Iwan Goll
Das Lächeln Voltaires
Iwan Goll

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An J. J. Rousseau

30. August 1755

Ich empfing ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht. Ich danke Ihnen. Sie werden den Menschen gefallen, denen Sie die Wahrheit sagen, bessern aber werden Sie sie nicht. Man kann kaum schärfer die Schandtaten des Menschen brandmarken, von denen sich doch unsere Unwissenheit und unsere Schwäche so viel versprechen. Nie ist mehr Geist dazu verspritzt worden, um aus uns Dummköpfe zu machen. Beim Lesen Ihres Werkes bekommt man Lust, auf Vieren zu gehen. Aber da ich diese Gewohnheit schon vor mehr als sechzig Jahren verlernt habe, kann ich mich leider nicht mehr dazu zurückfinden, und ich überlasse die Ehre dieser natürlichen Lebensweise denen, die ihrer würdiger sind als Sie und ich. Ich kann mich auch nicht mehr nach Kanada begeben, erstens, weil meine Krankheiten mich zwingen, in der Nähe des größten europäischen Arztes zu bleiben, und ich am Missouri wohl kaum derselben Pflege teilhaftig würde; zweitens, weil jetzt dort Krieg herrscht und das Beispiel unserer Nationen die Wilden fast ebenso bös gemacht hat, wie wir selber sind. So will ich denn ein geruhiger Wilder bleiben, einsam und nahe bei Ihrer Heimat, wo Sie selbst auch leben sollten.

Ich gebe Ihnen zu, daß die Schöne Literatur und die Wissenschaften oft viel Unheil angerichtet haben. 215 Tassos Feinde haben sein Leben arg vergiftet. Die des Galiläi warfen ihn mit siebzig Jahren ins Gefängnis, weil er die Erdbewegung erkannt hat, und was noch schlimmer ist: sie zwangen ihn, seinen Ausspruch zurückzunehmen. Und kaum hatten Ihre Freunde den Dictionnaire Encyclopédique begonnen, als man sie Deisten, Atheisten und gar Jansenisten schimpfte.

Wenn ich mich zu denen rechnen dürfte, deren Arbeiten nur mit Verfolgungen belohnt wurden, könnte ich Ihnen von Leuten erzählen, deren einziges Ziel es war, mich ins Verderben zu stürzen. Weil ich »Ödipus« übersetzt hatte, gab es eine ganze Bibliothek von Verleumdungen gegen mich. Ein früherer Jesuitenpater, den ich von der Todesstrafe errettet hatte, schrieb zum Dank dicke Schmähschriften gegen mich. Ein noch schamloserer Mensch ließ meine Geschichte Ludwigs XIV. mit falschen Anmerkungen drucken, in denen die rücksichtsloseste Dummheit mir die schändlichsten Heucheleien unterschiebt. Ein anderer verkauft unter meinem Namen eine falsche »Weltgeschichte« an einen Verleger, dieser ist geldgierig genug und druckt das von Fehlern, falschen Daten und Tatsachen und mißhandelten Eigennamen strotzende Buch; und dann kommen feige und böse Schächer, die mich für diese elende Rhapsodie auslachen.

Ich will nur auf diese von Schurken wimmelnde 216 Menschengesellschaft hinweisen, die die antike Welt nicht kannte, und heute, unfähig, einen ehrlichen Beruf, sei es als Handlanger, sei es als Lakai, auszufüllen, zu Literaturschiebern werden, von unseren Schriften sich ernähren, Manuskripte stehlen, entstellen und dann verkaufen. Ich könnte darauf hinweisen, daß Teile einer Satire, die ich vor dreißig Jahren schrieb, heute von diesem Gesindel mit Dummheit und schlechten Witzen ausstaffiert, unter meinem Namen herumkolportiert und als mein Werk verkauft werden. Andererseits stahl man mir einen Teil des Materials, das ich für meine Geschichte des Krieges von 1741 in öffentlichen Archiven gesammelt hatte, als ich noch Frankreichs Geschichtsschreiber war: dasselbe wurde einem Pariser Buchhändler verkauft. So bemächtigt man sich meines Guts, als wäre ich schon tot, und man entstellt es, um es dann zu versteigern. Soll ich Ihnen alle Beweise von Undank, Verleumdung und Erpressung vorhalten, mit denen man mich bis in die Alpen hinein und bis an mein Grab, seit vierzig Jahren schon, verfolgt?

Was aber soll ich aus alledem schließen? Daß ich nicht klagen darf, daß es Pope, Descartes, Bayle, Camoëns und hundert anderen genau so schlecht und noch schlimmer ergangen ist, und daß ein gleiches Schicksal fast alle jene erwartet, die sich den schönen Künsten ergeben. 217

Aber geben Sie zu, daß das alles kleine persönliche Übel sind, die die Welt kaum beachtet! Was geht es die Menschheit an, wenn ein paar Drohnen sich über den Honig der Bienen hermachen? Literaten machen ein großes Wesen daraus, die übrige Welt lacht darüber oder weiß überhaupt nichts davon.

Von allen Bitternissen des Menschenlebens sind das wohl die gelindesten. Die Dornen, die alles Schrifttum mit sich bringt, sind noch Blumen im Vergleich zu den übrigen Übeln dieser Welt. Weder Cicero, noch Varro, noch Lucrez, weder Virgil, noch Horaz hatten an den Ächtungen im alten Rom teil. Aber Marius war ein Dummkopf, Sulla ein Barbar, Antonius ein Schuft, Lepidus ein Trottel. Und jener Tyrann Octavius Cepias, den man so feigerweise Augustus genannt hat, war nichts als ein elender Mörder, solange ihn keine Geistesmenschen umgaben.

Petrarca und Boccaccio hatten an Italiens Kriegen keinen Teil. Marots Geplänkel hat die Bartholomäusnacht kaum hervorgerufen, der »Cid« war an den Revolten der Fronde nicht schuld. Alles große Unheil wurde von berühmten Dummköpfen vollbracht. Was diese Welt ewig in ein Jammertal verwandeln wird, ist die unersättliche Habgier und der unbeugsame Stolz der Menschen, von Kuli-Khan, der nicht lesen konnte, bis zum heutigen Zollbeamten, der nichts als rechnen kann. Die Kunst ernährt, heilt, tröstet die Seele; sie ist Ihnen 218 wohlgesinnt, während Sie gegen sie schreiben. Sie gleichen Achill, der gegen den Ruhm wetterte, oder Malebranche, der mit glänzender Phantasie gegen die Phantasie schrieb.

Wenn einer klagen soll, so bin ich es, da meine Kunst mir allezeit und allerorten nur Verfolgungen eingebracht hat. Dennoch muß man sie lieben, wie man die menschliche Gesellschaft lieben muß, wenn auch noch so viele böse Individuen einem das Leben versauern; wie man auch sein Vaterland lieben muß, wenn es auch noch so ungerecht gegen einen handelt; wie man dem höchsten Wesen liebend dienen muß, trotz Aberglauben und Fanatismus der andern.

Ich höre, daß es Ihnen gesundheitlich nicht gut geht: kommen Sie in Ihr Geburtsland zurück, kommen Sie in die Freiheit, trinken Sie mit mir die Milch unserer Kühe und weiden Sie auf unseren Hügeln. Glauben Sie an meine philosophische und menschliche Hochachtung.

V. 219

 

Potpourri

(Eine dadaistische Novelle.)

I.

Pfannkuche war Hanswursts Vater, zwar nicht sein eigener Vater, sondern nur sein geistiger Vater. Pfannkuches Vater, der ein Sohn Saint-Giles war, hieß Kröpfig, und dieser war ein Sohn des Dicken Aujust, und alle leiteten ihren Stammbaum vom Prinzen der Idioten und von der Kalbsmuttern ab: also berichtet der Autor des »Messe-Almanachs«! Herr Vollkommen, ein nicht weniger glaubenswürdiger Gewährsmann, hält den Tabarinus für Pfannkuches Vater und Wilhelmswanst für jenes Vater: immerhin auch er läßt den Stammbaum beim Prinzen der Idioten wurzeln. Aber wenn sich diese zwei Historiker widersprechen, so ist das gerade ein Beweis für die Richtigkeit der Sache, vor allem in den Augen des Paters Daniel, der sie mit unerreichbarem Scharfsinn miteinander verquickt und somit dem Pyrrhonismus in der Geschichtsschreiberei ein Ende macht. 220

II.

Wie ich gerade den ersten Paragraphen von Merry Hissings Tageheften in meinem Schreibzimmer beschloß, dessen Fenster auf die Rue Saint-Antoine gehen, sah ich unten die Gerichtsvollzieher beim Apotheker eindringen, um die Drogen und Grünspanpillen zu beschlagnahmen, welche die Jesuiten der Rue Saint-Antoine im Schleichhandel vertreiben. Herr Husson, mein Nachbar, ein ganz schlauer Kerl, kam eiligst zu mir herüber und sagte mir:

Lieber Freund, Sie lachen wohl über die gebrandmarkten Jesuiten und hören es mit Wohlgefallen, daß man sie eines Vatermords in Portugal und einer Revolte in Paraguay überführt hat. Der ganze Zorn der öffentlichen Meinung in Frankreich, der Haß und die vielen Sticheleien gegen diese, scheinen Ihnen zu gelindem Trost zu gereichen. Und doch, wenn sie nun unmöglich geworden sind, wie jeder gute Bürger es wünscht, was haben denn Sie davon? Dann kommen halt Jansenisten. Diese sind wilde Enthusiasten, sie haben stählerne Seelen und sind schlimmer als die Presbyterianer, die Karl I. vom Throne stießen. Bedenken Sie das eine: Fanatiker sind gefährlicher als Schufte. Einem vom Teufel Besessenen wird man nie mores lehren können, einem Schurken schon eher.

Wir disputierten lange, Herr Husson und ich. Endlich schloß ich: Trösten Sie sich, lieber Herr: 221 vielleicht bringen es dann die Jansenisten einmal so weit wie die Jesuiten.

III.

Als Pfannkuche merkte, daß Hanswurst von vorne wie von hinten bucklig sei, beschloß er, ihm das Lesen und Schreiben zu lehren. Im Lauf von zwei Jahren konnte Hanswurst schon leidlich lesen: aber eine Feder zu halten, war ihm nicht gegeben. Einer seiner Biographen behauptet, er habe eines Tages versucht, seinen Namen zu verewigen, aber niemand hätte ihn lesen können.

Pfannkuche war sehr arm. Seine Frau und er brachten es kaum zusammen, ihn zu ernähren, wie sollten sie ihn da ein Handwerk lernen lassen! Da sprach Hanswurst zu seinen Eltern:

»Lieber Vater und Mutter, ich habe einen Buckel und ein gutes Gedächtnis. Mit drei oder vier Freunden könnte ich ein Kasperletheater aufmachen und etliches Geld verdienen. Dafür waren die Menschen immer zu haben. Oft verliert man bei neuen Stücken, aber man kann auch sehr viel verdienen.« Herr und Frau Pfannkuche bewunderten ihres Sohnes Scharfsinn. Die Spieltruppe kam zustande und errichtete ihre Bude in einem kleinen Schweizerstädtchen, zwischen Appenzell und Mailand.

Es traf sich aber, daß Orvietans Jünger ihre Schwindelgeschäfte gerade in diesem Örtchen 222 betrieben. Sie merkten, daß die Hälfte ihrer Kunden lieber zu Kasperle ging, als ihnen ihre Rasierseifen und Brandwundsalben abzukaufen. Da zeigten sie Hanswurst beim Magistrat wegen schlechten Lebenswandels an. Die Anklage lautete dahin, daß er ein gefährlicher Säufer sei und einmal Bauern, die gerade zum Markt gingen, um Mispeln zu verkaufen, hundert Fußtritte in den Bauch gestampft habe. Ferner beschuldigte man ihn, einen Händler mit indischen Hähnen verunglimpft zu haben; endlich, daß er ein Zauberer sei.

Herr Vollkommen behauptet in seiner »Geschichte des modernen Theaters«, daß eine Kröte den Hanswurst verschluckt habe. Pater Daniel aber denkt oder spricht sich wenigstens ganz anders darüber aus. Was aus Pfannkuche wurde, weiß man nicht. Da er aber nur dessen vermeintlicher Vater war, hat der Geschichtsforscher es nicht für nötig gehalten, Weiteres über ihn zu berichten.

IV.

Der tote Herr Dumarsais behauptete, daß die Käuflichkeit der Ämter einer der gröbsten Mißbräuche sei. Welches Unglück für den Staat, sagte er, daß ein verdienstvoller, aber armer Mann nichts werden kann. Wieviel verkrachte Talente! Wieviel geehrte Dummköpfe! Welch eine schlimme Politik, der Jüngerschaft ein Ende gemacht zu haben. Herr 223 Dumarsais kämpfte mit solchen Worten, ohne es zu wissen, für sein eigenes Schicksal. Er lehrte kleinen Bengeln Latein, statt dem Staat große Dienste erweisen zu dürfen. Ich kenne Papierschwärzer, die eine Provinz hätten bereichern können, wenn ihnen das Amt nicht vor der Nase weg gestohlen worden wäre von den Reichen, die selber wieder sozusagen Ämtchen und »Würden« verkaufen.

V.

Es ist nicht lange her, da machte sich Ritter Roginante, ein Edelmann aus Ferrara, gen Amsterdam auf, um sich eine Sammlung flämischer Gemälde zuzulegen. Er handelte bei Herrn Vandergru um einen herrlichen Christus. »Wie kommt es überhaupt,« sagte er zum Batavier, »daß Sie bei sich einen Jesus bergen, obwohl Sie kein Christ sind! (Denn Sie sind doch Holländer!)« »Ich bin katholischer Christ,« erwiderte Vandergru und verkaufte sein Bild ziemlich teuer. »Sie glauben also, daß Jesus unser Gott ist?« fragte Roginante. »Gewiß,« sprach Vandergru.

Daneben hauste ein anderer Sammler, der Socinianer war: er verkaufte ihm eine Heilige Familie: »Wie denken Sie über das Kind?« fragte der Ferrarer. »Ich glaube, es war das vollkommenste Geschöpf auf dieser Erde.«

Dann kam der Käufer zu Moische Mansebo, der 224 keine Heiligen Familien, sondern nur schöne Landschaften hatte. Auf die Frage, warum er keine heiligen Bilder besäße, antwortete der Händler: »Weil wir diese Leute hassen.«

Roginante kam zu einem berühmten Anabaptisten, der die schönsten Kinder der Welt besaß. »In welcher Kirche sind sie getauft worden?« fragte der Fremde. »Pfui,« schrien die Kinder zusammen, »wir sind gar nicht getauft!«

Roginante hatte also kaum die Straße zur Hälfte durchschritten und schon ein Dutzend ganz entgegengesetzter Sekten angetroffen. Da sprach sein Reisebegleiter Sacrito zu ihm: »Fliehen wir, jetzt ist Börsenstunde. Nach alter Sitte werden sich die Leute da alle gegenseitig erschlagen, da sie verschiedener Meinungen sind. Der Pöbel wird uns morden, da wir päpstlich sind.«

Wie groß war da ihr Staunen, als sie alle die Bürger nun mit ihren Schreibern ruhig aus ihren Geschäften treten und sich gegenseitig höflichst begrüßen sahen, um zusammen zur Börse zu gehen. An jenem Tag gab es genau gerechnet dreiundfünfzig Religionen auf dem Platze, die Armenier und die Jansenisten mitgerechnet. Es wurden mehr als dreiundfünfzig Millionen umgesetzt: in friedlichster Weise. Der Ferrarer kehrte heim und fand dort mehr »Agnus dei« vor als Wechsel. 225

VI.

Von alledem sprach ich neulich mit Herrn de Bukasu, einem beseelten Hugenotten.

»Donner!« schrie er, »man behandelt uns hier wie die Türken!«

»Aber ihr seid doch ein bißchen Feind im Staat,« erwiderte ich.

»Feinde, wir treusten Diener des Königs!« »Ergeben wohl, und so sehr, daß ihr schon neun Bürgerkriege mitgemacht habt, den Cevennen-Mord nicht mitgerechnet.« »Ja, aber, wenn wir Bürgerkriege entfacht haben, kommt es nur daher, daß ihr auf den Plätzen uns öffentlich brietet. Auf die Dauer wird das einem zu heiß. Da hilft keine Engelsgeduld mehr! Wo ist ferner unsere Freiheit? Kaum, daß vier- oder fünftausend von uns sich auf einem Feld versammeln und vierstrophige Psalmen hersingen, schon fährt eine Dragonerschwadron drein und verjagt uns. Ist das ein Leben? Ist das Freiheit?«

Da beschwichtigte ich ihn: »Es gibt kein Land auf Erden, wo man ohne Erlaubnis des Herrschers Versammlungen halten darf: jeder Auflauf ist gesetzwidrig. Dienet Gott in eurer Weise im geheimen, aber erschreckt niemand durch euer Geheul, das ihr Musik nennt. Glaubt ihr wirklich, Gott sei so entzückt, wenn ihr seine Gebote auf die Weise: ›Puppchen, du bist mein Augenstern‹ schreit? Ist es gottgefällig, daß man kleiner Kinder Gehirn erdrückt? 226 Ist es menschlich? Und soll sich Gott wirklich von allen schlechten Versen und Arien anöden lassen?«

Da unterbrach mich Herr Bukasu und fragte, ob das Küchenlatein unserer Psalmen angenehmer zu hören sei. Gewiß nicht, antwortete ich, es fehlt sogar an Phantasie, wenn man Gott in schlechten Übersetzungen der überhaupt von unseren Erzfeinden verfaßten Gesänge lobt. Zur Messe sind wir doch alle Juden, wie wir auch alle in der Oper Heiden sind.

Was mich aber ärgert, ist der Umstand, daß die Metamorphosen von Ovid durch einen dämonischen Zufall viel besser geschrieben sind, als die jüdischen Psalmen: denn diese Berge von Zion, die Tempelmäuler, die wie Widder springenden Hügel und lauter solche langweilige Vergleiche sind der griechischen, lateinischen und französischen Literatur unterlegen. Mag auch der kleine Racine sich noch so wütig gebaren, er wird es seinem Vater nicht nehmen, daß er, was Dichtung betrifft, dem Verseschmied David überlegen war.

Letzten Endes führen wir hier die herrschende Religion. In England kann man sich auch nicht zusammenrotten. Warum sollte man in Frankreich freier sein!

VII.

So sprachen wir, als Jean-Jacques Rousseau eilenden Schrittes vorbeispaziert kam. »Wohin so schnell, Meister Jean-Jacques?« 227

»Ich fliehe, weil Herr Joly de Fleury in einer Klageschrift behauptet hat, daß ich gegen die Intoleranz und gegen die Existenz der christlichen Religion schreibe!«

»Er meinte wohl gegen ihre Daseinsberechtigung! Sie dürfen nicht wegen eines Wortes in Ärger entbrennen.«

»Ich brenne aber schon! Überall wird mein Buch eingeäschert. Und ich fliehe aus Paris, um nicht selber Feuer zu fangen.«

»Das würde ich noch in den Zeiten der Anna Dubourg und Michel Servet glauben, aber heutzutage ist man menschlicher. Was stand denn in dem Buch?«

»Ich erzog einen kleinen Jungen in vier BändenEmile.. Aber ich wußte, daß ich langweilen würde und wollte, um den Stoff zu beleben, ein paar Seiten über den Theismus hineinschmuggeln. Ich dachte, das würde gelingen, wenn ich nur einige Philosophen beschimpfte. Es kam anders.«

»Was ist denn Theismus?«

»Die Anbetung Gottes: bis auf weiteres.«

»Ist das Ihr ganzes Verbrechen? Aber warum greifen Sie die Philosophen an? Und wie sind Sie Theist geworden?«

»Ich bin Protestant und schnitt alles ab, was die Protestanten an der römischen Kirche auszusetzen 228 haben. Dann alles, was die übrigen Religionen am Protestantismus schlecht finden. So blieb mir der nackte Begriff: Gott übrig.«

VIII.

Hanswursts Gefährten waren zu ihrem natürlichen Zustand: zum Bettelstand zurückgekehrt, und begannen in Gemeinschaft mit anderen Landstreichern von Dorf zu Dorf zu wandern. So kamen sie bis zu einer Kleinstadt und wohnten in einer vierten Etage, wo sie Drogen zubereiteten, die einige Zeit lang ihren Lebensunterhalt einbrachten. Sie kurierten sogar den Windhund einer angesehenen Dame von der Galle. Die Nachbarn hielten das für ein Wunder, aber trotz ihres Fleißes gelang es der Truppe nicht, ein Vermögen einzuheimsen.

Sie klagten alle über ihr Elend: da hörten sie eines Tages ein dumpfes Geräusch über sich zu Häupten, wie wenn man ein Wägelchen vorwärtsschübe. Sie stiegen bis zum fünften Stockwerk hinauf und fanden dort ein kleines Männchen, das Marionetten schnitzte. Es nannte sich Vollkommen und hatte Genie in seiner Kunst.

Man verstand kein Wort, wenn es sprach. Nur einer, der ebenso kauderwelschen konnte wie es, unterhielt sich mit ihm:

»Wir sind überzeugt, daß Sie unsere Marionetten-Kunst werden heben können. Denn im Nostradamus steht 229 geschrieben: ›Vollkommen wird den Hanswurst erretten!‹ Der unsrige ward von einer Kröte verschlungen. Wir haben jedoch seinen Hut, seinen Buckel und seine Kundschaft gerettet. Sie müssen den Zieh-Faden liefern. Außerdem werden Sie auch seinen Schnurrbart gut nachahmen können. Zusammen werden wir großen Erfolg haben. Wir geben Hanswurst für Nostradamus und Nostradamus für Hanswurst aus.«

Herr Vollkommen ging auf den Vorschlag ein. Als man ihn fragte, was für einen Lohn er verlange, sagte er: Viel Ehre und viel Geld. Sowas haben wir nicht, erwiderte der Führer der Truppe, aber mit der Zeit kommt alles. So zogen sie ab und kamen nach Mailand, um unter Leitung von Madame Carminetta ein Theater aufzumachen. Auf den Plakaten zeigte man an, daß derselbe Hanswurst, der von einer Dorfkröte im Kanton Appenzell gefressen worden war, auf dem Mailänder Theater wieder erscheinen und mit der Dame Störche tanzen würde. Alle Quacksalber der Stadt mochten noch so zetern, Herr Vollkommen, der sein Handwerk verstand, pries seine Salben für die besten und brachte viele an die Frauen, die alle in Hanswurst verliebt waren. So ward er reich.

Als er sein Ziel erreicht hatte, wurde er Madame Carminetta gegenüber sehr ungalant. Er kaufte sich ein schönes Haus vis-à-vis dem ihren, das seine 230 Wohltäter bezahlen durften. Der Dame machte er den Hof nicht mehr. Aber eines Tages lud er sie zu sich ein, und als sie kam, schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.

IX.


X.

Vollkommen wurde so groß und so reich, daß er bald mehrere Kasperletheater aufmachen konnte. Er ließ den Hanswurst durch die ganze Stadt ziehen und verlangte, daß alle Welt ihn mit Durchlaucht anspreche – sonst würde nicht gespielt werden.

Eines Tages aber erfand ein Entrée-Diener, der die Billette austeilte und Logenöffner war, und für irgendein Vergehen geschaßt wurde, ein neues Kasperlespiel, in dem die Tänze der Frau Störche und die Zauberstücke des Herrn Vollkommen mit all ihren Schlichen erklärt und verspottet wurden. Er strich ungefähr fünfzig Produkte bei der Zusammensetzung der Zauberheilmittel, so daß seine sich nur aus fünf oder sechs Drogen zusammensetzten. Und da er dies noch viel billiger verkaufte, gewann er die zahlreiche Kundschaft Vollkommens für sich, was einen wilden Prozeß und eine große Balgerei auf dem Messeplatz herbeiführte. 231

XI.

»Ich habe bemerkt, daß ein sehr großer Teil der Juden auf den Messias wartet und sich lieber an den Marterpfahl schlagen läßt, als den schon Gekommenen anzuerkennen. Ich traf Tausende von Türken, die überzeugt waren, daß Muhamed die Hälfte des Mondes in seinem Ärmel versteckt hält. Von einem bis zum anderen Ende der Welt glaubt der Pöbel an die sinnlosesten Dinge. Aber wenn ein Philosoph mit dem Dümmsten unter ihnen ein Goldstück zu teilen hätte, so würde er doch immer unterliegen. Wieso sind diese ewigen Maulwürfe plötzlich in diesem einen Fall solche Lüchse! Und warum würde derselbe Jude, der dich am Freitag meuchelt, dir am Sabbat nicht einen Pfennig entwenden?«

»Die Menschen sind aus Gewohnheit abergläubisch und aus Instinkt gerieben.«

»Ich möchte es beinahe glauben.«

XII.

»Seit der Geschichte mit dem Logenschließer ist es Hanswurst schlecht ergangen. Die Engländer, vernünftige und ernste Leute, ziehen ihm jetzt Shakespeare vor. Aber anderswo blieb sein Erfolg noch bestehen. Nach der Opéra-Comique war sein Theater das beste. Aber dann kam Harlekin . . .« 232

XIII.

»Aber, lieber Herr, wie kann man gleichzeitig so barbarisch und so komisch sein! Wie kann es in der Geschichte eines Volkes die St. Bartholomäusnacht und die Fabeln Lafontaines geben? Hängt das mit dem Klima zusammen oder womit?«

»Der Mensch ist zu allem fähig. Nero weinte, als er das Todesurteil eines Verbrechers unterschrieb, er spielte Komödien und ermordete seine Mutter. Die Affen können herrliche Streiche spielen und erdrosseln ihre Jungen. Nichts ist so zart und schüchtern wie ein Windspiel: und doch zerreißt es einen Hasen und taucht sein schlankes Maul in Blut.«

»Sie sollten,« sagte ich zu meinem Gast, »ein Buch über diese Widersprüche schreiben.«

»Es ist schon geschrieben,« erwiderte jener. »Sehen Sie sich nur eine Windfahne an: bald folgt sie zartem Zephyrhauch, bald wildem Nordsturm: Ecce homo!«

 


 


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