Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

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Jupp Freukes war aus der Grube wieder heraufgekommen. Es war gegen Mittag. Wohl spürte er eine Mattigkeit nach all den seelischen und körperlichen Anstrengungen, aber doch war kein Ruhebedürfnis in ihm. Es trieb ihn unstet umher – ein qualvoller Zustand.

So ging er hinüber ins Zimmer des Betriebsführers; er hatte allerlei Dienstliches zu besprechen. Schürmann hatte dort einen Steiger bei sich, den er aber nun gleich verabschiedete. In seinem verwitterten Antlitz, das seit den letzten Tagen etwas Verfallenes bekommen hatte, stand eine nur mühsam verhehlte Erregung, und kaum hatte sich die Tür hinter dem dritten geschlossen, so entfuhr es ihm:

»Freukes –!«

»Was denn, Herr Schürmann?«

»Er ist tot!«

In seiner Erregung nannte er keinen Namen. Aber der andere begriff sofort. Sein Gesicht verfärbte sich.

»Der – der Leutnant?«

Schürmann nickte.

»Heut' nacht! Sie munkeln es allenthalben – vorhin war auch der Sanitätsrat schon da aus der Stadt. Ein unglücklicher Zufall – das Jagdgewehr soll ihm losgegangen sein.«

Jupp Freukes zuckte zusammen.

»Glauben Sie an diesen – Zufall, Freukes?«

Der Fahrsteiger erwiderte nichts. Mit fest zusammengebissenen Zähnen stand er da und starrte vor sich hin, die Blicke in den Boden gebohrt.

Der alte Schürmann blickte verwundert auf den wie Geistesabwesenden. Was war das? Aber Plötzlich dämmerte ihm etwas auf, etwas Furchtbares.

»Freukes!«

Es klang heiser, wie ein mühsam gedämpfter Schrei des Entsetzens, und die Blicke des Betriebsführers hingen weit geöffnet, mit einem Ausdruck des Grauens an den zusammengekrampften Händen des anderen – wie wenn Blut an ihnen klebte.

Der Anruf riß Freukes aus seiner Starre. Er sah auf Schürmann und verstand nun dessen entsetzten Blick. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Nicht so – aber doch bin ich schuld.«

Und dann erzählte er, was sich zugetragen mit einer dumpfen, brüchigen Stimme, und als er geendet hatte, ließ er sich auf den Stuhl nieder, langsam und schwer.

Auch Schürmann verharrte regungslos, erschüttert im Innersten.

So lastete lange, dumpfe Stille über den beiden. Dann trat Schürmann zu dem immer noch unbeweglich sitzenden Fahrsteiger und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Sie hatten es gut gemeint, Freukes. Sie haben als ein wahrer Freund meines armen Mädels gehandelt – Sie brauchen sich nun auch keine Vorwürfe zu machen.«

Aber Freukes schüttelte nur langsam, ohne aufzusehen, den Kopf. Und dann richtete er sich plötzlich empor.

»Ich muß zu ihm, ihm alles sagen.«

»Ihm – Heckes?«

Der andere nickte nur mit finsterer Entschlossenheit und ging schon zur Tür. Da griff auch Schürmann zu seinem Hute.

»Dann komm' ich mit. Die Sache geht uns beide an.«

* * *

Eine düstere Stimmung lastete schwer auf dem Heckesschen Hause. In den Zimmern hinter den herabgelassenen Jalousien glitten stumm oder nur mit leisem Flüsterton die Bediensteten hin und her. Nur draußen, in den Wirtschaftsräumen und Ställen, wagte man freier zu atmen, tauschte man erregt seine Meinung aus.

Ein Unfall – wirklich nur ein Unfall?

Allerdings der junge Herr war ja zur Jagd hierhergekommen, und der Kammerdiener des Herrn hatte die Unglückswaffe, das Jagdgewehr, noch neben der Chaiselongue oben liegen sehen.

Aber trotzdem – man wollte nicht recht an diesen Zufall glauben. Ein dumpfes Gemunkel ging, zu dem jeder das Seine beitrug: Ungeheuere Spielverluste, die schließlich in die Millionen wuchsen, Ehrenschulden, Wechsel mit der gefälschten Unterschrift eines Freundes und dann wieder eine Liebesaffäre mit der Frau eines Kameraden, ein amerikanisches Duell – man wußte ja, wie diese jungen Herrn es trieben.

Aber trotzdem ein Bedauern: so jung und flott, und – schon ins Gras beißen müssen!

Und der Vater? Man dachte an ihn nur mit einem geheimen Frösteln. Keiner hatte auch nur das leiseste Anzeichen von Ergriffenheit an ihm gemerkt. Im Gegenteil, noch eisiger, noch unnahbarer als sonst hatte er sich denen gezeigt, die ihn heut zu Gesicht bekommen hatten. Was war das für ein Mann! Hatte der denn nicht einen Funken menschliches Gefühl mehr im Leibe? Den Ältesten hergeben müssen auf so schreckliche Weise, und trotzdem so völlig ungerührt! Die Sucht nach Geld, der Ehrgeiz mußten dem ja wirklich jedes andere Gefühl aus dem Herzen gesaugt haben. Und scheu, auf den Fußspitzen nur, schlich jeder an der Bibliothek vorüber, wohin er sich, nachdem der Arzt wieder weggefahren war, zurückgezogen hatte und für niemanden zu sprechen war.

Unaufhörlich schritt Magnus Heckes in dem weiten Raum auf und ab, in düsteres Grübeln verloren. Da war noch ein letztes zu erledigen – das Nachspiel der Tragödie.

Auf dem von Willibald hinterlassenen Zettel hatten nur ein paar, in Verzweiflung hingeworfene Zeilen gestanden, ein Abschiedsgruß und dann der Grund seines freiwilligen Hinscheidens: »Ich kann nicht länger mehr leben – mich hat die Hand eines Menschen berührt, den ich nicht vor meine Pistole fordern kann.«

Kein Name – aber auch das genügte ja. Wer anders konnte gemeint sein als Schürmann, der sich auf diese Weise seine Genugtuung verschafft hatte? Sah er nicht noch die drohende Miene des Mannes vor sich, wie er neulich nach der erregten Unterredung dies Haus verlassen hatte?

Kein Zweifel – er war es, der seinen Sohn in den Tod getrieben hatte!

Heckes' Fäuste ballten sich in auflodernder Leidenschaft. Ein Mann, der sein Brot aß, der ihm alles dankte, hatte ihm das angetan – ein blühendes Leben vernichtet, in einem Ausbruch törichter, sinnloser Wut!

Sinnlos – denn besserte er denn dadurch etwas an dem Los seiner Tochter? Im Gegenteil, nun hatte er sich auch noch seine Teilnahme und Hilfe verscherzt, die sonst sicher dem Mädchen wieder aufgeholfen hätte.

Aber was nun? Mußte er den Menschen, der ihm das zugefügt, nicht sofort wegjagen aus dem Bereich seiner Augen – der Anblick war doch für ihn unerträglich.

Ein wiederholtes Pochen an der Tür ließ ihn endlich aufhorchen. Trotz des Befehls, daß er für niemanden zu sprechen sei, meldete der Diener:

»Herr Betriebsführer Schürmann und Fahrsteiger Freukes!«

Schürmann! Und er kam noch zu ihm?

So heiß schoß der Grimm in Heckes auf, daß er zum Verwundern des Dieners sofort befahl:

»Lassen Sie den Betriebsführer zu mir!«

Was der andere wollte, war ihm unklar; aber er fragte danach auch im Moment nicht weiter. Auge in Auge wollte er mit dem einen Abrechnung halten, der allein ihn anging. Und in einer nie an ihm gekannten Erregung strichen seine Finger durch den Bart.

Nun war ihm der Betriebsführer hereingeführt worden, ohne ein Wort des Gegengrußes ließ er ihn nahe herantreten, nur seine Augen bohrten sich in die des andern.

Schweigend hielt Schürmann dem furchtbaren Blicke stand. Er verstand, was in dieser Stunde in dem Mann da vorging, den er in dreißig Jahren nur immer kalt wie Stein gesehen hatte. Es tat bitterweh, sein eigen Fleisch und Blut vernichtet zu sehen – nun hatte auch der da das kennen lernen müssen. All seine Macht und sein Reichtum hatten ihn davor nicht schützen können.

Und dies Bewußtsein löschte in Schürmanns Brust den Rest von Erbitterung, der noch von neulich zurückgeblieben war, als er auch so allein mit dem andern an dieser Stelle gestanden hatte. Jetzt hatte das Schicksal die Wage zwischen ihnen beiden gleichgestellt – er sah in jenen nur noch den tiefgetroffenen Vater, nicht anders als sich selber. Und mit schwerem Ernst sagte er:

»Ihr Sohn hat mir Böses getan, aber trotzdem –«

Ein schneidender Laut des Hohns.

»Auch noch Ihr Bedauern obenein – was?«

Das Antlitz des sonst so beherrschten Mannes war schrecklich anzusehen. Betroffen blickte Schürmann zu ihm hin und plötzlich begriff er.

»Was? Sie glauben, ich –?«

In Heckes' Augen lohte es auf.

»Wollen Sie es etwa auch noch leugnen?«

Da kehrte Schürmann die Ruhe wieder ganz zurück. Fest erklärte er dem Herrn, Auge in Auge:

»Sie irren, Herr Heckes. Nicht ich – jemand, der meiner Tochter nahestand, ist mir zuvorgekommen. Ich machte kein Hehl daraus, sonst möchte es wohl so gekommen sein, wie Sie glauben.«

»Wie – der da draußen?«

Schürmann nickte nur.

Hart stieß der schwere Sessel zu Boden, den Magnus Heckes mit beiden Händen gepackt hatte. Ein Dritter, ein ganz Unbeteiligter, hatte ihm den Sohn in den Tod gehetzt. Vor seinen Augen flimmerte es rot. Her mit ihm, daß –!

Aber sonderbar, mitten in diesem Aufbranden seines Schmerzes erschien ihm plötzlich das Bild Freukes, wie er ihn damals bei dem Brand auf dem Zechenplatz gesehen. Der Riese, der unermüdlich, der Wunden an seinen Händen nicht achtend, sich abmühte, der Flammen Herr zu werden – in seinem Interesse.

Da zogen sich Heckes' Brauen dicht zusammen, ein Kampf – und seine Hände gaben die Lehne des Sessels wieder frei.

Schürmann aber sagte:

»Fahrsteiger Freukes bittet Ihnen selber alles sagen zu dürfen.«

Doch Magnus Heckes hob die Hand,

»Nein!«

Er wollte sich das wenigstens ersparen.

Schürmann nickte langsam. Sein Auge ruhte auf den Herrn, wie dieser jetzt, für einen Moment vergessend, daß er ja nicht allein war, dastand – nicht mehr der Starre, Unnahbare, der Mann von Stahl und Eisen, nein, fast in sich zusammengesunken, ein Mensch wie andere auch, dem die Hand des Schicksals das stolze Haupt tief gebeugt hat.

Ein brennendes Gefühl von Wehmut stieg da in Schürmann hoch. Dreißig Jahre der Treue, voll hingebender Arbeit hatten ihn jenem Mann verbunden – nun war das alles vorbei, nun würde er sein Lebenswerk lassen und hinausgehen, irgendwohin in die weite Welt mit seinem unglücklichen Kinde. Und so sagte er nun – die Stimme zitterte ihm:

»Ich wollte dann nur noch um eines bitten, Herr Heckes: wenn Sie mich auf der Stelle meines Amtes entheben wollten. Auch Fahrsteiger Freukes bittet ein gleiches.«

Magnus Heckes sah auf. Er begriff. Es war ja kaum anders denkbar, auch für ihn – der Anblick dieser beiden war ein stetes Wiedererinnern an Dinge, die doch vergessen werden mußten. Schon wollte er zustimmen, aber da fuhr es ihm durch den Kopf: der Klatsch! Unfehlbar würde man die auffallende, plötzliche Entlassung ja in Zusammenhang bringen mit dem Tode des Sohnes, und so entschied er, nun wieder ganz unbeugsame Energie:

»Nein, Schürmann, noch nicht jetzt. In ein paar Monaten, dann mag es sein. Sagen Sie das auch – dem Freukes.«

»Herr Heckes!«

»Ich weiß alles, was Sie sagen wollen. Aber ganz gleich, Schürmann. Auch ich muß mich überwinden –« er blickte mit finsterer Stirn nach draußen hin, wo der Fahrsteiger weilte – »denken Sie daran, Sie sind es nicht allein.«

Aber als hätte er schon zu viel von seinem Innern gezeigt, nahm sein Ton plötzlich wieder den gewohnten Klang des Befehls an, der keinen Widerspruch kannte:

»Doch genug nun. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen und auch zu dem da draußen – sagen Sie ihm das! – daß Sie beide Ihre Schuldigkeit tun werden bis zur letzten Minute.«

»Dafür verbürge ich mich, Herr Heckes, wie für mich selbst!«

Und der Blick des alten Schürmann suchte den seines Herrn.

Der nickte nur stumm, dann eine entlassende Gebärde, und er war wieder allein.

* * *

Es war ein Bild düsteren Pomps, als sie Willibald Heckes in die Familiengruft zu Bistorp senkten. Kaum vermochte der kleine Dorffriedhof die Menge der Erschienenen zu fassen. Und doch, unter den vielen Hunderten, die da herbeigeeilt waren im Gewand der Trauer und kostbare Kranzspenden am Sarge niedergelegt hatten – wie wenig wirkliches Mitgefühl. Vielleicht nur bei den jungen Kameraden des so jäh aus froher Lebenslust Dahingerissenen, deren ernste Gesichter seltsam mit den glänzenden, bunten Uniformen kontrastierten. Aber bei den anderen im Grunde nur Schaulust, Neugier, Sensationsbedürfnis – man hatte ja doch allerlei munkeln hören. Die wenigsten glaubten an das versehentlich losgegangene Jagdgewehr.

Die Blicke der Trauergemeinde, die da jetzt um die offene Gruft stand, waren alle auf einen Punkt gerichtet – auf Magnus Heckes. Wie mochte es in ihm in dieser Stunde aussehen?

Aber, als wüßte er es, stand er ungebeugt und unbeweglich da, mit Zügen wie aus Erz gegossen, die Augen während der zur Demut mahnenden Worte des Geistlichen unverwandt auf das Kopfende des kostbaren Metallsarges geheftet, auf dem der Helm des Sohnes ruhte – wie wenn er darunter noch das Antlitz des Toten erblickte.

Und in der Volkesmenge, die sich rings um die Trauergemeinde drängte – es waren meist Heckessche Arbeiter und ihre Angehörigen – erhob sich ein leises, dumpfes Raunen.

»De steckt ok nu noch de Nierse in de Höh. De hed ja woll a' Steen in de Bost.«

»Lot den man. Hochmut kump vör den Fall. Den krigt se all in de Kiepe. De wed all kleen.«

»Na, dann mott dat all fustdick kommen. Dem sin Fell is to dick. Kik man, wu de den Kopp böhrt. Den pickt dat blos, dat he den Pfarrer nich ok gliks rut schmiten kann äs use enen, wenn wi em nich no de Müsse sind.«

Nun war der Trauerakt vorüber, dumpf rollten die Schollen in die Gruft hinab, in die sie den Sarg gesenkt hatten und zu den Hinterbliebenen traten die Trauergäste, um dem Vater und dem Bruder des Verstorbenen die Hand zu schütteln mit den üblichen, gedämpft gemurmelten Redensarten und den möglichst mitleidsvoll verzogenen Gesichtern.

Eine abstoßende Komödie! Volkmar, durch all die Vorkommnisse der letzten Tage an sich schon hochgradig reizbar geworden, überwand sich nur schwer, daß er den sich zu ihm Drängenden nicht mit einem bitteren Wort ins Gesicht hinein sagte, was er dachte.

Noch nie hatte er sich so innerlich einsam gefühlt wie in dieser Stunde. Selbst die schwer wuchtende Hand des Schicksals, die sich über ihn und die Seinen gelegt, hatte diese ihm nicht nähergebracht. So empfand er denn jetzt dieses Händedrücken und Wortetauschen mit hunderten, ihm ganz gleichgültigen Menschen nur als eine Qual, deren Ende er, abgespannt bis zum äußersten, herbeisehnte, und er sah kaum, wer sich da alles zu ihm drängte.

»Mein lieber Herr Heckes – mein aufrichtigstes Beileid, auch im Namen meiner Frau.«

Eine wohlbekannte Stimme – Volkmar sah auf: Bergrat Vermeren. Wie eine Wohltat war ihm das ehrliche Mitgefühl dieses Mannes, und nun stand auch schon, dem Vater folgend, Hedwig vor ihm. Wortlos streckte sie ihm die Rechte hin, aber ihr langer, pressender Druck und der Blick unter dem schwarzen Schleier her sagten ihm alles.

Da senkte sich sein Auge in das ihre. Wie schön, wie lieb sie heute aussah – so ernst, mit einem tief innerlichen Ausdruck in den Zügen. Und all die zurückgekämpfte Bewegung in ihm bebte jetzt in seiner Stimme, wie er halblaut sagte, nur die wenigen Worte:

»Dank – Dank, Fräulein Hedwig!«

Einen Moment umfaßten sich so ihre Blicke. Es war wie ein Sichfinden, ein Sichbewußtwerden der inneren Zusammengehörigkeit; aber dann machte sie sich sanft von ihm los.

»Kommen Sie zu uns – bald.«

Leise klang es noch zu ihm hin, und alsbald stand schon wieder ein anderer an ihrer Stelle – eine Larve mit dem konventionellen Trauergesicht.

Drüben bei Magnus Heckes dasselbe Bild. Aber mit vollendeter Haltung ließ er das Unvermeidliche über sich ergehen – ein leises, stummes Verneigen jedesmal, wie ein Fürst nahm Magnus Heckes die ihm dargebrachten Beileidsbezeugungen hin.

Seine Mienen blieben fest und unbeweglich, ganz kühle, starre Repräsentation. Nur einmal ein Unsicherwerden, ein Aufzucken im Auge – das war, als er plötzlich der gerade allein stehenden Dame drüben ansichtig wurde, die mit einem langen Blick zu ihm herübersah. Eleonore Vermeren, in tiefem Schwarz, das ihre blasse Schönheit nur noch blendender hervortreten ließ.

Was sah sie ihn so an? Wollte sie prüfen, ob sein eherner Stolz auch jetzt noch standhielt – ob ihn nicht in dieser Stunde heimlich nach einer Stütze, einem Trost verlangte?

Da ward Magnus Heckes' Miene wieder starr wie vordem, vielleicht noch einen Schein kälter, und das kurze Neigen seines Hauptes, mit dem er dem nächsten der Trauergäste dankte, hatte fast etwas Hochmütiges an sich.

* * *

»Ihr bloßer Anblick allein hat mir so wohl getan, Fräulein Hedwig. Sie ahnen nicht, wie ich neulich gelitten habe – noch nie in meinem Leben empfand ich es ja so deutlich wie in jener Stunde, daß ich in meiner Familie ein Fremder bin.«

Leise schwangen die Worte zu Hedwig Vermeren hin.

Ihr Auge ruhte still auf dem Redenden, der mit ihr im Garten in der Taxusnische saß, und wie sie so in das bleiche, durchgeistigte Gesicht blickte, da trat in ihren Blick etwas Zärtliches – Mütterlich-Liebevolles, und sanft legte sich ihre Hand auf seine Rechte.

Die Bewegung war für sie selbstverständlich, ganz natürlich gewesen. Aber er, dem sie galt, zuckte unter der leichten Berührung zusammen, und plötzlich, ehe sie – ganz erschrocken von dem unerwarteten Ausbruch seiner Empfindungen – es noch hindern konnte, hatte er sich über ihre Finger gebeugt, preßte er seine Lippen wieder und immer wieder darauf. Ein wortloses Gestehen dessen, was ihn im Innersten bewegte – ein banges Fragen und Bitten.

Hedwig verstand, und ihre Wange färbte sich um einen Schein blässer, aber sie entzog ihm ihre Hand nicht. Sie hätte es nicht über sich gebracht – fühlte sie doch, wie sich der innerlich Einsame zu ihr drängte.

So saß sie eine Weile still, mit ihren dunkeln Augen weich auf ihn herabschauend, dessen Kopf noch immer über ihre Hand geneigt war, dessen Lippen sie noch immer auf ihren Fingern fühlte. Und dann strich sie mit der freien anderen Hand ihm übers Haar – wie eine Mutter dem Kinde, das hilfesuchend das Haupt in ihren Schoß gebettet hat.

Da richtete er sich empor, und seine Blicke suchten die ihren in einem glückverklärten Aufleuchten.

»Hedwig – ist es denn wahr?«

Und er legte ihr den Arm um den Nacken, bog ihren Kopf sanft dem seinen näher.

Sie schloß die Augen; aber war es nicht wie ein leises Bejahen, Gewähren, was jetzt gleich einem Hauch über ihre Züge glitt?

Was brauchte es da der Worte? Und seines Glückes nun gewiß, neigte Volkmar sein Gesicht über das ihre – ihre Lippen, die ganze Gestalt in seinen Armen erbebte unter seinem ersten Kuß.

So ward Hedwig Vermeren sein.

Im Übermaß seines Empfindens achtete Volkmar nicht auf die leise Scheu, die, trotzdem sie sich seiner Zärtlichkeit nicht entzogen hatte, noch immer über ihrem Wesen schwebte; nicht auf die Unsicherheit ihres Blickes, der ihn bisweilen ganz plötzlich streifte, als könne sie es noch immer nicht glauben, daß das vorhin wirklich geschehen war – daß sie Volkmar Heckes mit jenem Augenblick ein Recht auf sich eingeräumt hatte.

Ganz still, als ob sie weitab war mit ihren Gedanken, hörte sie so zu, wie er nun sprach, seinerseits wie neu belebt, wie umgewandelt seit jenem Moment, wo sie sich ihm zu eigen gegeben hatte. Es war, als ob in dem Augenblick an ihm etwas abgefallen war, das seinem Wesen bisher Hemmungen angelegt hatte. Lebhaft, wie sie ihn nie gesehen, sprach er von der Zukunft, nun ihrer gemeinsamen Zukunft. Mit Rücksicht auf den Trauerfall mußten sie freilich ja ihr Geheimnis noch eine Zeitlang für sich behalten – aber dann wollte er sprechen, zu ihren Eltern, zu seinem Vater. Er wollte den Staatsdienst aufgeben, seinen Vater bitten, ihn jetzt schon sich in die Leitung eines seiner Werke einarbeiten zu lassen, damit er bald eine angemessene Stellung habe und sie heimführen könne.

Hedwig Vermeren nickte nur still zu allem; aber je sicherer er sprach, je greifbarer er die Zukunft gestaltete, desto schwerer legte sich ihr dies seltsame, dunkle Bangen ums Herz, das seit jenem entscheidenden Moment über sie gekommen war. Und endlich bat sie, es klang fast gepreßt:

»Geh jetzt, Volkmar – ich bitte dich, laß mich allein. Das alles kam so schnell –«

Sofort erhob er sich. Ihr leisester Wunsch war ihm ja ein Befehl, und so wollte er sich denn nur noch einmal zum Abschied über ihre Lippen beugen. Aber sie bot ihm, wie mit einer zufälligen Bewegung des Hauptes, nur die Stirn.

Er ehrte ihre Scheu, feinste Subtilität der Seele, die er voll zu verstehen glaubte, und er gelobte sich in diesem Augenblick, ihr überhaupt nie, niemals mit rücksichtslosen Manneswünschen zu kommen. Kein Pochen auf verbriefte Rechte! Es wäre ihm brutal erschienen.

Mit einem letzten Kuß auf ihre Hand schied Volkmar so von seiner Verlobten.

Hedwig Vermeren blickte ihm nach, bis er ihren Blicken im Gartengrün entschwand; dann hob ein tiefes Atmen ihre Brust und sie legte die Rechte über ihre Augen. So saß sie lange, ganz in ihre Gedanken verloren.

Nun war es geschehen – aber war es das Rechte gewesen?

Sie hatte Volkmar lieb, die Stunde neulich am Grabe hatte es sie erkennen lassen. Wie er da so in seiner Einsamkeit stand, da hätte sie zu ihm treten mögen und ihm sagen: Du bist doch nicht allein, hier – ich bin bei dir!

Und jetzt war es so gekommen, sie hatte sich ihm gegeben – aber dennoch diese dunkle Beklommenheit, fast eine Angst.

Ja, das war es: die Angst vor sich selber!

Das Schicksal ihrer Mutter, ihre mahnenden Worte, dieses so furchtbar ernste: »Belüge dich nie selbst, mein Kind!« – das alles stand ihr mit einem Male vor der Seele und da kam eben jene Angst über sie: Wenn du dich nun doch getäuscht hast! Wenn das, was du Volkmar für Liebe gabst, vielleicht doch nur etwas anderes ist – Mitleid?

Sie schauerte zusammen und begann zu grübeln. Gewiß, Mitleid war dabei; aber dennoch, sie liebte ihn doch auch – seine Güte, seine Zartheit, die Vornehmheit seiner Gesinnung.

Mit Eifer bemühte sie sich, all das, was ihr sympathisch an ihm war, worin sie zusammenstimmten, hervorzuheben. Aber trotzdem klang da immer noch etwas bei ihr, tief drunten auf dem Grunde ihres Wesens, eine Stimme, die sie warnend fragte: Wird dir dies aber denn auch immer genug sein? Sind da nicht noch Saiten in deinem Innern, die er nicht mit anzuschlagen versteht?

Und plötzlich, ganz unvermittelt, mußte sie an jenen Ball denken, wo er zum erstenmal mit ihr getanzt hatte, wie da – wenn auch nur ganz flüchtig, nur für einen Moment – an ihm etwas aufgeblitzt war, was sie seltsam in seinen Bann gezogen hatte. Ja, das war es, was sie für gewöhnlich an ihm vergeblich suchte, was sie so gern als das Beherrschende an ihm gesehen hätte: die kraftbewußte, werbende Männlichkeit. Nicht bloß in der Liebe; nein immer, allen Menschen gegenüber, in seinem Berufsleben. Etwas von der Art seines Vaters, etwas Überragendes, ein klein wenig sogar Unnahbares, das der liebenden Frau nachher den Augenblick der Zartheit doppelt beseligend erscheinen ließ.

Wenn das einmal in seinem Wesen durchbräche, dann würde er ihr ganzes Glück werden – dann würde sie ihm gehören mit jeder Faser ihres Seins.

Noch aber hatte er sie sich nicht völlig errungen. Deutlich fühlte sie das, und darum dies dunkle Bangen: würde er ihr geben, was sie von ihm erhoffte? Von ihm allein hing alles ab.

Und Hedwig Vermeren sandte dem Fernen ihre Gedanken nach mit beschwörender Kraft. Wenn er doch ahnen möchte, was sie sich und ihm wünschte!

* * *

Direktor Voßmann hatte seine Besprechung mit Magnus Heckes beendet. Schon wieder aufgestanden, schob er das dicke Bündel von Akten und Briefen in die Ledertasche; doch nun erlaubte er sich noch einmal an eine Angelegenheit zu erinnern, die er gleich zu Beginn der Konferenz vor zwei Stunden vorgebracht hatte.

»Die Abordnung von Ellerscheid wartet drüben bei mir immer noch. Darf ich die Leute jetzt vielleicht –?«

Vorhin hatte Heckes die Sache mit einer Handbewegung zurückgestellt: »Das hat Zeit. Zunächst unsere Angelegenheiten.«

Jetzt, nach der nochmaligen Mahnung seines Direktors, stand er einen Augenblick überlegend.

»Was soll der Kram, Voßmann? Bin kein Freund von nutzlosen Redereien.«

»Die Leute sind doch aber einmal extra deswegen hergereist und warten nun schon so lange. Wenn Sie vielleicht doch, Herr Heckes – es würde sie doch sehr kränken, wenn sie überhaupt nicht einmal vorgelassen –«

Magnus Heckes zuckte die Achseln, dann entschied er sich.

»Na, dann her mit ihnen!«

Ein paar Minuten später stand die Abordnung von Ellerscheid vor dem Grubenherrn, der auch die in ihrem Heimatsort befindliche kleine Zeche besaß. Es waren ihrer drei, ein Vertreter der Bürgerschaft und zwei Deputierte des Arbeiterausschusses – Direktor Voßmann stellte sie kurz vor.

Mit sichtlicher Befangenheit blickten die Leute vor sich hin. Sahen sie sich doch zum erstenmal Auge in Auge mit dem Manne, von dem sie schon so viel gehört hatten, und dessen rücksichtsloses Machtwort jetzt auch mit einem Schlage ihre heimischen Verhältnisse in den Grundlagen erschüttert hatte.

Einen Moment blickte Magnus Heckes schweigend auf die drei. Es spielte dabei wie in leiser Ironie um seine glattrasierten Mundwinkel. Er war vor dem Schreibtisch sitzengeblieben und in den Sessel zurückgelehnt, betrachtete er sich so ruhig die Abordnung. Doch dann hob er fragend die Hand:

»Nun? – Wer ist denn der Sprecher von Ihnen?«

»Hier, Gemeinderat Hüsken.« Und einer der Arbeiter wies auf den Mann im grauen, würdigen Vollbart, der ein wenig vor den übrigen stand.

»Nun also, Herr Hüsken, was wünschen Sie von mir?«

Der Angeredete, der noch vorhin draußen im Wartezimmer des Direktors jedes Wort, das er sagen wollte, so genau gewußt, aber nun hier, unter den durchdringenden und doch so kalten Blicken des Grubenherrn, unter diesem schweigenden Fixieren, ganz die Haltung zu verlieren drohte, nahm einen Anlauf.

»Wir sind hier erschienen als Vertreter der Bürgerschaft und Knappschaft von Ellerscheid.«

»Ich weiß.«

Die kurze Zwischenbemerkung brachte den Mann gleich wieder aus dem Text, er stockte. Da nahm der eine der Arbeiter für ihn das Wort:

»Et is wegen dat Stillegen vön de Zeche, Herr Heckes.«

»Jo,« – auch der andre bekam nun Mut – »wi hewwt dat hört, dat use Zeche mit Johrschluß stillegt wed. Un dann hewwt wi doch altohope kine Arbet un kin Verdienst mähr in Ellerscheid. Wi lewt doch ale vön de Zeche, ok wat de Börgers sind, dat wör 'n to groten Schaden för use ganze Gemeinde un vorher willt wi Ehr bitten, Här Heckes, of Ji Ju dat nich noch enmol öwerlegen woll'n mit dat Stillegen vön de Zeche.«

Magnus Heckes, der während dieser langsam und bedächtig vorgebrachten Worte mit dem Brieföffner in seiner Hand gespielt hatte, sah jetzt auf den Sprecher.

Es war ein Mann mit ehrlichen, biederen Zügen, ebenso sein Mitarbeiter. Und bei dem Blick in diese treuherzigen Gesichter unterdrückte er doch das spöttelnde Wort, das ihm die naive Zumutung des Mannes entlocken wollte. Die Belegschaft der Zeche Ellerscheid – sie war nur klein, etwa siebenhundert Mann – war ja nicht so ein bunt zusammengewürfeltes Völkergemisch wie auf seinen neuern großen Werken. Da unten an der Ruhr, bei den kleinen Gruben, wo der Kohlenbergbau schon seit Jahrhunderten betrieben wurde, saß noch ein altes, eingebürgertes Bergmannsgeschlecht, alles Leute, die nebenbei noch ihren eigenen kleinen Landbesitz hatten.

Und so ruhte denn der Blick des Zechenherrn fast mit einem gewissen Wohlgefallen auf den beiden Leuten: ein anderes Arbeitermaterial als das unzuverlässige Volk aus aller Herren Länder, mit dem er hier notgedrungen sich behelfen mußte – diesen professionellen Zechenläufern, die alle paar Wochen wieder ihr Bündel schnürten, um wo anders ihr Glück zu versuchen. Da bildete sich kein richtig eingearbeiteter, alter Arbeiterstamm mehr heran, der die besonderen Verhältnisse der Grube kannte und an ihr hing.

Aber halt – da kam ihm ein Gedanke! Er sah sofort die Möglichkeit, aus dieser Situation für seine Werke doch noch einen Nutzen zu ziehen, und so erwiderte er denn dem Sprecher mit einer fast freundlichen Tonfärbung, die Direktor Voßmann alsbald aufhorchen ließ: Aha, wo wollte das hinaus? Er kannte Magnus Heckes. Wenn dieser Ton des Wohlwollens kam, wollte er etwas für sich herausschlagen, und gespannt hörte er auf seine Worte hin:

»Ja, mein lieber Mann, was Sie da von mir verlangen, das ist doch nicht so einfach, wie Sie denken. Warum glauben Sie denn, daß ich die Zeche stillegen will?«

»Jo, dat is woll vön wegen de schlechte Kultur« – er meinte Konjunktur – »de Zeche rentert sik nich mähr so gut äs se mott.«

Heckes nickte.

»So ist es. Die Grube ist nahezu abgebaut – der Gewinn aus der geringen Förderung steht in keinem Verhältnis mehr zu den hohen Betriebskosten. Da werden Sie also einsehen: die Zeche muß stillgelegt werden.«

»Jo – oder wo bliww wi dann?« Betroffen blickte der Mann dem Grubenherrn ins Gesicht »Vön use bettken Land alleen könn wi doch nich lewen.«

»Das will ich Ihnen gern glauben. Sie müssen sich eben eine andere Arbeitsgelegenheit suchen.«

»Jo, obers wo sallt wi da woll? Ellerscheid ligg doch to wit af vön de annern Zechen, un wi könnt ok nich weg vön use Heimat, weil wi dor use Grund un Boden hewwt.«

»Ganz recht, aber es gibt doch noch die Eisenbahn.«

Der Mann sah auf, er verstand nicht gleich.

Heckes aber fuhr in einem langsameren Ton fort, als käme ihm eben jetzt erst, allmählich ein Gedanke:

»Sehen Sie – ich lasse mir da Ihre Angelegenheit durch den Kopf gehen – ich möchte Ihnen helfen, Sie sind tüchtige Leute da drunten in Ellerscheid, ich weiß –« und plötzlich klopfte er mit dem Brieföffner auf den Tisch, als habe er nun gefunden, was er suchte – »wie wär's – ich habe da einen Gedanken – wenn Sie auf einem meiner anderen Werke, in Beckhövel auf Zeche Armin, in Arbeit träten?«

Es war eine erst im Aufschwung befindliche Grube, für die er einen tüchtigen Arbeiterstamm wohl gebrauchen konnte; man entließ eben einfach ein paar Hundert von jenen unsicheren Kantonisten, die doch vielleicht beim nächsten Lohntag von selber ihre Abkehr gefordert hätten.

»Zeche Armin! Jo – obers, dat is doch woll mähr äs ne Stunde mit de Bahn no Beckhövel, un mit den Zügen dor kloppt dat nich. Dor geht noch keener so früh, dat wi to Tid kommen könnt för de Morgenschicht.«

»Das ließe sich alles regeln mit der Bahnverwaltung. Man legt einfach Arbeiterzüge ein, die Sie rechtzeitig zur Arbeit und wieder heimbringen; also überlegt euch die Sache mal, Leute. Ihr hättet da euern guten Verdienst nach wie vor, andernfalls –« er zuckte die Achseln – »kann ich euch nicht helfen. Es bleibt dabei: Zeche Ellerscheid wird stillgelegt.«

Und Magnus Heckes erhob sich, ein Zeichen, daß die Unterredung ihr Ende hatte. Doch die Leute standen noch unschlüssig; solche Sache wollte doch erst lange erwogen und genugsam durchgesprochen sein, daheim. Nur der dritte, Hüsken, der Vertreter der Bürgerschaft Ellerscheids, nahm jetzt das Wort. Er hatte sich inzwischen wieder gesammelt, und die fest abgegebene Erklärung des Werkbesitzers jetzt zum Schluß öffnete ihm den Mund. Es handelte sich ja hier um die Lebensinteressen der Gewerbetreibenden, um die ganze Zukunft des Orts.

»Herr Heckes, ist das wirklich Ihr letztes Wort?«

Beunruhigt sah der alte Mann zu dem Grubenherrn hin. Aber kühl kam nun die Gegenfrage:

»Glauben Sie, ich sagte so etwas zum Spaß?«

Da faßte sich der Vertreter der Gemeinde ein Herz.

»Herr Heckes, was Sie Ihren Arbeitern da eben gesagt haben, das ist wohl schön und gut für die. Sie mögen auf diese Art entschädigt werden. Aber wo bleibt unsere Gemeinde, die doch große Aufwendungen gemacht hat für die Arbeiterschaft Ihrer Zeche, die Schulen und Straßen gebaut hat, wenn plötzlich nun die Gewerbesteuererträgnisse aus der Zeche fortfallen? Das reißt ein Loch in unser ganzes Budget! Und wo bleiben wir, wir Bürgersleute selber, wir Handels- und Gewerbetreibende? Selbst wenn die ansässigen Arbeiter im Ort bei uns bleiben, aber all die Beamten mit ihren Familien und, was die Hauptsache ist, die ledigen Arbeiter, die jungen Leute? Die sind doch nicht an den Ort gebunden, die wollen's also bequemer haben und sich die Bahnfahrt sparen. Die werden alle nach Beckhövel fortziehen und wir haben den Schaden davon, wir Bürger, die wir Wohnungen gebaut haben für diese Leute, die wir in unseren Geschäften mit ihnen gerechnet haben – unsere ganze Existenz ist bedroht mit diesem Schlage!«

Magnus Heckes' Züge hatten wieder ganz ihre Unnahbarkeit angenommen. So sah er jetzt kühl auf den Vertreter:

»Was sind Sie in Ihrem Privatberuf, Herr Hüsken?«

»Kaufmann, Herr Heckes.«

»Gut – so werden wir uns schnell verständigen. Also, was würden Sie dem sagen, mein lieber Herr, der Ihnen zumutete, ein Geschäft zu machen, bei dem statt Gewinn nur Schaden für Sie herausspränge?«

»Ja, Herr Heckes, das –«

»Ist genau dasselbe. Ich bin auch Kaufmann, so gut wie Sie.«

»Herr Heckes, da ist doch kein Vergleich: Sie und unsereines! Was verschlägt es Ihnen, wenn Sie auch einmal ein Jahr oder zwei aus einem Ihrer Werke keinen Nutzen ziehen? Das bringen Sie an anderer Stelle dreifach wieder ein. Aber wir, die wir nichts andres haben als unsere eine bescheidene Existenzquelle –«

»Mein lieber Herr, ich habe, wie Sie ganz richtig bemerken, viele Unternehmungen in meiner Hand, und Sie dürfen mir es ruhig glauben: mit Wünschen wie Sie heute, treten beinahe tagtäglich Leute an mich heran, die mir sagen: auf das eine Mal kann es Ihnen doch nicht ankommen! Wenn ich da jedesmal draufhören wollte, wäre ich selber bald am Ende mit meinen eigenen Existenzquellen.«

Es klang deutlich aus den Worten heraus, daß die Sache damit für Magnus Heckes erledigt war, aber der alte Mann machte noch einen letzten Versuch.

»Herr Heckes, ich habe selber zwei Söhne, die beide auf unserer Zeche tätig waren als Ihre treuen, pflichteifrigen Beamten –«

»Das gehört nicht hierher.« Scharf schnitt ihm Heckes das Wort ab. »Wir sind nicht hier, um uns über Familienangelegenheiten zu unterhalten. Übrigens die Zeit, die ich für Sie hatte, ist nun herum.«

Und er wandte sich kurz ab.

Wortlos geleitete Direktor Voßmann die drei wieder hinaus; auch sie sagten nichts mehr.

* * *


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