Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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16

Ich fahre mit meinem Herrn im Boot durch die Straßen der Messestadt, zwischen massiven Ladenbauten hindurch, die bis zum ersten Stock vom Hochwasser überschwemmt sind. Ich rudere; er sitzt am Heck und steuert ungeschickt, das Steuerruder zu tief im Wasser; das Boot schlingert unbeholfen hin und her und wendet sich auf den stillen, in trübes Nachdenken versunkenen Fluten aus einer Straße in die andere.

»Hach, das Wasser steht in diesem Jahr aber ziemlich hoch, hol's der Teufel! Das wird die Arbeiten aufhalten«, brummt mein Brotherr und schmaucht gemächlich seine Zigarre; sie riecht nach angesengtem Tuch.

»Langsam!« ruft er erschrocken aus. »Wir fahren gegen eine Laterne!«

Es gelingt ihm, das Boot in die Gewalt zu bekommen; er schimpft: »Was die uns aber auch für ein Boot angedreht haben, die Schurken!«

Er zeigt mir die Stellen, wo nach dem Absinken des Hochwassers die Arbeiten an den Läden beginnen sollen. Glattrasiert, mit frisch gestutztem Schnurrbart, eine Zigarre im Mund, sieht er keineswegs wie ein kleiner Bauunternehmer aus. Er trägt eine Lederjacke, bis an die Knie reichende Stiefel und, über die Schulter gehängt, eine Jagdtasche; zu seinen Füßen liegt eine teure Doppellaufflinte. Alle Augenblicke schiebt er die Ledermütze zurecht; er zerrt sie auf die Augen hinunter, verzieht finster die Lippen und blickt sich besorgt um; oder er schiebt sie in den Nacken, erscheint plötzlich verjüngt und lacht sich eins in seinen Schnurrbart – offenbar denkt er an etwas Angenehmes. Es fällt mir schwer, zu glauben, daß er viel Arbeit hat, daß ihn das langsame Zurückgehen des Wasserspiegels beunruhigt – er treibt auf einer Woge privater Angelegenheiten dahin.

Mich bedrückt ein stilles Erstaunen; diese tote Stadt mit den geraden Zeilen der Häuser und den geschlossenen Fenstern, eine Stadt, die völlig überflutet ist und an unserem Boot vorüberzutreiben scheint, ist sonderbar anzuschauen.

Der Himmel ist grau. Die Sonne hat sich in Wolken verirrt und lugt nur hier und da winterlich als großer, silbriger Fleck aus ihnen hervor.

Auch das Wasser ist grau und kalt; eine Strömung ist nicht zu erkennen; es scheint stillzustehen, zugleich mit den leeren Häusern und schmutziggelb gestrichenen Ladenreihen dahinzuschlummern. Wenn die weißliche Sonne aus dem Gewölk hervorlugt, hellt sich alles ringsum ein wenig auf, und das Wasser spiegelt das graue Himmelsgewebe wider – unser Boot hängt zwischen zwei Himmeln in der Luft; auch die steinernen Häuser lichten die Anker und treiben kaum merkbar auf die Wolga oder Oka zu. Schadhafte Fässer, Kisten und Körbe, allerlei Spanholz und Stroh wogt um das Boot herum, gelegentlich gleitet wie eine tote Schlange auch eine Stange oder ein Balken an ihm vorbei.

Da und dort stehen die Fenster offen, auf den Dächern über den Galerien trocknet Wäsche oder ragen Filzstiefel in die Luft; eine Frau blickt aus dem Fenster auf das graue Wasser, am Kapitell einer eisernen Säule ist ein Boot festgemacht, satt und fleischfarben spiegeln sich seine roten Bordwände.

Mein Brotherr nickt mit dem Kopf zu diesen Lebenszeichen hinüber und erläutert: »Hier wohnt der Messewächter. Er klettert gelegentlich durch das Fenster aufs Dach, steigt ins Boot und sieht nach, ob irgendwo Diebe sind. Sind keine da, dann stiehlt er selber . . .«

Er spricht träge und gelassen und denkt dabei an anderes. Ringsum ist es still und einsam und unwahrscheinlich wie im Traum. Wolga und Oka sind zu einem riesigen See zusammengeflossen; bunt prangt in der Ferne auf ihrer malerischen Anhöhe die Stadt, überall voller Gärten, die noch dunkel sind, doch die Knospen an den Bäumen schwellen schon, und die Gärten hüllen Häuser und Kirchen in einen warmen grünlichen Pelz. Dumpf zieht über dem Wasser das österliche Glockenläuten dahin, man hört, wie die Stadt summt, während es hier wie auf einem vergessenen Friedhof ist.

Unser Boot dreht sich zwischen zwei schwarzen Baumreihen hin und her, wir fahren durch die Glawnaja linija zur alten Kathedrale. Die Zigarre macht meinem Prinzipal zu schaffen, ihr Rauch beißt ihm in die Augen; das Boot stößt mit dem Bug oder der Bordwand immerfort gegen einen Baum; der Herr ist gereizt und wundert sich: »So ein unmögliches Boot!«

»Steuern Sie lieber nicht!«

»Das geht doch nicht!« brummt er. »Wenn zwei im Boot sind, dann rudert der eine, und der andere steuert. Da, schau her – die Kitaiskije rjady . . .«

Ich kenne die Messestadt seit langem wie meine Westentasche; auch diese komische Ladenstraße mit ihren unsinnigen Dächern, an deren Ecken mit gekreuzten Beinen gipserne Chinesen sitzen, ist mir vertraut; einst haben meine Kameraden und ich mit Steinen nach ihnen geworfen, und auch ich habe bisweilen einem Chinesen Kopf oder Arme abgeschlagen. Aber ich bin nicht mehr stolz darauf . . .

»Unfug«, sagt mein Chef und zeigt auf die Läden. »Wenn man mich das bauen ließe . . .«

Und er pfeift vor sich hin und schiebt die Mütze in den Nacken.

Mir will aus irgendeinem Grunde scheinen, er würde diese steinerne Stadt ebenso langweilig und an derselben tiefen Stelle erbauen, die Jahr für Jahr vom Hochwasser zweier Flüsse überschwemmt wird. Auch auf solche »Chinesenläden« würde er verfallen . . .

Er wirft den Zigarrenstummel über Bord, spuckt angewidert aus und sagt: »Langweilig ist es, Peschkow, langweilig! Gebildete Menschen gibt es nicht, niemand, mit dem man reden könnte. Da möchte man ein bißchen großtun aber vor wem? Kein Mensch da. Nur Zimmerleute, Maurer, Bauern, Gaunerpack . . .«

Er blickt nach rechts auf eine weiße Moschee, die sich auf einem Hügel malerisch über dem Wasser erhebt, und fährt fort, als riefe er sich Vergessenes ins Gedächtnis zurück: »Ich trinke jetzt Bier, rauche Zigarren, lebe wie ein Deutscher. Die Deutschen, mein Lieber, sind tüchtige Leute, die Bestien von Hühnern! Bier trinken ist eine angenehme Beschäftigung, an die Zigarren dagegen habe ich mich noch nicht gewöhnt. Hat man eine geraucht, dann knurrt die Frau: ›Wonach du nur wieder riechst, es ist ja, als hätte man mit einem Sattler zu tun!‹ Nun ja, mein Freund, man lebt, man tut, was man kann . . . Los, jetzt steuer mal selber . . .«

Er legt das Ruder hin, greift zum Gewehr und schießt auf einen der Chinesen auf dem Dach – der Chinese nimmt keinen Schaden, der Schrot prasselt nur gegen Dach und Wand und wirbelt kleine Staubwölkchen auf.

»Danebengegangen«, stellt ohne Bedauern der Schütze fest und legt eine neue Patrone ein.

»Wie steht es bei dir mit den Mädchen – hast du schon von den Fleischtöpfen genascht? Nein? Ich war mit dreizehn Jahren schon verliebt . . .«

Er erzählt, als handelte es sich um einen Traum, von seiner ersten Liebe, der Liebe zum Stubenmädchen eines Architekten, bei dem er als Lehrling lebte. Leise plätschernd umspielt das graue Wasser die Gebäudeecken, hinter der Kathedrale blinkt matt die Wasserwüste, hier und da ragen schwarze Weidengerten aus ihr hervor.

In der Ikonenwerkstatt wurde öfter ein Seminaristenlied gesungen:

Meer, so tiefblau,
Meer, wild und rauh . . .

Muß wohl zum Sterben langweilig sein, dieses tiefblaue Meer.

»Ich fand nächtelang keinen Schlaf«, sagte der Herr. »Da springe ich manchmal aus dem Bett, stehe vor ihrer Tür und zittere wie ein kleiner Hund – es war kalt im Hause! Gelegentlich besuchte sie nachts der Hausherr, er hätte mich erwischen können, aber ich hatte keine Angst, o nein . . .«

Er spricht nachdenklich, als sähe er sich ein altes, abgetragenes Kleidungsstück an – ob man es wohl noch einmal anziehen könne?

»Sie bemerkte mich, ich tat ihr leid, sie öffnete mir ihre Tür und rief: ›So komm schon, kleiner Dummkopf.‹«

Ich hatte genug solche Geschichten gehört, sie langweilten mich, obwohl es auch einen versöhnenden Zug an ihnen gab – von ihrer ersten »Liebe« erzählten alle Menschen ohne Prahlerei und ohne häßliche Redensarten, ja häufig so zart, mit so viel Wehmut, daß ich verstand – es war das Schönste in ihrem Leben gewesen. Im Leben vieler vielleicht sogar das einzig Schöne.

Der Prinzipal schüttelt lachend den Kopf und ruft verwundert aus: »Seiner Frau kann man so etwas nicht erzählen, unmöglich! Und was ist eigentlich schon dabei? Aber nein, man kann es nicht! Komisch . . .«

Er sagte es weniger zu mir als zu sich selbst. Würde er schweigen, dann müßte ich sprechen; in dieser Stille, dieser Verlassenheit muß man unbedingt reden, singen, Harmonika spielen – sonst würde man in dieser toten, von kaltem grauem Wasser überschwemmten Stadt für immer in tiefen Schlaf versinken.

»Vor allem – heirate nicht zu früh!« rät er mir. »Die Heirat, mein Lieber, ist eine Sache von größter Wichtigkeit! Allein kannst du leben, wo und wie du willst! Ob du in Persien als Mohammedaner oder in Moskau als Schutzmann lebst, ob du darbst oder stiehlst – das läßt sich alles noch ändern! Eine Ehefrau aber, Verehrter, ist wie das Wetter, daran kannst du nichts ändern . . . nein! Das ist, kann ich dir sagen, kein Stiefel, den man abstreift und beiseite wirft . . .«

Sein Gesicht verwandelte sich, er starrte mit zusammengezogenen Brauen aufs graue Wasser, rieb sich die Hakennase und murmelte: »Ja, mein Freund . . . halte die Augen offen! Zugegeben – du biegst dich nach allen Seiten, richtest dich aber immer wieder auf . . . und trotzdem wartet auf jeden seine besondere Falle . . .«

Wir kommen ins Ufergestrüpp des Meschterskoje-Sees, der mit der Wolga zusammengeflossen ist.

»Langsamer«, flüstert der Prinzipal und richtet das Gewehr auf die Sträucher.

Er erlegt ein paar magere Schnepfen und befiehlt: »Jetzt fahren wir nach Kunawino! Dort bleibe ich bis zum Abend, du sagst zu Hause, ich hätte noch mit den Bauführern zu tun . . .«

Ich setze ihn in einer der Vorstadtstraßen ab – auch die Vorstadt ist vom Hochwasser heimgesucht – und kehre über das Messegelände zur »Strelka« zurück; ich lege an, bleibe im Boot sitzen und schaue mich nach dem Zusammenfluß der beiden Ströme, der Stadt, den Dampfern und dem Himmel um. Der Himmel, voll weißer Federwolken, erinnert an die prächtige Schwinge eines Riesenvogels. Aus den blauen Abgründen zwischen den Wolken lugt dann und wann die goldene Sonne hervor und verändert mit einem Blick auf die Erde alles, was auf ihr ist. Alles ringsum ist in munterer und zuversichtlicher Bewegung, die rasche Strömung des Flusses trägt spielend die endlosen Flöße; auf den Flößen stehen bärtige Männer, die unerschütterlich die langen Steuerruder drehen und einander oder einem entgegenkommenden Dampfer etwas zuschreien. Der kleine Dampfer zieht einen leeren Lastkahn stromauf hinter sich her, der Fluß drängt den Dampfer ab, treibt ihn bald da-, bald dorthin, er pendelt mit dem Bug hin und her wie ein Hecht mit der Schnauze, schnauft, stemmt sich mit seinen Rädern eigensinnig gegen das Wasser, das ihm entgegenschießt. Auf dem Lastkahn sitzen, die Beine über die Bordwand geschwungen, Schulter an Schulter vier Männer – einer von ihnen in rotem Hemd und singen ein Lied; Worte sind nicht herauszuhören, aber das Lied ist mir bekannt.

Mir scheint, daß mir hier, auf dem lebendigen Fluß, alles bekannt, alles vertraut, alles verständlich ist, während die überflutete Stadt hinter mir – nur einen bösen Traum, eine Erfindung meines Prinzipals darstellt, ebensowenig begreiflich wie er selbst.

Nachdem ich mich an allem satt gesehen habe, kehre ich nach Hause zurück – mit dem Gefühl, ein erwachsener Mensch und zu jeder beliebigen Arbeit brauchbar zu sein. Unterwegs blicke ich von der Höhe des Kreml auf die Wolga – aus der Ferne, von der Anhöhe aus gesehen, erscheint das Land vor mir riesengroß und verspricht alles zu gewähren, wonach mich verlangt.

Zu Hause erwarten mich die Bücher; in der Wohnung, die der Königin Margot gehörte, lebt jetzt eine große Familie – fünf Fräulein, eines immer hübscher als das andere, und zwei Gymnasiasten; von ihnen leihe ich mir die Bücher. Ich verschlinge gierig Turgenjew und wundere mich, wie einfach, verständlich und herbstlich-klar alles bei ihm ist, wie rein seine Menschen sind, wie gut und sanft alles bei ihm klingt.

Ich lese Pomjalowskijs »Skizzen aus dem Priesterseminar« und wundere mich auch hier – alles erinnert so sonderbar an das Leben in der Ikonenwerkstatt; die verzweifelte Langeweile, die in wilden Übermut umschlägt, ist mir zu gut bekannt.

Es tat wohl, russische Bücher zu lesen, ich fühlte immer etwas Vertrautes und Schwermütiges in ihnen, als sei, zwischen den Seiten verborgen, fastenzeitlicher Glockenklang erstarrt – kaum öffnete man das Buch, schwang er leise mit.

»Die toten Seelen« machten mir keine Freude; ebenso die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«; »Die toten Seelen«, »Totenhaus«, »Der Tod«, »Drei Tode«, »Die lebende Reliquie« – diese Einförmigkeit der Titel zog unwillkürlich meine Aufmerksamkeit an und erregte einen undeutlichen Widerwillen gegen solche Bücher. Auch das »Zeichen der Zeit«, »Schritt für Schritt«, »Was tun?« und die »Chronik des Kirchdorfes Smurino« gefielen mir nicht – wie alle Bücher dieser Art.

Sehr gern mochte ich dagegen Dickens und Walter Scott; diese Autoren las ich mit größtem Genuß, jedes Buch, gleich zwei- oder dreimal. Walter Scotts Bücher erinnerten mich an ein festliches Hochamt in einer reichen Kirche – sie waren ein wenig lang und langweilig, aber stets feierlich; Dickens ist für mich ein Schriftsteller geblieben, vor dem ich mich in Ehrfurcht neige – er hat die schwierige Kunst der Liebe zu den Menschen bemerkenswert gemeistert.

An den Abenden kam auf der Außentreppe vor dem Haus eine größere Gesellschaft zusammen – die Brüder K. und ihre Schwestern, verschiedene Halbwüchsige; so der stupsnäsige Gymnasiast Wjatscheslaw Semaschko; manchmal stellte sich auch Fräulein Ptizyna ein, die Tochter eines hohen Beamten. Man sprach über Bücher, über Verse – das war auch mir verständlich und vertraut; ich hatte mehr als sie alle gelesen. Aber noch öfter erzählten sie sich vom Gymnasium und beklagten sich über die Lehrer; wenn ich ihre Erzählungen hörte, fühlte ich mich freier als sie; ich wunderte mich sehr über ihre Geduld; beneidete sie aber dennoch, weil sie lernten!

Meine Gefährten waren älter als ich, ich kam mir jedoch erwachsener, reifer, erfahrener vor; das bereitete mir eine gewisse Verlegenheit – ich hätte mich ihnen gern näher gefühlt. Ich kam spätabends nach Hause, verschmutzt und staubig, gesättigt mit Eindrücken anderer Art, als es ihre, im Grunde sehr eintönigen, waren. Sie redeten viel von allerlei Fräulein, verliebten sich bald in das, bald in jenes und versuchten Verse zu machen; in dieser Angelegenheit brauchten sie nicht selten meine Hilfe, ich übte mich gern im Dichten und fand auch leicht die Reime, nur wurden meine Verse aus irgendeinem Grund stets humoristisch; Fräulein Ptizyna zum Beispiel, an die die Gedichte am häufigsten gerichtet waren, verglich ich unweigerlich mit irgendeinem Gemüse – etwa mit einer Zwiebel.

Semaschko meinte: »Das sollen Verse sein? Das sind doch Schusterstifte!«

Bestrebt, in keiner Weise hinter ihnen zurückzubleiben, verliebte ich mich ebenfalls in Fräulein Ptizyna. Ich weiß nicht mehr, wie sich das bei mir äußerte, jedenfalls nahm es ein schlimmes Ende. Auf dem fauliggrünen Wasser des Swjosdin-Teiches schwamm eine dicke Bohle, und ich schlug dem Fräulein vor, mit mir darauf spazierenzufahren. Sie willigte ein, ich holte die Bohle ans Ufer und pflanzte mich auf ihr auf – sie trug mich gut, solange ich allein war. Als sich jedoch das prächtig gekleidete, in Spitzen und Bänder gehüllte Fräulein graziös aufs andere Ende stellte und ich voller Stolz mit einer Stange vom Ufer abstieß, rollte die verdammte Bohle unter uns fort, und das Fräulein versank im Teich. Ich sprang ihr ritterlich nach und zog sie rasch an Land – der Schreck und der grüne Schlamm im Teich hatten die Schönheit meiner Dame vernichtet.

Sie drohte mir mit der nassen kleinen Faust und rief: »Du hast mich absichtlich hineingeworfen!«

Und ohne meinen Beteuerungen zu glauben, verhielt sie sich von da an feindselig gegen mich.

Im ganzen verlief mein Leben in der Stadt nicht übermäßig interessant; die alte Hausherrin behandelte mich wie früher mit Mißgunst; die junge sah mich argwöhnisch an; Wiktoruschka, der noch mehr Sommersprossen bekommen hatte, fauchte, ewig gekränkt, alle an.

Der Hausherr hatte viel Zeichenarbeit; da er und sein Bruder sie zu zweit nicht mehr schafften, holte er sich meinen Stiefvater als Gehilfen.

Ich kam eines Tages früher, schon gegen fünf Uhr, vom Messegelände, betrat das Speisezimmer und erblickte am Teetisch neben dem Hausherrn den Mann, den ich schon völlig vergessen hatte. Er streckte mir die Hand entgegen.

»Guten Tag . . .«

Ich war sprachlos vor Überraschung – sofort flammte, das Herz versengend, lichterloh die Vergangenheit vor mir auf.

»Er ist ja geradezu erschrocken«, rief der Hausherr aus.

Der Stiefvater blickte mich mit einem Lächeln auf dem beängstigend mageren Gesicht an; seine dunklen Augen waren noch größer geworden, er war völlig abgeschabt und zerknittert. Ich steckte meine Hand zwischen seine dünnen und heißen Finger.

»So sind wir uns also aufs neue begegnet«, sagte er hüstelnd.

Ich ging davon wie ein Geprügelter, ich fühlte mich ganz schwach.

Zwischen uns bildeten sich ein wenig vorsichtige und unklare Beziehungen heraus – er nannte mich mit Vor- und Vatersnamen und sprach mit mir wie mit einem Gleichgestellten.

»Wenn Sie einholen gehen, bringen Sie mir bitte ein Viertelpfund Laferme-Tabak, hundert Zigarettenhülsen Wiktorson und ein Pfund Kochwurst mit . . .«

Das Geld, das er mir gab, war immer unangenehm warm von seiner heißen Hand. Man sah, daß er schwindsüchtig war und nicht mehr lange Gast auf dieser Erde bleiben würde. Er wußte es und sagte, sein spitzes schwarzes Bärtchen zwirbelnd, mit ruhigem Baß: »Meine Krankheit ist fast unheilbar. Im übrigen kann man, wenn man viel Fleisch ißt, auch gesund werden. Vielleicht werde ich noch gesund.«

Er aß unglaublich viel; er aß und rauchte und ließ die Zigarette nur während des Essens aus dem Mund. Jeden Tag holte ich Wurst, Schinken und Ölsardinen für ihn ein, aber Großmutters Schwester meinte überzeugt und aus irgendeinem Grunde schadenfroh: »Der Tod läßt sich nicht abspeisen, den Tod betrügt man nicht!«

Meine Herrschaft behandelte den Stiefvater mit kränkender Aufmerksamkeit und riet ihm ständig, bald die, bald jene Arznei auszuprobieren, machte sich hinter seinem Rücken jedoch über ihn lustig.

»Der Edelmann! Die Brotkrumen, sagt er, müssen öfter vom Tisch gefegt werden, wo Brotkrumen sind, gibt es viel Fliegen«, spöttelte die junge Frau, und die Alte sekundierte ihr: »Ja doch, ein Edelmann! Der Rock ist schon ganz schäbig geworden und glänzt, aber er kratzt noch immer mit der Bürste auf ihm herum. Der Nörgler! Leidet kein Stäubchen!«

Der Hausherr versuchte sie zu trösten: »Wartet doch ab, ihr Hühnerbestien, er wird's nicht mehr lange machen!«

Diese sinnlose Feindseligkeit der Kleinbürger gegenüber dem Edelmann brachte mich dem Stiefvater näher. Auch der Fliegenpilz ist giftig, aber er ist wenigstens schön!

Mein Stiefvater, der unter diesen Leuten erstickte, erinnerte an einen Fisch, der zufällig in einen Hühnerstall geraten ist – ein unsinniger Vergleich, so unsinnig wie jenes ganze Leben.

Ich entdeckte nach und nach gewisse Züge von »Gar nicht übel« an ihm, einem Mann, den ich nicht vergessen konnte; ihn und die Königin Margot stattete ich mit allem Schönen aus, das mir die Bücher gaben, ihnen brachte ich das Reinste in mir dar, alle meine aus den Büchern geborenen Phantasien. Der Stiefvater war allen ebenso fremd, wurde von allen ebenso wenig geliebt wie »Gar nicht übel«. Er behandelte alle im Hause gleich, sprach niemanden als erster an und beantwortete alle Fragen ausgesucht höflich und kurz.

Sehr gut gefiel er mir, wenn er den Prinzipal begehrte; da stand er vornübergebeugt am Tisch, tippte mit seinem dürren Finger auf das dicke Papier und riet gelassen: »Hier muß man die Dachsparren durch einen Pflock zusammenbinden. Das wird den Druck gegen die Wände abfangen, sonst würden die Sparren die Wände auseinandertreiben.«

»Teufel auch, das stimmt!« murmelte der Prinzipal, während seine Frau, nachdem der Stiefvater gegangen war, zu ihm sagte: »Ich kann mich nur wundern, daß du dich von dem belehren läßt!«

Es verdroß sie aus irgendeinem Grund besonders, wenn der Stiefvater sich nach dem Abendessen die Zähne putzte und mit herausgewölbtem Adamsapfel gurgelte.

»Meiner Ansicht nach, Jewgenij Wassiljewitsch«, meinte sie süßsauer, »schadet es Ihnen, wenn Sie den Kopf so zurückbeugen!«

Er erkundigte sich mit einem höflichen Lächeln: »Aber weshalb denn?«

»Na ja . . . es schadet eben . . .«

Er reinigte mit einem beinernen Stäbchen die bläulichen Fingernägel.

»Was soll man dazu sagen? Reinigt auch noch die Fingernägel!« regte sich die Hausherrin auf. »Liegt fast im Sterben und reinigt sich die Fingernägel . . .«

»Hach, ihr!« seufzte der Hausherr. »Was habt ihr euch nur für einen Wanst von Dummheit zugelegt, ihr Hühnerbestien . . .«

»Was heißt denn das, was redest du da für Unsinn?« empörte sich die Ehegattin.

Die Alte aber ereiferte sich nachts vor Gott: »Herrgott, da hängen sie mir diesen fauligen Kerl an den Hals, und Wiktoruschka muß wieder zurückstehen . . .«

Wiktoruschka versuchte meinem Stiefvater nachzueifern und ahmte seinen langsamen Gang, die sicheren Bewegungen seiner herrschaftlichen Hände, seine Kunst, eine Krawatte zu binden und geschickt, ohne zu schmatzen, zu essen, nach. Alle Augenblicke erkundigte er sich grob: »Maximow, wie heißt auf französisch – das Knie?«

»Ich heiße Jewgenij Wassiljewitsch«, erinnerte gelassen mein Stiefvater.

»Schon gut! Und wie heißt – die Brust?«

Beim Abendessen kommandierte Wiktoruschka: »Ma mère, donnez-moi encore du Pökelfleisch!«

»Ach, mein kleiner Franzose«, entzückte sich die Alte.

Der Stiefvater kaute unerschütterlich – wie ein Taubstummer – sein Fleisch, ohne jemanden anzusehen.

Eines Tages sagte der ältere Bruder zum jüngeren: »Wiktor, du müßtest dir jetzt, wo du Französisch sprichst, auch eine Geliebte zulegen . . .«

Es war, soweit ich mich erinnere, das einzige Mal, daß mein Stiefvater schweigend lächelte.

Die Hausherrin warf entrüstet den Löffel auf den Tisch und fuhr ihren Mann an: »Schämst du dich nicht, in meiner Gegenwart schmutzige Redensarten zu führen?«

Gelegentlich kam mein Stiefvater zu mir in den Hinterhausflur; ich schlief dort unter der Treppe, die zum Dachboden führte; auf dieser Treppe las ich an einem Fenster meine Bücher.

»Sie lesen?« fragte er und zog an seiner Zigarette; in seiner Brust schienen Feuerbrände zu zischen. »Was denn?«

Ich zeigte ihm das Buch.

»Ach«, sagte er nach einem Blick auf den Titel, »das habe ich, wenn ich nicht irre, schon gelesen. Rauchen Sie?«

Wir rauchten und blickten durchs Fenster hinaus auf den schmutzigen Hof; er meinte: »Wie schade, daß Sie nicht lernen können, Sie scheinen begabt zu sein . . .«

»Ich lerne doch – ich lese –, wie Sie sehen . . .«

»Das ist zuwenig, was not tut, ist die Schule, das System . . .«

Am liebsten hätte ich ihm entgegnet: Sie, mein Herr, haben doch alles gehabt, die Schule wie das System, aber was ist dabei herausgekommen?

Er schien jedoch meine Gedanken zu erraten und setzte hinzu: »Wenn man Charakter hat, gibt die Schule eine gute Erziehung. Nur sehr gebildete Menschen können das Leben voranbringen . . .«

Wiederholt riet er mir: »Sie sollten hier lieber fortgehen, ich sehe in alledem keinen Sinn, keinen Nutzen für Sie . . .«

»Die Arbeiter gefallen mir.«

»Ja so . . . Und warum?«

»Ich finde sie interessant.«

»Mag alles sein . . .«

Eines Tages sagte er: »Was ist doch unsere Herrschaft im Grunde für ein Lumpenpack . . .«

Ich mußte daran zurückdenken, wann und bei welcher Gelegenheit meine Mutter ein ähnliches Wort gebraucht hatte, und rückte unwillkürlich von ihm ab.

Er fragte lächelnd: »Sind Sie anderer Meinung?«

»Nein.«

»Nun ja . . . Das sehe ich doch.«

»Immerhin – der Hausherr gefällt mir . . .«

»Ja, er ist wohl ein guter Kerl . . . Aber komisch.«

Ich hätte gern über Bücher mit ihm gesprochen, aber er las offenbar nicht gern und riet mir mehr als einmal: »Lassen Sie sich nicht mitreißen, die Bücher bauschen alles sehr auf, verzerren es in der einen oder anderen Richtung. Die meisten von denen, die Bücher schreiben, sind Menschen wie unser Prinzipal – sie sind unbedeutend.«

Solche Urteile erschienen mir kühn und bestachen mich.

Eines Tages fragte er mich: »Haben Sie etwas von Gontscharow gelesen?«

»Ja, die ›Fregatte Pallas‹.«

»Die ist sehr langweilig. Sonst aber ist Gontscharow der klügste unter den russischen Schriftstellern. Ich rate Ihnen, seinen Roman ›Oblomow‹ zu lesen. Es ist sein wahrheitsgetreuestes und kühnstes Buch. Überhaupt das beste in der russischen Literatur . . .«

Von Dickens meinte er: »Das alles sind Dummheiten, glauben Sie mir! . . . Dagegen erscheint in der Beilage zur Zeitung ›Neue Zeit‹ eine sehr interessante Sache. ›Die Versuchung des heiligen Antonius‹, die müssen Sie lesen! Sie scheinen eine Vorliebe für die Kirche und alles Kirchliche zu haben? Da dürfte Ihnen die ›Versuchung‹ ganz nützlich sein . . .«

Er brachte mir eigenhändig den Packen Beilagen, und ich las Flauberts weises Werk; es erinnerte mich an zahllose Heiligenlegenden, auch an manches in den Geschichten, die mir der Bibelkundige erzählt hatte, machte aber keinen sehr tiefen Eindruck auf mich; bedeutend besser gefielen mir die in denselben Beilagen erschienenen »Memoiren des Tierbändigers Upilio Faimali«.

Als ich das meinem Stiefvater bekannte, bemerkte er ruhig: »Dann ist es für Sie noch zu früh, solche Sachen wie den Flaubert zu lesen! Aber vergessen Sie dieses Buch nicht . . .«

Manchmal saß er lange bei mir, ohne ein Wort zu reden, hüstelte nur und stieß ununterbrochen Rauchwölkchen aus. Seine schönen Augen hatten einen unheimlichen Glanz. Ich blickte ihn im stillen an und vergaß, daß dieser Mensch, der so ehrlich und einfach, ohne zu murren, starb, einst meiner Mutter nahegestanden und sie zu wiederholten Malen beleidigt hatte. Ich wußte, er lebte mit einer Näherin zusammen, und fragte mich befremdet und voller Mitleid, wieso sie sich nicht ekelte, dieses Knochengerüst zu umarmen und diesen Mund zu küssen, aus dem es dumpf nach Fäulnis roch.

Wie »Gar nicht übel« äußerte mein Stiefvater gelegentlich sehr eigenwillige Gedanken: »Ich liebe Jagdhunde; sie sind zwar dumm, aber ich liebe sie. Sie sind sehr schön. Auch schöne Frauen sind häufig dumm . . .«

Ich dachte nicht ohne Stolz: Du müßtest die Königin Margot kennen!

»Alle Menschen, die lange im selben Hause leben, bekommen gleiche Gesichter«, sagte er eines Tages; ich schrieb es mir in mein Heft.

Auf solche Aussprüche wartete ich wie auf eine Wohltat – es tat so gut, ungewöhnliche Wortverbindungen in einem Hause zu hören, in dem alle in einer farblosen, in abgenutzten, eintönigen Formen erstarrten Sprache redeten.

Der Stiefvater sprach nie von meiner Mutter zu mir, ich glaube sogar, er erwähnte kein einziges Mal ihren Namen; das gefiel mir sehr und weckte in mir ein Gefühl, das der Achtung nahekam.

Eines Tages fragte ich ihn etwas über Gott – ich kann mich nicht erinnern, was eigentlich; er sah mich an und gab sehr ruhig zur Antwort: »Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht an Gott.«

Mir fiel Sitanow ein, und ich erzählte von ihm, worauf mein Stiefvater, der mir aufmerksam zugehört hatte, mit immer der gleichen Gelassenheit bemerkte: »Er stellt Betrachtungen an, und wer Betrachtungen anstellt, glaubt immerhin an etwas . . . Ich glaube an nichts!«

»Kann man denn das?«

»Warum denn nicht? Sie sehen doch – ich glaube an nichts . . .«

Ich sah nur eins – er starb. Ich empfand kaum Mitleid mit ihm, aber ich spürte zum erstenmal ein heftiges, naturbedingtes Interesse für meinen sterbenden Nächsten, für das Geheimnis des Todes.

Da sitzt ein Mensch vor mir, berührt mich mit dem Knie, atmet, denkt; teilt die Menschen selbstsicher nach seinem Verhältnis zu ihnen ein; spricht von allem wie jemand, in dessen Macht es steht, zu richten oder freizusprechen – es ist etwas in ihm, das ich brauche, vielleicht auch nur etwas, das mich gegen Unnötiges abschirmt. Dieser Mensch ist ein Wesen von unvorstellbarer Kompliziertheit, Gefäß eines endlosen Wirbels von Gedanken; er stellt, ganz gleich, wie mein Verhältnis zu ihm ist, einen Teil meiner selbst dar, ist irgendwo in mir lebendig, ich denke an ihn, der Schatten seiner Seele fällt auf die meine. Morgen wird er verschwunden sein, ganz und gar, mit allem, was sich in seinem Kopf und Herzen verbirgt und das ich – wie mir scheint – von seinen schönen Augen ablesen kann. Wenn er verschwindet, reißt einer der lebendigen Fäden ab, die mich mit dieser Welt verbinden; was bleibt, ist die Erinnerung, doch sie ist gänzlich in mir, für immer abgegrenzt und unverrückbar. Das Lebendige aber, das, was sich wandelt, entschwindet . . .

Das sind nur Gedanken; hinter ihnen steht jenes in Worten nicht Auszudrückende, das sie gebiert und nährt und das beharrlich zwingt, in die Erscheinungen des Lebens einzudringen, von jeder dieser Erscheinungen Antwort verlangt – warum?

»Wissen Sie, ich glaube, ich werde bald bettlägerig«, sagte an einem regnerischen Tage der Stiefvater. »So eine dumme Schwäche! Man hat zu nichts mehr Lust . . .«

Am Tage darauf fegte er beim Abendtee die Brotkrumen besonders sorgfältig vom Tisch und von den Knien und wehrte gleichsam etwas Unsichtbares von sich ab; die alte Hausherrin, die ihn mißtrauisch beobachtete, flüsterte der Schwiegertochter zu: »Sieh, wie er sich säubert, wie er die Federchen putzt . . .«

Zwei Tage danach erschien er nicht zur Arbeit, später steckte mir die alte Hausfrau einen großen weißen Briefumschlag zu und sagte: »Hier, nimm, das hat schon gestern mittag ein Frauenzimmerchen überbracht, ich habe nur vergessen, es dir abzugeben. Nett, das Frauenzimmerchen, aber wie ihr euch nun verwandtschaftlich steht, das weiß ich wirklich nicht!«

Der Umschlag enthielt einen Briefbogen mit dem Aufdruck des Krankenhauses; auf dem Briefbogen stand in großer Schrift geschrieben: »Sollten Sie eine freie Stunde finden, dann kommen Sie, damit wir uns noch einmal sehen! Ich bin im Martynowskaja-Krankenhaus. J. M.«

Am folgenden Morgen saß ich auf dem Bett des Stiefvaters im Krankensaal; das Bett war für ihn zu kurz, und seine Füße, die in grauen, verrutschten Socken steckten, starrten zwischen den Stangen der Lehne hindurch in die Luft. Die schönen Augen irrten trüb über die gelben Wände und blieben gelegentlich an meinem Gesicht oder den kleinen Händen eines jungen Mädchens hängen, das auf dem Hocker neben dem Kopfende saß. Ihre Hände lagen auf dem Kissen, und der Stiefvater rieb seine Wange an ihnen; sein Mund stand offen. Das Mädchen war rundlich und trug ein glattes, dunkles Kleid; an ihrem ovalen Gesicht liefen langsam die Tränen hinunter; die nassen blauen Augen blickten, ohne sich loszureißen, dem Stiefvater ins Gesicht, auf seine spitzen Knochen, die große, schärfer gewordene Nase, den dunklen Mund.

»Man müßte einen Priester holen«, flüsterte sie, »aber er will nicht . . . er versteht nicht mehr . . .«

Und sie nahm ihre Hände vom Kissen und drückte sie an die Brust, als ob sie bete.

Der Stiefvater kam für einen Augenblick zu sich und sah zur Decke, ernst, mit zusammengezogenen Brauen, als rufe er sich etwas ins Gedächtnis zurück; dann schob er mir seine dürre Hand hin.

»Sie? Danke! Ich fühle mich . . . wie Sie sehen . . . gar nicht gut . . .«

Das erschöpfte ihn, und er schloß die Augen; ich streichelte seine langen kalten Finger mit den blauen Nägeln, während das Mädchen leise bat: »Bitte, Jewgenij Wassiljewitsch, willigen Sie doch ein!«

»Hier – machen Sie sich mit ihr bekannt«, sagte er und zeigte mit den Augen auf sie. »Ein lieber Mensch . . .«

Er verstummte, sein Mund öffnete sich immer mehr, und plötzlich schrie er auf, heiser wie ein Rabe; er wurde unruhig, zerrte an der Decke, fuhr mit den nackten Armen auf dem Bett hin und her; auch das Mädchen schrie auf und sank mit dem Kopf auf das zerdrückte Kissen.

Der Stiefvater war rasch gestorben; er starb und wurde sogleich schöner.

Ich führte das Mädchen aus dem Haus. Sie wankte wie eine Kranke und weinte. In ihrer Hand preßte sie ein Taschentuch; sie hielt es bald an das eine, bald an das andere Auge, drückte es immer fester zusammen und starrte es immerfort an, als sei es das Letzte, Kostbarste, das ihr geblieben war.

Plötzlich blieb sie stehen, schmiegte sich an mich und sagte mit vorwurfsvoller Stimme: »Nicht einmal bis zum Winter hat er es ausgehalten . . . Mein Gott, mein Gott, was soll denn das nur?«

Dann reichte sie mir die tränennasse Hand: »Leben Sie wohl! Er hat sehr gut von Ihnen gesprochen. Die Beerdigung ist morgen.«

»Soll ich Sie nach Hause begleiten?«

Sie blickte sich nach mir um.

»Weshalb denn? Es ist doch Tag, nicht Nacht!«

Ich sah ihr hinter der Ecke hervor nach – sie ging langsam davon wie ein Mensch, der sich nicht zu beeilen braucht.

Es war August, von den Bäumen fielen die ersten Blätter.

Ich fand keine Zeit, dem Stiefvater das Trauergeleit zu geben, und habe das Mädchen nie wieder gesehen.

 


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