Iwan Goll
Das Lächeln Voltaires
Iwan Goll

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An Friedrich von Preußen

Januar 1738

Hoheit, soeben erhalte ich die entzückendsten Neujahrsgeschenke meines Lebens: Ihre Verse und die Prosa über Rußland.

Das ist gewiß, daß die Verse Ihre Prosa sehr in den Schatten stellen. Wir ziehen vier »Frédéric« gezeichnete Reime einer langen Abhandlung über das Russenreich vor. Nicht deshalb, weil die Verse etwa EmilienMadame du Châtelet, Voltaires langjährige Freundin. und mich besingen, auch nicht, weil diese französischen Verse vom Erben der deutschen Krone stammen. Nein, in Wahrheit, es sind wirklich hübsche, gut gemachte, ganz geschmackvolle Verse darunter. Madame du Châtelet, die bis heute nur Philosophie trieb, wird jetzt zur Dichterin werden, um Ihnen zu antworten. Was mich betrifft: wovon soll ich zuerst reden? Wir haben alles erst rapid überflogen: aber bei der ersten Durchsicht ist mir das kleine achtsilbige Gedicht aufgefallen, in dem Sie eine Parallele ziehen zwischen Ihrem heutigen, zurückgezogenen, freien Leben und dem tätigen, das Ihnen in Zukunft winkt. Aufrichtig: (habe ich recht?) Sie haben an diesem Stück weniger gearbeitet als an den übrigen. Man merkt die Einfachheit des Genies, die Leichtigkeit und Grazie des Vortrags, und dieser Stil geziemt 197 vor allen einem Fürsten Ihres Ranges, denn er atmet Freiheit und erinnert an die leichte Lebensart, die man in Ihrer hohen Gesellschaft gewohnt ist. Nein, dieser Stil riecht nicht nach dem Schweiß eines allzu beschäftigten Mannes. Ihre anderen Arbeiten sind wertvoll (ich komme in einem späteren Brief darauf zu sprechen); aber diese hier sei unsere Tagesandacht. Nur ganz wenig Fehler entgingen Ihrem königl. Lebenseifer, Fehler in der Fingerfertigkeit, nicht im tieferen Sinne. z. B.:

»J'ause profiter de la vie
Sans craindre les très de l'envie.
»

Ihre schnelle Hand schrieb »j'ause« statt »j'ose« und »très« statt »traits«; dann »matein« für »matin«. Aber das sind Bemerkungen, die Ihnen der Portier der Académie Française machen könnte. Ich habe keine schwereren Fehler zu rügen. So daß ich also eine Schnalle an Ihrem Schuh zuschließe, während Ihnen die Göttinnen Ihr Hemd hinreichen und Sie reich bekleiden . . .

*

An Friedrich von Preußen

Oktober 1757Hier schreibt der gute Mensch und Freund. Der erste Brief nach dem Weggang von Sans-Souci und vierjährigem Schweigen.

Majestät, Ihre Erfurter Epistel ist voll wunderbarer und rührender Stellen. In allem, was Sie tun und 198 schreiben, gibt es immer herrliche Dinge. Darf ich Ihnen wiederholen, was ich Ihrer Kgl. Hoheit, Ihrer Frau Schwester, schrieb, der Ihre Epistel viele Tränen kosten wird, wenn Sie nicht von Ihren eigenen sprechen. Aber es ist jetzt nicht die Zeit, darüber zu streiten, was dies Denkmal einer großen Seele, eines großen Genies verbessern könnte; es handelt sich um Eure Majestät selber und um den gesunden Teil des Menschengeschlechts, den die heutige Philosophie in Ihrem Ruhm und Ihrer Erhaltung erblickt.

Sie wollen sterben! Ich will hier nicht von dem schmerzvollen Schrecken sprechen, der mich bei diesem Gedanken erfaßt. Aber ich beschwöre Sie, zu bedenken, wie schwer es Ihnen ist, von Ihrem hohen Throne sein muß, die Meinung der Menschen und den Geist der Zeit zu durchschauen. Als König erfahren Sie diese nie; als Philosoph und Denker schweben Ihnen nur die Beispiele der großen Männer der Antike vor Augen. Sie lieben den Ruhm und suchen ihn heute in einem Tod, den die Menschen selten wählen, und an den noch kein europäischer Fürst je gedacht hat, seit dem Untergang des römischen Reiches. Und überhaupt, Majestät, wenn der Ruhm Ihnen so am Herzen liegt, wie können Sie sich gerade auf etwas festlegen, das ihn Ihnen rauben wird? Ich zeigte Ihnen bereits den Schmerz Ihrer Freunde, den Triumph Ihrer Feinde und den 199 Spott jener, die feigerweise eine edle Tat in den Schmutz zerren werden.

Hinzufügen will ich aber besonders, daß kein Mensch Sie darum für den Märtyrer der Freiheit ansehen wird. Seien wir offen: Sie wissen, an wieviel Höfen man Ihren Einmarsch in Sachsen als einen Völkerrechtsbruch ansieht. Was wird man an diesen selben Höfen munkeln? Daß Sie für diese Freveltat an sich selber Vergelten geübt haben; daß Sie den Schmerz nicht ertrugen, dort Ihre Gesetze nicht diktieren zu können. Man wird Ihnen eine vorzeitige Verzweiflung andichten, erfährt man nur, daß Sie diesen trübseligen Entschluß in Erfurt gefaßt haben, damals als Sie noch Herr über Schlesien und Sachsen waren. Man wird Ihre Erfurter Epistel schmählich kritisieren. Wenn auch vieles mit Unrecht geschieht, an Ihrem Namen wird es hängen bleiben.

Das alles ist die Wahrheit selber. Und derjenige, den ich den »Nordischen Salomo« nannte, wird im Grund seines Herzens noch viel anderer Dinge inne werden:

Er wird fühlen, daß er mit dieser traurigen Tat einer Ehre nachjagt, die doch nicht ihm zugute kommen wird. Er will vor persönlichen Feinden sich nicht erniedrigen und gehorcht einem Verzweiflungsanfall seines Selbstbewußtseins. Aber diesem Gefühl gegenüber, sagt Ihnen eine höhere Einsicht, daß Sie gar nicht gedemütigt sind und es nicht sein können, und daß Ihnen als Menschen – wie 200 so vielen anderen auch – und so was gibt es – alles verbleibt, was Menschen beglücken kann: Reichtum, Ehren, Freunde. Einer, der nur König ist, kann sich für sehr unglücklich halten, wenn er Länder verliert. Aber ein Philosoph kann auf diese verzichten. Außerdem wird Ihnen, ohne mich dabei in Politik zu mischen, gewiß noch genug übrigbleiben, um aus Ihnen einen bedeutenden Herrscher zu machen. Wenn Sie, wie Karl V., die Königin Christine, König Kasimir und viele andere, auf Größe weniger erpicht wären, wären Sie ein viel größerer Fürst als sie alle; und das wäre noch eine weitere Größe von Ihnen. Kurz und gut: alles ist besser als dieser schmachvolle und unglückliche Schritt, zu dem Sie sich hinreißen lassen wollen. Wozu dann Philosoph sein, wenn Sie kein Privatleben in sich besitzen, oder wenn Sie als Herrscher nicht einmal fähig sind, ein Unglück zu ertragen?

Bei alle dem habe ich gewiß nur Ihres oder das Gesamtwohl im Auge. Bald trete ich in mein 65. Lebensjahr. Ich bin krank geboren. Ich habe nur eine kurze Spanne zu leben. Ich habe sehr viel Unglück erlitten: Sie wissen es. Aber ich werde glücklich sterben, wenn ich weiß, daß Sie leben und auf dieser Erde in die Tat umsetzen, was Sie so oft geschrieben haben. 201

 

An Friedrich von Preußen

In Ferney, 17. Januar 1776

Majestät, einst lebte unterm 53. Breitegrad ein hoher Adler, dessen Flug von allen Breiten der Welt sehr bewundert wurde. Eine kleine Ratte war aus ihrem Loch geschlüpft, um sich auch den Adler anzusehen, und ward von einer heftigen Liebe für den König der Vögel erfaßt. Inzwischen ist die Ratte in ihrem Loch alt geworden, gezwungen an alten Büchern zu knabbern. Auch das tut sie schlecht, weil ihre Zähne ausgefallen sind. Der Adler hingegen behielt immer seinen stolzen Schnabel, nur hatte er an den Krallen ein bißchen weh.

Was man aber nie glauben wird, ist, daß dieser Adler während seiner Krankheit sehr schöne Verse verbrach, die er dann der Ratte zuschickte. Aber da die Eichen von Dodona sprechen konnten, warum sollte nicht ein Adler dichten? Die indes vermorschte Ratte konnte nur noch Prosa schreiben. Ein paar Blättchen aus einem alten Buch erlaubt sie sich dem Adler zu senden.

Die Dinge, von denen dort die Rede ist, sind wahr und eigenartig. Die Ratte bildet sich ein, daß sie den Adler etwas erheitern werden. Und wenn sie sich geirrt hat, so muß man ihr verzeihen, dann sieht sie halt die Welt nicht mit guten Adleraugen, aber sie liebt den Adler mit ganzer Inbrunst. Das 202 zu beweisen und ihn von der Nähe bewundern zu dürfen, reiste sie auch einmal bis zu den mittleren Himmelshöhen, in den Schutzbereich des Adlers, dem sie tief verbunden bleibt heute und bis zum Tag, da die Katze sie fressen wird.

*

An Friedrich von Preußen

In Ferney, 8. November 1776

Majestät, Sie haben mir ein seltenes WerkEpistel an d'Alembert. zugesandt: denn alles darin ist wahr. Dem Philosophen d'Alembert steht es an, Eurer philosophischen Majestät in Versen zu danken. Meine 82 Jahre sind es nicht, die mich hindern, Ihnen in Reimen zu sagen, wie sehr Sie recht haben. Aber ich empfinde seit mehr als zwei Monaten die Wahrheit dessen, was Sie in Ihrer schönen Epistel sagen:

Purpur und Zwilch erfahren gleiches Leid:
Man weint auf Thronen und in Hütten gleich.

Wenn ich in meiner Hütte nicht weine, sintemalen ich schon zu vertrocknet bin, so hätte ich mindestens Grund dazu. Die Herren von NazarethDie Jansenisten. lachen nicht so fröhlich wie ihr am Baltischen Meer; sie verfolgen die Leute grausam aus dem Hinterhalt. Sie graben einen armen Mann wie ich aus seinem 203 Schlupfloch aus und strafen ihn, weil er einst über sie gelacht hat. Alles Unglück, das einem Menschen widerfahren kann, ist über mich hereingebrochen: Prozesse, Güterverlust, körperliche Gebrechen und Unruhe in dem, was man Seele nennt. Ich bin wirklich der »in der Hütte«; aber bei Gott, Majestät, Sie sind nicht, der auf Thronen weint. Einst gab s auch für Sie Unbilden, vor Jahren. Aber mit welchem Mut und welcher Seelengröße tranken Sie den Kelch aus. Wie vergrößerte dieses Leid Ihren Ruhm! Wie hoch standen Sie jederzeit über allen anderen Menschen. Ich wage aus dem Loch meines Zerfalls, aus meiner tiefen Misere nicht mehr zu Ihnen aufzublicken.

Ich weiß nicht, wo ich sterben soll. Der regierende Herzog von Württemberg, der Onkel jener Prinzessin, die Sie soeben so gut verheiratet haben, ist mir noch einiges Geld schuldig, das mir gerade zu einem ehrlichen Grabstein reichen würde. Er zahlt aber nicht, was mich bei meinem Tod sehr schädigen wird. Wenn es mir erlaubt wäre, möchte ich Eurer Majestät Schutz in dieser Sache erflehen: aber ich wage es nicht. Ich möchte auch lieber Eurer Majestät Bürgschaft haben.

Hand aufs Herz: ich weiß nicht, wo ich sterben werde. Ich bin ein kleiner verkrüppelter Hiob auf seinem Schweizer Düngerhaufen. Der Unterschied zwischen Hiob und mir ist, daß er gesundet und 204 schließlich noch selig wird. Ein gleiches widerfuhr dem guten Tobias, der gleich mir in einen Schweizer Kanton des Mederlandes verbannt war. Das Lustige an der Sache aber ist, daß in der Heiligen Schrift geschrieben steht, daß seine Kindeskinder ihn leichten Herzens zu Grabe trugen: wahrscheinlich gab's eine gute Erbschaft.

Aber verzeihen mir Eure Majestät, daß ich, blind wie Tobias und elend wie Hiob, nicht hochgemut genug war, um Ihnen so einen nutzlosen Brief zu ersparen.

In meiner Hütte besuchte mich ein junger sächsischer Baron oder Graf, mit Namen Gaisdorf, glaube ich. Er ist sehr liebenswürdig, voller Geist und Grazie, und klug. Man sagt, Eure Majestät hätte ihn selbst zum eigenen Amüsement erzogen. So scheint es mir auch: Achill erzieht Phönix, während es einmal umgekehrt war.

Ich kniee zu Füßen Eurer Majestät.

De Profundis.

*

An Friedrich von Preußen

Paris, 1. April 1778Letzter Brief Voltaires an den König.

Majestät, der französische Edelmann, der Ihnen diese Zeilen überbringt, und der in allem würdig ist, sich 205 vor Ihnen zu zeigen, wird Ihnen sagen, daß, wenn ich Ihnen nicht früher schrieb, zwei Dinge in Paris mich daran gehindert haben: das Ausgepfiffenwerden und der Tod.

Es ist aber lustig, daß ich mit 84 Jahren zwei so tödlichen Krankheiten entgangen bin. Und daran schuld ist vor allem, daß ich mich immer auf Sie berufen habe; das hat mich gerettet.

Ich habe zu meiner süßen Genugtuung erlebt, daß bei der Aufführung einer neuen Tragödie dasselbe Publikum, das vor dreißig Jahren Konstantin und Theodosius als den makellosesten Fürsten, ja Heiligen, zujubelte, heute Verse beklatscht hat, in denen dieselben Konstantin und Theodosius als abergläubische Tyrannen hingestellt werden. Und ich erlebte zwanzig ähnliche Beweise für den Fortschritt, den die moderne Philosophie in jeder Hinsicht verursacht hat. Und es würde mich nicht wundernehmen, wenn in einem Monat die Lobrede des Kaisers Julian hier publiziert würde, denn wenn sich die Pariser erinnern, daß er ihnen wie Cato Gerechtigkeit widerfahren ließ, und daß er wie Caesar für sie gekämpft hat, sind sie ihm ewigen Dank schuldig.

So ist es denn wahr, Majestät, daß am Ende die Menschen dennoch klar sehen, und daß jene, die sich für berufen halten, sie zu blenden, es doch schließlich nicht fertig bringen, ihnen die Augen auszustechen. Dank sei dafür Eurer Majestät! Sie 206 haben die Vorurteile, genau wie alle ihre anderen Feinde besiegt! Sie sind der Sieger über den Aberglauben und die Stütze gleichzeitig der germanischen Freiheit.

Leben Sie länger als ich, um alle Ihre Herrscherreiche fest zu begründen. Möge Friedrich der Große Friedrich der Unsterbliche werden!

V.

*

An Katharina von Rußland

22. Dezember 1767

Eure Kaiserliche Majestät verzeihe mir: aber nein, sie ist keineswegs eine eiskalte Aurora. Sie ist im Gegenteil der glänzendste Stern des Nordens, und noch keiner blendete so wie der Ihre, nicht Andromeda noch Calisto. Alle diese Sterne hätten nämlich Diderot hungers sterben lassen. Ihn hat sein Vaterland verfolgt, und Sie kamen ihn befreien. Ludwig XIV. war weniger edelmütig als Sie; er belohnte zwar die Verdienste in fremden Ländern, aber man mußte ihn erst darauf hinweisen. Sie hingegen suchen sie selber auf und finden sie. Und Ihre edlen Bemühungen, um Polen die Glaubensfreiheit zu schenken, müssen von der ganzen Menschheit besungen werden; ich möchte es gern in Ihrem Namen, wenn meine zittrige Stimme noch hörbar wäre. 207

Inzwischen aber möge Eure Majestät mir erlauben, was Sie über den Erzbischof von Nowgorod und über die Toleranz geschrieben hat, zu veröffentlichen. Ihre Arbeiten sind ein Denkmal Ihres Ruhms; wir drei, Diderot, d'Alembert und ich, errichten Ihnen Altäre. Vor Ihnen werde ich zum Heiden: ich kniee anbetend zu Füßen Eurer Majestät hin.

Der Priester Ihres Tempels.

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An Katharina von Rußland

Ferney, 27. Februar

Eure Kaiserliche Majestät geruht, mich zum Richter über die Seelengröße zu machen, mit der Sie für das Menschengeschlecht einsteht. Aber dieser Richter ist schon zu verdorben und überzeugt, daß man nur tyrannische Albernheiten auf Ihr vorzügliches Schriftstück»Manifest über die Reibungen in Polen«, in dem Katharina von den heiligen Pflichten der Menschheit sprach. antworten könnte. Deshalb nur seines Bürgerrechts würdig sein, weil man glaubt, daß der Heilige Geist mit Gottvater eins sei, erscheint mir dermaßen dumm und verrückt, daß ich solchen Blödsinn nicht fassen könnte, wenn ich nicht schon in meiner Heimat davon gehört hätte. Ich bin nicht berufen, in Ihre Staatsgeheimnisse mich einzumischen; 208 aber es sollte mich doch wundern, wenn Eure Majestät mit dem König von Polen nicht einig wäre. Er ist ein Philosoph und aus Prinzip tolerant. Und ich denke mir, daß Sie beide zusammen, wie gute Jahrmarktsgevattern sich auf das Wohl des menschlichen Geschlechts verstehen, und sich über die intoleranten Priester lustig machen.

Eine Zeit wird kommen, Madame, ich sage es immer, wo uns alles Licht von Norden strahlen wird: wie Sie sich auch wehren mögen, ich mache Sie zum Stern, und Stern müssen Sie bleiben. Der Cimmerische Nebel wird über Spanien bleiben, und selbst da, schließlich, wird er sich verflüchtigen.

Sie aber sind weder Zwiebel noch Katze noch Goldenes Kalb noch Apis-Stier, keiner von jenen Göttern, die man ißt, sondern die den Menschen zu essen geben. Sie tun alles mögliche Gute innen und außen. Die Weisen werden Sie zu Lebzeiten schon in den Himmel heben. Aber ich wünsche Ihnen lange zu leben, das ist tausendmal mehr wert als die Heiligkeit. Wenn Sie Wunder üben wollen, so tun Sie nichts anderes, als daß Sie vorläufig das Klima ein wenig wärmer machen. Bei allem, dessen Eure Majestät fähig ist, würde ich Ihr als sehr bösen Willen anrechnen, wenn Sie diese Änderung nicht vornähme; auch habe ich ein gewisses Interesse daran, denn sobald Rußland dreißig Grad Kälte statt sechzig zählt, werde ich um die Erlaubnis einkommen, dort 209 mein Leben beenden zu dürfen. Aber wo ich auch immer vegetieren mag: meine Bewunderung für Sie wird immer grenzenlos sein.

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An Katharina von Rußland

Ferney, 30. Oktober 1769

Eure Kaiserliche Majestät schenkt mir ein neues Leben, indem sie die Türken tötet. Bei Ihrem geneigten Brief vom 22. September sprang ich vom Bett auf und schrie: Allah! Katharina! So hatte ich denn recht und war mehr Prophet als Mohammed; Gott und Ihre siegreichen Truppen haben mich denn erhört, als ich sang: »Te Catharinam laudamus, te dominam confitemur.« Der Engel Gabriel hatte mir die vollkommene Niederlage der ottomanischen Armee und die Einnahme von Choczin verkündigt und den Weg nach Chassi mit dem Finger gezeigt.

Ich bin wirklich auf der Höhe des Glücksgefühls. Ich bin beglückt und danke Ihnen, und dazu sind Sie Ihren ganzen Ruhm unserem Nuntius schuldig. Hätte er die Pforte gegen Eure Majestät gehetzt, so hätten Sie Europa nimmer gerächt.

So ist meine Gesetzgeberin ganz und gar siegreich. Ich weiß nicht, ob man in Paris und Konstantinopel versucht hat, Ihre »Einführung zu einem russischen 210 Gesetzbuch« zu unterdrücken; aber bestimmt müßte man sie den Franzosen vorenthalten: denn sie ist eine zu schreiende Widerlegung unserer alten, grotesken und barbarischen Gesetzgebung, die fast ausschließlich auf Dekretalien der Päpste und kirchlichen Gesetzen fußt.

Ich kenne nicht Ihr Geheimnis. Aber die Abfahrt Ihrer Flotte erfüllt mich mit Bewunderung. Wenn Engel Gabriel mich nicht belogen hat, so ist das das schönste Unternehmen seit Hannibal.

Möge Gott mir Gesundheit geben: dann eile ich nächsten Sommer sofort zu Ihren Füßen, für einige Tage, sei's auch für einige Stunden nur.

Ich flehe Eure Majestät an, meiner kopflosen Freude zu verzeihen. Mit einem von Ehrfurcht überströmenden Herzen.

Der Eremit von Ferney.

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An Katharina von Rußland

Ferney, 14. Sept. 1770

Wenn ich auch an meinen Krankheiten sterben muß, sterbe ich doch halb glücklich, da Mustapha halb besiegt ist. Ich gratuliere ihm, daß er gleichzeitig bei Propheten und Verrückten sich Rats holt: das waren zu allen Zeiten Leute ein und desselben Geistes, mit dem einzigen Unterschied, daß die Propheten gefährliche Verrückte sind. Die getreuen 211 Muselmanen erkennen 440 000 solche an, die Heroen des alten Testaments mitgerechnet; sie würden eine treffliche Armee für Ali Bey darstellen.

Diejenigen, die Eurer Majestät eine Niederlage wünschten, werden wohl sehr bestürzt sein. Warum Ihnen auch die zudenken, wo Sie Europa zu rächen beginnen? Das sind gewiß Leute, die die griechische Sprache nicht lieben; und wenn Sie Herrscherin in Konstantinopel wären, würden Sie dort sehr sehr bald eine griechische Akademie begründen. Man würde Ihnen eine Kathariniade dichten; Phidias würde Ihr Bild über die Erde verbreiten, der Untergang des türkischen Reiches würde in griechischen Gesängen besungen werden. Athen eine Ihrer Hauptstädte. Griechisch die Weltsprache. Und alle Kaufleute im Ägäischen Meer würden griechische Pässe besitzen.

Ein Te Deum oder Te Deam Ihnen. Ein De profundis für Mustapha.

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An Katharina von Rußland

Ferney, 10. Juli 1771

Madame, Eure kaiserliche Majestät muß finden, daß der Alte aus den Bergen gar oft schreibt. Aber mein Herz ist zu voll, meine Gefühle fließen auf das Papier über. 212

Ich las in einer ziemlich scharfen Kritik des Abbé Chappe, daß in einer Gegend des westlichen Europa, die man das Welschland nennt, die Regierung die Einfuhr des besten und würdigsten Buches, das wir besitzen, verboten habe; daß, um es gleich zu sagen, beim Gedanken-Zoll die von Catherine signierte, weise und herrliche »Einführung« nicht eingelassen worden war. Ich traute meinen Augen nicht. Dieses barbarische Benehmen geht über alles Verstehen. Ich erkundigte mich bei einem Beamten und erfuhr, daß nichts so richtig sei als das. Die Sache verhält sich so: ein holländischer Verleger druckt diese »Einführung«, die den Königen und allen Gerichten der Welt zum Vorbild dienen sollte. Er schickt davon zweitausend Exemplare nach Paris. Das Buch bekommt ein Dummkopf zur Durchsicht, ein blöder Zensor, ganz als ob es sich um ein gewöhnliches Buch handelte, als ob ein Pariser Amtsmännlein über die Befehle einer Fürstin, und welcher Fürstin, urteilen dürfte. Dieser idiotische Schnüffler findet nun in dem Buch gewagte, schlecht klingende, ein welsches Ohr beleidigende Vorschläge, zeigt es auf der Kanzlei als gefährlich an, wie sonst ein philosophisches Buch. Und man schickt es einfach ohne weitere Prüfung nach Holland zurück.

Ich aber lebe noch bei diesen Welschen! atme ihre Luft! bediene mich ihrer Sprache! Nein, so eine blöde Gemeinheit hätte selbst im Reiche Mustaphas 213 nicht passieren können, und ich bin überzeugt, daß Kien-long zum Mandarin erster Klasse den ernennen würde, der Ihre »Einführung« in gutes Chinesisch übersetzte.

Es ist richtig, daß ich nur eine Meile von der welschen Grenze entfernt lebe; aber ich will auf keinen Fall in einem solchen Lande sterben. Dieser letzte Schlag wird mich gewiß nach Taganrock bringen.

Ich lese nochmals in dem Buche nach:

»Eine Regierung muß so gestaltet sein, daß kein Bürger einen anderen Bürger fürchten dürfte, aber alle das Gesetz.«

»Man darf durch Gesetze nur verbieten, was einem Bürger oder aber der Allgemeinheit schädlich werden könnte . . .«

Das sind die göttlichen Maximen, vor denen die Welschen Angst gekriegt haben. O sie verdienen . . . sie verdienen . . . das was sie haben!

Ich flehe Eure Majestät um Entschuldigung, daß ich so in Zorn gerate. Greise sollten weniger leidenschaftlich sein. Und wenn ich mich nun gleichzeitig gegen die Türken und gegen die Welschen aufrege, kann es dem armen versauerten Alten übel bekommen, der hüstelnd Eurer Majestät zu Füßen fällt. 214

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