Lautlose Stille herrschte, und mit Erwartung lauschten die Männer.

Die eigenartige Spannung, die in der Situation lag, entriß für Augenblicke Volkmar seinen Gedanken. Jeden Moment erwartete man ja das Eintreten der Explosion, doch immer noch ließ sie auf sich warten. Da plötzlich eine dumpfe Detonation, ein aus den Ort herausschießender Luftstoß – einen Moment lang ein Gefühl von Taubheit im Ohr – dann ein süßlicher Pulvergeruch und dichter, grauer Qualm begann sich auch hier in der Strecke zu verbreiten, die Nachschwaden.

Jupp Freukes hatte unbeweglich vor sich hingestarrt, gleich den andern auf das Eintreten der Entladung wartend. Aber seine Gedanken waren weit ab, seine düstere Miene verriet es. Und als dann das dumpfe Krachen erscholl, da war er unwillkürlich zusammengezuckt – er, der das doch hundertmal mit angehört hatte. Es war ihm bei dem Geräusch, das wie ein Schuß klang, plötzlich etwas durch den Kopf gefahren – so dunkel, schreckhaft.

Doch dann gab er sich einen Ruck, und, zu den Leuten hingewandt, befahl er, wieder ganz nur noch Vorgesetzter:

»Gleich spritzen, daß der Staub weggeht!«

Durch den Qualm hindurch, der die Gestalt des einen noch den Blicken des andern entzog, hörte Volkmar Freukes' Stimme, kurz und hart, und der Befehl wurde alsbald ausgeführt. Nach ein paar Minuten war die Luft wieder klar.

Da wandte sich der Fahrsteiger wieder zum Ort hin.

»Wie hat sich der Schuß gemacht? Wollen zusehen.«

Und alle gingen sie an die Sprengstelle heran. Eine mächtige Kohlenbank von Meterstärke war aus dem Flöz herausgebrochen. Schwarz gähnte die Höhle in der Wand, wo sie gesessen. Ein wüster Trümmerhaufen lag am Boden.

»Es hat tüchtig geschafft.«

Volkmar sagte es zu dem Freund, der neben ihm stand.

Der nickte nur stumm, ohne ihn anzusehen, und stieß mit der stählernen Stockspitze gegen den festen, kernigen Bruch eines Stücks, der fast metallisch im Lampenlicht flimmerte.

»Eine gute Kohle.«

Doch dann kehrte er sich schnell ab mit einem kurzen »Glückauf!«

Volkmar sah ihm nach, Trauer im Herzen. Armer Jupp – das saß tief!

Dann entriß ihn das scharfe Schurren der Kohlenschaufeln – die Leute waren schon beim Wegräumen der herausgeschossenen Kohle – seinem schmerzlichen Versunkensein. Er besann sich auf sich selbst. Er wollte ja hinauf, nach Haus – seine Pflicht hier war erfüllt und er merkte jetzt doch, wie müde er war. So schritt er denn langsam in entgegengesetzter Richtung wie Freukes davon, dem Schacht zu.

* * *

In der Villa Heckes herrschte, als Volkmar dort eintrat, noch die Stille des frühen Morgens. Die meisten der Leute waren noch gar nicht sichtbar. Nur im Wintergarten, an dem er vorüberkam, sah er durch die offene Tür den Diener seines Vaters schon seines Amtes walten. Er arrangierte den Teetisch. Magnus Heckes pflegt vor seinem Morgenritt, den er stets kurz nach sieben antrat, hier immer ein kleines, erstes Frühstück zu nehmen – ohne jede Umstände, in wenigen Minuten.

Dann stieg Volkmar die Treppe im Seitenflügel hinauf, wo seine Zimmer neben den Fremdenräumen lagen. An der Flurgarderobe im Vorraum bemerkte er beim Ablegen Hut und Mantel, die ihm nicht gehörten, auf dem Tischchen daneben auch eine kleine, hellgelbe Handtasche – die Sachen seines Bruders, Willibald war also schon angekommen.

Einen Moment stand Volkmar zögernd, dann trat er entschlossen auf die Tür des Zimmers zu, wo Willibald immer zu schlafen pflegte, wenn er hier war – einmal mußte es ja doch sein, und je eher, je besser! Auch wollte er den Bruder gesprochen haben, ehe dieser nachher mit dem Vater die entscheidende Unterredung haben würde, und so klopfte er denn nun an.

Aber es blieb still, auch auf ein wiederholtes Klopfen. Willibald schlief offenbar noch fest. Aber ganz gleich – und Volkmar klinkte die Türe auf, trat in das Zimmer ein.

Überrascht sah er gleich auf den ersten Blick: das Bett war ganz unberührt. Er ging also nebenan in das Wohnzimmer des kleinen Appartements, das bei den herabgelassenen Jalousien im Halbdämmerlicht dalag. Ja, da war der Bruder, aber wie sonderbar – er ruhte auf der Chaiselongue, ganz bekleidet, noch im Reiseanzug wie er gekommen war.

»Willibald!«

Volkmar ging näher. Doch nichts rührte sich. Wie fest er nur schlief. Und verwundert trat Volkmar ganz nahe heran, wollte sich über den Schläfer beugen, aber da stieß sein Fuß gegen einen harten Gegenstand auf dem Teppich, mechanisch sah er hinunter, doch im selben Augenblick zuckte er zusammen bis ins Mark – ein Revolver.

»Willi!«

Noch einmal, diesmal aber schrill, in Todesangst tönte der Ruf durch das stille Zimmer. Doch wieder diese unheimliche Ruhe dort auf der Chaiselongue.

Da eilte Volkmar zum Fenster, ein Ruck und das Tageslicht flutete herein. Hell fiel es auch auf den regungslosen Schläfer drüben auf dem Ruhebett – ein fahles, starres Antlitz.

Tot.

Volkmars Hände krampften sich ineinander. So stand er eine Weile selber wie leblos, nur die Augen voll Grauen zu dem Bruder hingerichtet.

Tot – die Schuld gesühnt mit eigener Hand!

Es hätte des Zettels nicht erst bedurft, der dort, wie er nun sah, auf dem Tischchen neben der Chaiselongue lag; Volkmar verstand auch so alles.

Und ein Zittern überschlich ihn plötzlich, machte ihm die Knie wanken, ließ seine Zähne leise gegeneinanderschlagen – ein Knäuel stieg ihm würgend in der Kehle auf.

Da litt es ihn nicht länger mehr allein hier mit seiner grausigen Entdeckung. So schnell ihn die Füße trugen, eilte er hinunter zum Wintergarten.

Der Vater saß dort schon am Tisch, er mußte sich gerade im Moment erst gesetzt haben. Nun blickte er mit Befremden auf den Sohn, auf dessen aschfahles, verstörtes Antlitz. Und sofort erfassend, daß hier etwas vorgegangen sein müsse, dessen Erörterung keinen Zeugen vertrug, schickte er den Diener hinaus, mit einem Auftrag für den Reitknecht. Dann blickte er auf den Sohn:

»Was ist?«

»Vater, Willi –«

Das furchtbare Wort wollte ihm nicht aus den Zähnen, die sich plötzlich krampfhaft ineinander gebissen hatten. Aber Magnus Heckes nahm es ihm vom Munde.

»Tot.«

Er sagte es, ohne das leiseste Zittern im Ton.

Und dann erhob sich Magnus Heckes. Ohne eine Frage – ohne einen Blick nach dem Sohn, ging er hinaus, nach oben hinauf.

Mechanisch folgte ihm Volkmar, und zu dem Grauen vor dem Entsetzlichen da oben gesellte sich das zweite: als er den Vater so in starrer Ruhe vor sich die Treppe hinaufsteigen sah – ganz wie damals, als die Mutter gestorben war.

Dann trat er, ihm nach, in das Zimmer zu dem Toten ein.

Mit festem Fuß ging Magnus Heckes dicht heran an das Ruhebett. Seinen Gesichtsausdruck vermochte Volkmar nicht zu erkennen; er sah nur von hinten seine regungslose Gestalt, wie er so herniederschaute auf den Sohn, der mit eigener Hand sein Leben in früher Jugend geendet hatte.

Ob er der Hoffnungen gedachte, die sich einst voll Stolz in ihm geregt, als man ihm damals vor langen Jahren den Erstgeborenen in die Arme gelegt hatte? Der ehrgeizigen Hoffnungen, die weit vorauseilend in dem unmündigen Kinde schon den Erben und Mehrer eines Reichs gesehen hatten, das seine schrankenlose Tatkraft erst noch errichten sollte.

Und nun war alles so anders gekommen.

So stand Magnus Heckes unbeweglich, bis auch er den Zettel auf dem Tischchen gewahrte. Nun griff er danach, ein Überfliegen und alsbald zerrissen ihn seine Hände ohne Besinnen in unentzifferbare kleinste Stückchen. Die letzten Gedanken des Toten da, die seiner Tat der Verzweiflung vorausgegangen waren, würde keiner je mehr erfahren.

Dann wandte sich Magnus Heckes zu seinem anderen Sohne herum. Die Züge waren von stählerner Härte.

»Außer uns beiden darf niemand je die Wahrheit erfahren. Für die anderen war es ein Unfall – beim Reinigen des Jagdgewehres.«

Volkmar nickte, und abermals rann ihm der Schauer über die Seele.

Der Vater aber wandte dann langsam wieder den Blick dem Toten zu.

»Laß mich allein jetzt.«

Es klang wie ein Befehl, hart und rauh, und doch war etwas in der Stimme was Volkmar im Tiefsten erschütterte. Einen Moment lang war es ihm, als sollte er hin zu ihm, seine Hand mit krampfhaftem Griff packen, daß er merkte: hier war noch jemand, der mit ihm empfand! Er wußte ja: der Vater hatte sich der überschäumenden Jugendkraft seines Ältesten im Grunde doch immer gefreut. Wenn sie sich jetzt auch noch an nichtigen Dingen verpuffte, er war ja doch ein Heckes – es würde einmal die Zeit kommen, wo sie sich auf ernste Ziele richtete.

Volkmar fühlte instinktiv, wie trotz aller eiserner Beherrschung das alles jetzt in dem starren Mann da zitterte, und das erlösende Wort, das sie beide in dieser Stunde einander hätte nahebringen können, war ihm schon auf den Lippen; aber da sah er die buschigen Brauen in dem Antlitz dort sich bereits finster zusammenziehen – er stand schon zu lange hier. Und wortlos ging er hinaus.

* * *


 << zurück weiter >>