Iwan Goll
Das Lächeln Voltaires
Iwan Goll

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Baboucs Vision

Aus der Novelle: »Le Monde comme il va«. 1746.

Babouc bestieg sein Kamel und ritt mit seinen Dienern von dannen. Nach einigen Tagereisen stieß er im Tal von Gennaar auf die persische Armee, die gegen die indische in den Kampf zog. Er wandte sich an einen Soldaten, der auf dem Boden ausgestreckt lag, und fragte ihn, was die Ursache des Krieges sei:

»Bei Gott,« murmelte der Soldat, »das weiß ich nicht. Das geht mich auch nichts an. Mein Beruf ist zu töten und getötet zu werden, um mein Leben fristen zu können. Mir ist es gleich, wem ich diene. Es könnte auch ganz gut sein, daß ich morgen ins indische Lager überlaufe, denn es heißt, daß sie ihren Soldaten eine halbe Kupferdrachme täglich mehr bezahlen als diese verfluchten Perser hier. Wenn Sie aber den Grund erfahren wollen, aus dem hier Krieg geführt wird, fragen Sie meinen Hauptmann.«

Babouc schenkte dem Soldaten eine Kleinigkeit und 134 trat ins Feldlager. Er fand schnell den Hauptmann und fragte ihn nach den Ursachen des Krieges.

»Wie soll ich das wissen!« antwortete dieser, »und was geht es mich an? Ich wohne zweihundert Meilen weit von Persepolis. Ich höre, daß ein Krieg ausgebrochen ist. Schleunigst verlasse ich Familie und Haus und suche der Sitte gemäß den Sieg oder den Tod: was soll ich sonst Besseres tun?«

»Und Ihre Kameraden?« forschte Babouc weiter, »sind die nicht besser auf dem Laufenden?«

»Keineswegs: das können höchstens unsere Satrapen genau wissen!«

Babouc kam zu den Generälen und wurde ihr Vertrauter. Einer von diesen erklärte ihm:

»Die Ursache dieses Krieges, der seit zwanzig Jahren ganz Asien verwüstet, war der Streit zwischen dem Eunuchen einer Frau des großen Schahs, und einem kleinen Verwaltungsbeamten des großen Inderkönigs. Es handelte sich um den dreißigsten Teil einer Silbermünze. Sowohl der indische als unser Premierminister verteidigten mit würdigen Worten das Recht ihrer Herren. Der Streit verschlimmerte sich. Es wurden beiderseits Millionenheere gesammelt. Alljährlich müssen 400 000 neue Soldaten ausgehoben werden. Mord, Brandstiftung, Ruinen, Verwüstung überall; die Welt hungert; man kämpft weiter. Unser sowie der indische Premierminister versichern alle Wochen, daß der Krieg zum Heil des menschlichen 135 Geschlechts geführt werde: und nach jeder ihrer Reden gibt es wieder einige zerstörte Städte und verwüstete Provinzen mehr.«

Als am nächsten Tag sich das Gerücht verbreitete, es solle bald Friede geschlossen werden, beeilten sich der persische und der indische General, noch schnell eine Schlacht zu liefern: sie war sehr blutig. Babouc war Zeuge der scheußlichsten Verbrechen und merkte, wie die höheren Satrapen alles taten, um die Niederlage ihres Chefs herbeizuführen. Er sah Truppen ihre eigenen Offiziere erschlagen; er sah Soldaten, die ihre verendenden Kameraden noch zu Tode traten, um ihnen einige schmutzige, blutige Lappen vom Körper zu reißen. Er trat in die Spitäler, wo die meisten Verwundeten wegen der unmenschlichen Gewissenlosigkeit jener krepierten, deren Dienste der Perserkönig teuer bezahlte.

»Sind das Menschen oder Tiere?« schrie Babouc.

Erschreckt floh er ins indische Lager hinüber, wo er ebenso höflich empfangen wurde, wie bei den Persern. Aber er sah dieselben Scheußlichkeiten. Als er sich dann näher erkundigte, erzählte man ihm von großen Heldentaten, man sprach von Seelengröße, Menschlichkeit und lauter schönen Dingen.

»Sonderbare Menschen,« rief Babouc, »die so viel Niederkeit und Größe, so viel Tugend und Verbrechen in sich tragen!« 136

 

Candide bei den Bulgaren

Aus dem Roman: »Candide ou l'Optimisme«. 1759.

Candide fand eine Schenke auf seinem Weg. Zwei Männer in herrlichen blauen Gewändern gewahrten ihn. »Kamerad,« rief der eine, »da geht ein schlanker Jüngling des Wegs, der hat die vorschriftsmäßige Länge.«

Sie traten vor und baten Candide in allen Ehren, mit ihnen zu dinieren. »Meine Herren,« erwiderte Candide in freundlicher Bescheidenheit, »es ist eine viel zu große Ehre für mich; auch hab ich nichts, um die Zeche zu zahlen.«

»Aber –«, sagte schallend der eine der Blauen, »Leute von solchem Wuchs und Verdienst wie Sie brauchen nie was zu zahlen! Messen Sie nicht 5 Fuß und mehr?«

»Ganz richtig, das ist meine Größe,« verbeugte sich Candide.

»Zu Tisch, mein Herr! Sie sollen nicht nur umsonst speisen, aber wir werden sorgen, daß ein Edelmann wie Sie nie ohne Geld sein darf. Die Menschen sind doch da, um einander zu helfen.« 137

»Sie haben recht,« sagte Candide, »ich sehe, daß alles auf der Welt zum Besten geht.«

Man drückt ihm ein paar Gulden in die Hand, und wie er seinen Schuldschein schreiben will, weist man diesen zurück. Sie setzen sich zu Tisch.

»Lieben Sie nicht, mein Herr . . .«

»O ja, ich liebe Fräulein Kunigunde von ganzem Herzen . . .«

»Nein, wir fragen Sie, ob Sie nicht den Bulgarenkönig zärtlich lieben?«

»Keineswegs, ich kenne ihn gar nicht!«

»Aber er ist der beste aller Könige. Prost auf seine Gesundheit!«

»Prost, sehr gern!« sagt Candide und trinkt.

»Recht so! Sie sind sein Schutz und seine Stütze: Sie sind der Held aller Bulgaren. Ihr Glück ist gemacht. Ihr Ruhm ist sicher.«

Auf der Stelle werden ihm Sporen angelegt. Sie führen ihn zum Regiment. Rechtsum, linksum, Gewehr auf, Gewehr ab, Hinlegen, Schießen, Laufschritt, und dreißig Sohlenschläge. Am nächsten Tag geht's etwas besser: nur zwanzig Sohlenschläge. Am übernächsten Tag nur zehn: seine Kameraden bewundern ihn alle.

Candide verstand noch nicht recht, warum er ein Held war. An einem klaren Frühlingstag wollte er spazieren gehen, immer gerade vor sich hin auf der Straße, weil er dachte, es sei ein Vorrecht des 138 Menschen wie der Tiere, sich seiner Beine nach Gutdünken zu bedienen. Kaum aber war er zwei Meilen gegangen, da ereilten ihn vier andere sechsfußhohe Helden, fesselten ihn und warfen ihn ins Gefängnis. Man fragte ihn rechtsgemäß, was er vorzöge: 36maliges Rutenlaufen durchs ganze Regiment hindurch, oder nur zwölf Kugeln auf einmal in den Schädel. Er mochte noch so fest behaupten, der Wille sei frei, und er verzichte auf beides: die Wahl blieb ihm nicht erspart. So wählte er, dem Gottesgeschenk »Freiheit« zufolge, das 36malige Rutenlaufen. Das Regiment bestand aus 2000 Mann. Schon war er zweimal durchgelaufen und trug die Zeichen von 4000 Schlägen auf dem Körper, da konnte er nicht mehr. Er bat um die Gnade, daß man ihm das Hirn zerschmettere. Sie wurde ihm gewährt, man verband ihn und warf ihn in die Knie. In diesem Augenblicke ritt der Bulgarenkönig vorbei, fragte nach dem Geschehnis, und da er ein großes Genie war und einsah, daß der junge Candide als Methaphysiker nichts von der Welt wußte, begnadete er ihn, was alle Zeitungen aller Jahrhunderte ewig belobigen sollen. Und am nächsten Tag begann der Krieg der Bulgaren mit den Abaren. 139

 

Erlaß des Kaisers von China

gelegentlich eines Entwurfs zum »Dauernden Frieden«

Wir, Kaiser von China, haben uns von unserem Rat die tausendundein Druckschriften vorlegen lassen, die alltäglich im berüchtigten Dorf Paris zur Belehrung der Welt losgelassen werden. Wir haben zu unserer kaiserlichen Genugtuung bemerkt, daß man in besagtem Dorf, das an einem Bach namens Seine liegt und ungefähr fünfhunderttausend Spaßmacher oder wenigstens solche, die es sein möchten, in seinen Mauern birgt, daß man, behaupten wir, dort mehr Gedanken oder Denkweisen oder auch gedankenleere Ausdrücke druckt, als in unserer Stadt Kingtsin am Gelben Fluß Porzellan fabriziert wird, wo doch in dieser doppelt so viel und halb so spaßige Bürger wohnen.

Wir waren sehr gerührt, als wir eine Broschüre unseres geliebten Jean-Jacques in die Hand bekamen, in der die Wege beschrieben werden, auf denen Europa zu einem dauernden Frieden gelangen könnte – nur war der Rest der Welt außer acht gelassen 140 worden, was man allerdings in keiner Schrift vergessen darf. Wir haben erfahren, daß die französische Monarchie, die die größte unter allen Monarchien ist, daß die Anarchie Deutschlands, die die erste aller Anarchien ist, daß Spanien, England, Polen, Schweden, die ihren eigenen Historikern zufolge, jede in ihrer Art die bedeutendsten Mächte der Welt sind, sämtlich eingeladen worden sind, dem Vertrag Jean-Jacques beizutreten. Eine besondere Freude war es für uns, als auch unsere liebe Kusine, die Kaiserin aller Russen, auf dieselbe Weise aufgefordert wurde, Mitglied zu werden. Groß aber war unsere kaiserliche Verwunderung, als wir unseren Namen vergeblich auf der Liste suchten. Wir hätten als guter Nachbar jener Kusine gedacht, daß man uns nicht übergehen würde; daß der Großtürke als Nachbar Ungarns und Neapels, der Perserschah als Nachbar des Großtürken, der Großmogul, des Schahs Nachbar, in gleicher Weise dieselben Rechte hatten, und daß es eine große Ungerechtigkeit sei, wenn man China aus der Gesellschaft der Nationen ausschlösse.

Indes haben wir in unserem Rat erkannt, dass: wenn der Türke Ungarn angriffe und die europäische oder europäisierende Gesellschaft dann nicht bei Kasse wäre; – wenn inzwischen, während die Königin von Ungarn dem Türken bei Belgrad Widerstand leistet, der König von Preußen auf Wien marschierte; während dieser Zeit aber die Russen es auf Schlesien 141 abgesehen hätten; Frankreich sich auf die Niederlande, England auf Frankreich, der sardinische König auf Italien, Spanien auf die Mauren oder die Mauren auf Spanien stürzen würden – daß diese kleinen Ereignisse den ewigen Frieden ein wenig gefährden könnten.

Da unser Beitritt also absolut notwendig ist, haben wir mit allen Kräften dem Allgemeinwohl dienen wollen, was offenbar das Bestreben eines jeden Kaisers und eines jeden Broschürenautors ist.

Indes, da man zu diesem Behuf vergessen hatte, eine Stadt zu wählen, in der sich die Bevollmächtigten der »Welt« vereinigen sollten, beschlossen wir ohne weiteres, eine solche zu bauen. Wir bestellten einen Bauplan bei dem Ingenieur seiner Majestät des Königs von Narrsingen, der vor mehreren Jahren den Vorschlag machte, ein Loch bis zum Mittelpunkt der Erde zu graben, um dort physikalische Versuche vorzunehmen. Und da wir diese Idee vervollkommnen wollen, werden wir dereinst den Planeten ganz durchbohren. Und da die hervorragendsten Philosophen des Fleckens Paris der Ansicht sind, daß das Erdinnere aus Glas besteht, da sie das geschrieben haben und nie geschrieben hätten, wenn sie dessen nicht ganz sicher gewesen wären, wird die Stadt unseres Weltkongresses ganz aus Kristall sein und wird immer, entweder von rechts oder von links beleuchtet werden: so daß die Haltung 142 der Bevollmächtigten genau wird kontrolliert werden können.

Um das Wirken am Ewigen Frieden zu bekräftigen, werden wir in der durchsichtigen Stadt unsere heiligen Väter, den großen Lama, den großen Dairi, den grossen Muphti und den großen Papst zusammenbringen, die sich mittels Zuspruch einiger portugiesischer Jesuiten verständigen werden. Wir werden mit einem Schlag sämtliche Prozesse beilegen: die der kirchlichen mit der weltlichen Gerechtigkeit, die der Steuerbehörden mit dem Volk, der Adligen und der Landstreicher, des Degens und des Richtermantels, der Herren und der Knechte, der Ehegatten und ihrer Frauen, der Autoren und ihrer Leser.

Unsere Bevollmächtigten werden allen Herrschern einschärfen, sich nie zu streiten: sonst setzt es Strafen, zum erstenmal in Form von Broschüren von Jean-Jacques, zum zweitenmal, den Bann des »Welt«bundes.

Wir ersuchen die Republik von Genf und die von San Marino, gleichzeitig mit uns den Herrn Jean-Jacques zum Präsidenten des Völkerbundes zu wählen, da dieser Herr ja schon, ohne darum gebeten zu sein, über Königen und Republiken zu Gericht gesessen ist: er wird das auch als der Versammlungschef sehr gut erledigen. Und als Honorar für ihn schlage ich vor, ihm einen Teil des Nettoertrags an den Staatslotterien und der Indischen Compagnie 143 in Paris: den besten Wertpapieren der »Welt«, zu sichern. Ich bete zu Tien, daß er Jean-Jacques immerdar behüte, ihn und seinen Kammerdiener, das Fräulein Julie und ihre Hautgeschwulst.

Gegeben zu Peking, am 1. des Monats Hi-Ha, im Jahre 1 898 436 500 seit der Gründung unserer Monarchie. 144

 

Politik

Die Politik der Menschen besteht zunächst darin, daß sie wie die Tiere Nahrung, Kleidung und Obdach zu suchen haben.

Die Anfänge sind schwer und langwierig. Wie erreicht man das Wohlleben und entgeht man den Übeln? Das ist der ganze Inhalt menschlichen Daseins.

Das Übel wuchert überall. Alle vier Elemente sind da und verschwören sich, um es auszubilden. Die Unfruchtbarkeit eines Viertels der Erdoberfläche, die Krankheiten und die große Zahl der feindlichen Raubtiere zwingen uns zu rastloser Arbeit gegen das Übel.

Kein Mensch kann allein dem Übel aus dem Wege gehen und sein Wohlleben sichern: er braucht Unterstützung. Die Gesellschaft ist so alt wie die Welt: aber bald zu zahlreich, bald zu spärlich vorhanden. Die Umwälzungen auf dem Globus haben oft ganze Rassen von Menschen oder Tieren in mehreren Erdteilen ausgerottet, haben sie dafür in anderen vervielfacht. 145

Zur Vervielfältigung braucht eine Art ein geeignetes Klima und Gelände: und selbst da kann man noch gezwungen sein, nackt zu gehen, zu hungern und aller Mittel bar Elends zu sterben. Die Menschen sind nicht wie die Biber, die Bienen oder die Seidenwürmer: ihnen fehlt der sichere Instinkt zur Beschaffung des Notwendigen.

Von hundert Männern hat kaum einer Geist, von fünfhundert Weibchen kaum eines. Aber Geist ist nötig, um die Künste zu erfinden, mittels deren man zu Wohlleben kommt: dies einzige Ziel aller Politik.

Um sich in diesen Künsten zu üben, braucht man Unterstützung, helfende Hände, offenes Verständnis und Gehorsam. Bevor man dazu gelangt, vergehen Tausende von Jahrhunderten in Ignoranz und Barbarei. Tausende von Versuchen scheitern. Und wenn einmal die Spur der Lebenskunst gefunden ist, braucht es wieder Tausende von Jahrhunderten, bis diese zur Vollkommenheit reift.

Politik nach außen

Hat eine Nation einmal die Metallindustrie erfunden, wird sie sicher ihre Nachbarn schlagen und sie zu Sklaven machen.

Ihr habt Pfeile und Säbel und seid in günstigem Klima ein robustes Volk geworden. Wir sind schwach, besitzen nur Knüppel und Steine und werden von euch erschlagen: laßt ihr uns aber das Leben, so zwingt 146 ihr uns, euer Feld zu pflügen, eure Häuser zu bauen. Dabei singen wir ein paar grobe Volkslieder, um eure Langeweile zu vertreiben, wenn wir nur ein wenig Stimme haben, und blasen in einige Röhren, damit ihr uns Kleidung und Brot gebet. Wenn unsere Frauen und Töchter schön sind, reißt ihr sie an euch. Der Herr Sohn profitiert davon und übt sich so in Eroberungskunst. Seine Diener schneiden meinen Kindern die Hoden ab und betrauen sie ehrenvoll mit der Bewachung der Weiber und Mätressen. Dies war und ist noch alle Politik, die große Kunst in fast ganz Asien: von den Menschen sich bedienen zu lassen.

Haben dann einige Völkerschaften mehrere andere Völkerschaften unterjocht, schlagen sich bei der Verteilung der Beute die Siegreichen untereinander. Jede kleine Nation unterhält und besoldet Soldaten. Um diese Soldaten zu ermutigen und sich treu zu halten, hat jede ihre besonderen Götter, Orakel und Sprüche; und jede unterhält auch besondere Seher und Opfermetzger. Die Seher prophezeien zunächst immer zugunsten des Volksführers, später zu ihren eigenen Gunsten, und teilen die Regierung untereinander. Der stärkste und geschickteste unterjocht schließlich alle anderen nach Jahrhunderten voller Blutgemetzel, die einen erschauern machen, und voller Gaunereien, über die man nur lachen kann: das ist die ganze Politik. 147

Während ein Teil der Erde diese Räuberszenen erlebt, müssen sich die kleineren Völkerschaften, die in den Gebirgshöhlen, in Sumpfgegenden oder mitten in Wüsteneinsamkeiten, auf Inseln oder Halbinseln hausen, gegen die Machtherrscher des Kontinents wehren. Und wenn zuguterletzt alle ungefähr die gleichen Waffen haben, fließt das Blut von einem zum anderen Ende der Welt.

Man kann nicht immer töten: dann wird mit den Nachbarn Friede geschlossen, bis man sich wieder stark genug für einen Krieg fühlt. Diejenigen, die schreiben. gelernt haben, verfassen diese Friedensverträge. Die Führer in jedem Volk rufen die respektiven Götter an, um den Feind besser hinters Licht zu führen. Eidschwüre werden improvisiert. Dieser verspricht im Namen Sammonocodoms, jener im Namen Jupiters, daß sie ewig miteinander in Harmonie leben wollen. Bei der erstbesten Gelegenheit erdrosseln sie sich dann im Namen Jupiters und Sammonocodoms.

In sehr raffinierten Zeitaltern schließt der Löwe Äsops einen Vertrag mit drei benachbarten Tieren. Nun wird eine Beute in vier gleiche Teile geteilt. Der Löwe nimmt aus guten Gründen, die später in geeignetem Augenblick erklärt werden sollen, drei Teile für sich und bedroht denjenigen mit dem Tod, der sich an den vierten heranwagt. Das ist die höchste Blüte der Politik. 148

Politik nach innen

Es handelt sich darum, im eigenen Land möglichst viel Macht, Ehren und Vergnügungen zu haben. Dazu braucht man viel Geld.

Sowas ist in einer Demokratie sehr schwer: denn jeder Bürger ist ein Rivale. Eine Demokratie ist nur auf einem kleinen Landstrich möglich. Denn du magst durch deinen geheimen Handel oder durch den deines Großvaters noch so reich geworden sein: Neidlinge wirst du viele haben, Ergebene wenig. In einer Demokratie wird ein reiches Haus nie lange herrschen.

In einer Aristokratie kann man leichter zu Ehren, Vergnügungen, Macht und Geld kommen: aber dazu gehört eine feine Hand. Wer es zu Mißbräuchen kommen läßt, muß eine Revolution befürchten.

In einer Demokratie sind alle Bürger gleich: das ist heute eine seltene und schwächliche Staatseinrichtung. In der Aristokratie spürt man die Ungleichheit, die Überlegenheit des einen: aber je weniger dieser sie betont, desto besser kann er sich ihrer bedienen.

Bleibt noch die Monarchie: hier leben alle Menschen für einen einzigen, der alle Ehren und Vergnügungen für sich beansprucht und eine absolute Macht hat, wenn nur das nötige Geld da ist. Wenn dieses abgeht, kommt das Unglück schnell: dann stehen Macht, Vergnügen, Ehren und selbst das Leben auf dem Spiel. Aber dieser Mann und seine 149 Umgebung sind stark, solange Geld vorhanden ist: eine Menge Söldlinge arbeitet das ganze Jahr, das ganze Leben lang in der leeren Hoffnung, einmal im Alter in einer Hütte die Ruhe genießen zu können, die ihrem Sultan oder Pascha in den Serails gegönnt ist. Später ereignet sich ungefähr folgendes:

Ein dicker, fetter Gutsbesitzer besaß einstmals viele Äcker, Wiesen, Weinberge, Obstgärten und Waldungen. Hundert Arbeiter bebauten sie für ihn. Er aß, trank und schlief mit den Seinen. Seine Hauptdiener bestahlen ihn, aßen nach ihm die besten Stücke alle weg. Den Handlangern nachher blieb gar nichts übrig. Sie murrten, beklagten sich, bis ihnen die Geduld ausging: da aßen sie selbst das Gericht des Meisters und vertrieben ihn. Der Meister behauptete, das seien rebellische Burschen gewesen, die ihren Vater schlugen. Die Handlanger aber meinten, sie seien den ewigen Naturgesetzen gefolgt, die er übertreten hatte. Schließlich wurde ein heiliger Einsiedler aus der Nachbarschaft befragt. Dieser Gottessohn spricht sich das ganze Gut selber zu und läßt Diener und Herrn solange hungern, bis auch er aus dem Haus vertrieben wird. Das ist die Politik des Innern.

Das alles ist schon öfters passiert. Man muß nur hoffen, daß in zehn- oder zwölftausend Jahrhunderten die Menschen aufgeklärter sein werden. 150

 

Dialog des Philosophen mit dem Finanzminister

Philosoph: Wissen Sie, daß ein Finanzminister viel mehr Gutes wirken und also ein größerer Mensch sein kann, als zwanzig Marschälle von Frankreich?

Minister: Ich weiß, daß ein Philosoph die Unbeugsamkeit, die mir mein Amt auferlegt, mir gern austreiben möchte, aber ich erwartete nicht, daß er mich eitel wissen wollte.

Philosoph: Eitelkeit ist gar kein so großer Fehler wie Sie glauben. Wenn Ludwig XIV. nicht ein wenig ehrgeizig gewesen wäre, hätte seine Zeit nicht diese Größe erreicht. Der große Colbert war's auch. Seien Sie es noch mehr! Sie leben in einem günstigeren Jahrhundert als er. Man muß mit seiner Zeit steigen.

Minister: Ich gebe zu, daß derjenige, der ein fruchtbares Land bebaut, mehr Erfolg hat, als wer es erst urbar machen mußte. 151

Philosoph: (entfaltet ein Papier und liest):
Der Reichtum eines Landes besteht in der Zahl seiner Bewohner und in ihrer Arbeit. Der Handel gibt einem Staat die Überlegenheit über seine Nachbarn nur, weil er nach einer Spanne Zeit einen Krieg mit diesen führt, wie es nach einigen Jahren immer ein Volksunglück geben muß. Dabei siegt immer die reichste Nation über die anderen (wenn sie gleich stark sind), weil jene mehr alliierte und fremde Truppen kaufen kann. Wenn es keine Kriege gäbe, wäre die Anhäufung von Gold und Silber überflüssig: denn in diesem Falle wäre uns das nötige Wechselgeld genügend.
Wenn in einem Königreich zwei Milliarden im Umlauf sind, so werden alle Waren und Arbeitskräfte doppelt so viel kosten, als bei einer Milliarde. Ich bin ebensoreich mit fünfzigtausend Franken Rente, wenn das Pfund Fleisch vier Sous kostet, wie mit hunderttausend, wenn es acht Sous kostet. Der wahre Reichtum eines Landes besteht also nicht in Gold und Silber, sondern in der Menge produzierter Waren, in der Industrie und in der Arbeitskraft. Es ist nicht lange her, daß man am Plata-Ufer Offiziere mit goldenem Degen, aber ohne Hemd und Brot sehen konnte.


Nur der ist reich, der alle Vorteile der Natur genießt; doch nur die Industrie kann sie gewähren. Nicht Geld 152 bereichert ein Land, sondern der Geist, der der Arbeit gebietet.

Der Handel hat denselben Einfluß wie die Arbeit der Hände: er versüßt das Leben. Wenn ich ein Produkt aus Indien, Ceylon oder Ternate brauche und es mir nicht verschaffen kann, bin ich arm daran; doch glücklich, wenn der Handel es mir verschafft. Nicht Gold und Silber brauche ich, aber Kaffee und Zimt. Jene indes, die sechstausend Meilen unter Lebensgefahr reisen, damit ich morgens Milchkaffee trinken kann, sind Überzählige der arbeitenden Nation. Reichtum besteht in der Menge von Arbeitskräften.

Ziel und Pflicht einer guten Regierung sind also, die Bevölkerung und die Arbeit zu vermehren.

In unseren Klimaten gibt es mehr Männer als Frauen: also darf man diese nicht sterben lassen. Sie aber für die Gemeinschaft verderben, sie in Klöstern lebend begraben, ist ein Mord an den kommenden Geschlechtern. Das für heilige Zwecke verschwendete Geld sollte man für Hochzeiten verwenden. Dem noch so zahlreichen nicht urbar gemachten Gelände gleichen die Jungfrauen, die man im Arm des Heilands austrocknen läßt. Man muß beide beackern. Sterilität ist ein Attentat gegen die Natur.

Das größte Übel in einem Land sind die Bettler. Es gibt deren zweierlei: die in Lumpen von einem Ende des Reiches zum andern hinken und mit kläglichem Geschrei die Passanten anwinseln, damit sie 153 nachher ins Wirtshaus können; dann die, die in Uniformen gesteckt, das Volk im Namen Gottes ausholen und dann in ihren Häusern nach Gutdünken schwelgen. Die ersteren sind die weniger Gefährlichen, weil sie auf ihrem Weg auch Kinder machen, spätere Handwerker und Soldaten. Aber beide Arten sind ein Übel, weil sie untätig, das heißt unnützlich dahinleben.

*

Steuern lasten gewöhnlich nur auf den Reichen: man kann dem Bedürftigen sein Brot und die Kindermilch seiner Frau nicht wegnehmen. Die Taxe darf nicht vom Armseligen und nicht vom Handwerk erhoben werden, sondern man muß diesen im Gegenteil die Hoffnung zuteil werden lassen, daß sie einst so glücklich sein werden, die Steuern der Reichen mittragen zu dürfen.

In Kriegszeiten aber zahlt man gewiß fünfzig Millionen jährlich mehr als sonst: davon gehen zwanzig Millionen ins Ausland und dreißig werden dazu benützt, die Menschen hinzumorden. In Friedenszeiten werden nur 25 Millionen geschröpft, wovon aber kein Pfennig ins Ausland dringt, und da arbeiten ebensoviele Bürger fürs Volkswohl, als sonst hingeschlachtet werden. Bessere Arbeit. Landbau. Städteverschönerung: der ist dann wirklich reich, der dem Staate zahlt. 154

 

Dialog
zwischen einem Philosophen und einem Einwohner der Stadt Kaschmir

Der Philosoph: Was nennst du reich sein?

Der Bürger: Viel Geld besitzen.

Ph.: Du irrst. Die Bewohner von Mittel-Amerika besaßen früher mehr Silber als du je ausdenken kannst. Da sie aber keine Industrie hatten, vermochten sie sich mit ihrem Geld nichts zu verschaffen, so daß sie in großem Elend lebten.

B.: Ich verstehe: du meinst, Reichtum bestehe im Besitz fruchtbarer Ländereien!

Ph.: Auch das nicht. Die Ukrainer bewohnen eins der schönsten Länder der Welt und sind bitterarm. Die Macht eines Staates hängt wie alle Fähigkeiten nicht nur von der Natur, sondern auch von der Lebenskunst ab. Reichtum besteht nicht nur im Bodenbesitz, sondern in Arbeit. Das reichste und glücklichste Volk ist jenes, das den besten Boden beackert. Und das schönste 155 Geschenk Gottes ist, daß er den Menschen zur Arbeit zwingt.

B.: Gut; aber um das Nötige zu erlangen, müßten zehntausend Menschen zehn Jahre lang angestrengt arbeiten. Wie soll man die bezahlen?

Ph.: Habt ihr nicht zehn Jahre lang zehntausend Soldaten besoldet?

B.: Das ist wahr. Und doch scheint der Staat davon nicht ärmer zu sein!

Ph.: So habt ihr Geld, um zehntausend Menschen in den Tod zu treiben, aber keins, um zehntausend zum Leben zu verhelfen?

B.: Das ist was sehr Verschiedenes. Es ist weniger schwer, einen Menschen in den Tod zu treiben, als ihn dazu zu bringen, einen Marmorblock zu behauen.

Ph.: Auch hier irrst du. Dreißigtausend Kavalleristen kommen teurer zu stehen als zehntausend Handwerker. Letzthin aber kostet keiner viel, solange seine Kraft im eigenen Land benützt wird. Wieviel hat die Ägypter der Bau der Pyramiden und die Chinesen ihre Mauer gekostet? Nur Zwiebeln und Reis. Wurde ihr Land erschöpft, weil es fleißige Werker statt fauler Schmarotzer ernährt hat?

B.: Du drückst mich an die Wand und überzeugst mich doch nicht. Der Philosoph wandelt, das Leben handelt. 156

Ph.: Wenn die Menschen immer so gedacht hätten, müßten sie heute noch Eicheln fressen und wüßten nicht, was der Vollmond ist. Zu den größten Unternehmungen sind nur ein Kopf und zwei Hände nötig. Hier habt ihr prächtige Steine, Eisen, Kupfer, schönes Holz: es fehlt nur euer Wille.

B.: Wohl haben wir alles. Die Natur war gut zu uns. Aber wieviel kostet es, so etwas ins Werk zu setzen!

Ph.: Ich versteh dich nicht mehr. Wovon sprichst du! Die Äcker tragen genug Kleidung und Nahrung für alle Bewohner. Unter der Erde schlummert bestes Material. Ringsum schlendern zweihunderttausend Nichtstuer: laßt sie arbeiten und gebt ihnen soviel Lohn, daß sie gut essen und sich kleiden können. Wie soll das dem Königreich Kaschmir so teuer kommen? Oder werdet ihr Perser oder Chinesen bezahlen, weil eure Bürger gearbeitet haben?

B.: Das alles ist richtig: dann gehen weder Geld noch Produkte aus dem Land.

Ph.: Warum fangt ihr nicht heute gleich mit der Arbeit an?

B.: Es ist zu schwer, so einen großen Apparat in Bewegung zu setzen.

Ph.: Wie aber habt ihr einen Krieg aushalten können, der viel Blut und Gold gekostet hat? 157

B.: Die Besitzer der Grundstücke und des Silbers mußten zu entsprechenden Teilen Kriegssteuer zahlen.

Ph.: Wenn also zum Unglück der Menschheit so gern beigesteuert wird, soll man's nicht auch zu ihrem Glück und Ruhm tun? Was? seit ihr ein Volksganzes bildet, gelang es noch nicht, daß alle Reichen alle Armen zur Arbeit zwangen? Habt ihr die ersten Polizeiregeln noch nicht erkannt?

B.: Und wenn alle Reis- und Leinenplantagenbesitzer und Viehhändler auch allen Bettlern Pilaw und Hemdstücke geben würden, damit diese die Erde pflügen und die Lasten tragen, wo wäre der Fortschritt? So müßte man doch auch die Künstler dazu zwingen, die das ganze Jahr lang mit anderem beschäftigt sind.

Ph.: Ich habe sagen hören, daß vom Jahr ungefähr 120 Tage in Kaschmir nicht gearbeitet wird. Warum verwandelt ihr die Hälfte dieser Festtage nicht in Werktage? Warum werden die arbeitsfremden Künstler nicht 100 Tage z. B. in den Staatsgebäuden beschäftigt? Dann werden auch die, die nichts wissen und nur zwei Arme haben, bald ein Handwerk gelernt haben und ein Industrievolk heranbilden.

B.: Die Mußezeit wird im Wirtshaus und im Freudenhaus verbracht, und aus diesen fließt wieder Geld in die Staatskasse. 158

Ph.: Herrliche Gründe! Aber das Geld kommt also durch Umlauf in den Staatsschatz. Kann Arbeit nicht ebenso den Geldumlauf fördern wie das Laster, das besonders Krankheiten fördert? Gereicht es wirklich dem Staat zum Vorteil, daß das Volk ein Drittel des Jahres sich besäuft?

*

Dieser Dialog dauerte noch lange an. Der Bürger gab dem Philosophen schließlich recht: das war das erstemal, daß ein Bürger sich überzeugen ließ. Er versprach, sich für die Sache einzusetzen. Aber der Mensch tut niemals alles, was er will oder kann. 159

Vaterland

I.

Hat ein Jude ein Vaterland? Wenn er in Coimbra inmitten einer Horde idiotischer Wilder geboren ist, die immerzu gegen ihn schimpfen, wird er ihnen ebenso idiotische Antworten geben, wenn er überhaupt antworten darf. Inquisitoren beaufsichtigen ihn und lassen ihn verbrennen, wenn er keinen Schinken ißt. Ist also Coimbra sein Vaterland? Kann er Coimbra zärtlich lieben?

Ist aber Jerusalem sein Vaterland? Irgendwer sagte, daß einstmals seine Vorfahren dies steinige, unfruchtbare, von schrecklicher Wüstengegend eingeschachtelte Land bewohnten, und daß heute die Türken darüber herrschen, ohne viel herauszuschlagen. Jerusalem ist nicht sein Vaterland. Er hat kein Vaterland: kein Quadratmeter der Erde gehört ihm.

Und haben in unseren europäischen Nationen all jene Mörder ein Vaterland, die dem ersten besten König für ein paar Münzen ihr Blut verkaufen? Viel weniger haben sie eines als der Geier, der 160 allabendlich in jenen Felsspalt zurückkehrt, wo seine Mutter ein Nest baute.

Haben die Mönche ein Vaterland? Sie sagen, der Himmel wäre es: da haben sie recht, denn hienieden kann es keins geben.

Aber was ist denn: Vaterland? Etwa jener fruchtbare Acker, dessen Besitzer, der in einem sauberen Hause wohnt, ausrufen könnte: »Dies Feld, das ich pflüge, dies Haus, in dem ich wohne, sind mein! Ich lebe unterm Schutz der Gesetze, die kein Tyrann verletzen darf. Wenn alle, die wie ich einen Acker und ein Haus besitzen, gemeinsam zusammenkommen, so habe ich eine Stimme im Rat. Ich bin ein Teil des Ganzen, ein Teil der Souveränität: hier ist mein Vaterland.

Man hat ein Vaterland unter einem guten König, man hat keins unter einem schlechten.

II.

Ein Bäckerjunge, der im Gymnasium gewesen war und ein paar Brocken Cicero kannte, behauptete eines Tages, er liebe sein Vaterland.

Was nennst du Vaterland? fragte ihn der Nachbar: ist es dein Backofen? ist's dein Geburtsdorf, das du nie wieder gesehen hast? ist's die Straße, in der dein Vater und deine Mutter wohnten, die aber, als sie ruiniert waren, dich zwingen mußten, kleine Kuchen immer zu backen, um leben zu können? ist's das 161 Rathaus, in dem du nicht einmal Schreiber des letzten Verwaltungsbeamten werden kannst? ist's die Kirche von Notre-Dame, wo du nicht einmal Chorjunge werden durftest, während ein Dummkopf sich Erzbischof und Herzog nennt und zwanzigtausend Louisdors Rente bezieht?

Der Bäckerjunge fand keine Antwort auf diese Fragen. Ein Denker, der zugehört hatte, dachte bei sich, daß in einem etwas größeren Vaterland oft mehrere Millionen Menschen vaterlandslos sind.

Und du, genießerischer Pariser, der du nie eine größere Reise als bis Dieppe unternahmst, um dort frische Fische zu verschlingen; der du nur dein schön angestrichenes Haus in der Stadt, oder eine schmucke Landvilla, oder deine Opernloge kennst, in der ganz Europa sich sonst langweilt; der du deine Sprache ziemlich gut handhabst, weil dir keine andere bekannt ist: das alles liebst du samt deinen ausgehaltenen Mätressen, Champagner aus Reims, deinen Renten, die dir das Rathaus halbjährlich auszahlt; aber du sagst, du liebest dein Vaterland.

Hand aufs Herz: liebt ein Bankier sein Vaterland ehrlich?

Lieben die Offiziere und Soldaten, die ein Winterquartier ausplündern, lieben sie die Bauern wirklich so innig? 162

Wo war Attilas Vaterland und das der hundert anderen Helden, die auf allen vier Wegen der Welt nur zuhause waren?

Sagt mir doch: welches war Abrahams Vaterland?

Ich glaube, Euripides hat im »Phaeton« zum erstenmal den Satz ausgesprochen, daß man dort sein Vaterland habe, wo man sich wohlfühlt.

Aber der erste Mensch, der seinen Geburtsort verließ und anderswo sein Glück suchte, der hat es noch früher gewußt.

III.

Ein Vaterland ist ein Konglomerat mehrerer Familien. Und wie man sich für seine Familie meistens aus Egoismus einsetzt (solange das nicht gegen das Eigeninteresse geht), so tut man es auch für die Stadt oder das Dorf, die man Vaterland nennt.

Je größer dies Vaterland ist, desto weniger liebt man's. Geteilte Liebe schwächt ab. Man kann unmöglich eine zu zahlreiche, kaum gekannte Familie zärtlich liebhaben.

Wer den Ehrgeiz hat, Aedil, Tribun, Prätor, Konsul oder Diktator zu werden, der schreit, er liebe sein Vaterland, und er liebt doch nur sich selber. Jeder will sicher sein, daß er abends ein Bett hat und daß es ihm nicht von einem andern weggenommen wird. Jeder will sein Gut und Leben in Sicherheit wissen. Und da alle den gleichen Wunsch haben, trifft 163 es sich, daß das Eigeninteresse zum Gesamtinteresse wird: man betet fürs Wohlergehen der Republik, während man doch an sich selber denkt.

Man findet unmöglich einen Staat auf Erden, der nicht zuerst eine Republik war: das ist der natürliche Lauf des Menschenlebens. Zunächst verbünden sich einige Familien gegen die Bären und Wölfe. Später gibt diejenige, die Korn zuviel hat, es einer anderen gegen Holz.

Bei der Entdeckung von Amerika fanden wir lauter Republiken und nur zwei Königreiche. Von tausenden waren nur zwei Völker botmäßig.

Und nun, was ist besser: ein monarchischer oder ein republikanischer Staat? Seit 4000 Jahren erörtert man diese Frage. Fragt ihr die Reichen, so ziehen sie alle die Aristokratie vor, das Volk verlangt die Demokratie: nur die Könige sind fürs Königtum. Wie aber kommt es, daß fast die ganze Erde von Monarchen beherrscht ist? Die einzige Erklärung ist die, daß die Menschen äußerst selten fähig sind, sich selber zu regieren.

Es ist traurig, daß man oft, um ein guter Patriot zu sein, der Feind aller übrigen Menschen sein muß.

Wer aber sein Vaterland weder größer noch kleiner, weder reicher noch ärmer haben will, als es ist: der ist der wahre Weltbürger. 164

 

Von der furchtbaren Gefahr des Lesens

Ich, Jussuff-Chefti, von Gottes Gnaden, Muphti des heiligen Türkischen Reiches, Leuchte unter allen Leuchten, Erster unter allen Auserwählten, biete allen Getreuen, die dieses zu Gesicht bekommen werden, meine Dummheit und meinen Segen:

Da jener Said-Effendi, der vordem Gesandter der Heiligen Pforte in einem kleinen »Frankrom« genannten Lande war – diesselbe liegt zwischen Spanien und Italien – uns das unheilgebärende Werkzeug der Buchdruckerei gebracht hat, besprach ich mich über diese Neuerung mit meinen edlen Brüdern, den Kadis und Imons der kaiserlichen Stadt Stambul, und vor allem den für ihre edle, gegen den Geist gerichtete Gesinnung wohlbekannten Fakiren. Und so hat es Mahomet gefallen, daß wir diesen Mann verbannen und verurteilen, und besagte teuflische Erfindung der Buchdruckerei verfluchen, aus folgenden Gründen:

  1. Diese Leichtigkeit, den Geist zu verbreiten und seine Gedanken auszusprechen, vertreibt ersichtlich 165 die Unwissenheit, die die Wächterin und Beschützerin wohlgeordneter Staaten ist.
  2. Es ist zu befürchten, daß sich unter den vom Westen importierten Büchern solche befinden, die über Landwirtschaft und andere Fortschritte auf mechanischem Gebiet Aufschluß geben, so daß diese Bücher auf die Dauer – was Gott verhüten möge – die Aufmerksamkeit unserer Bauern und Industriellen wecken, die Industrie anspornen und den Reichtum vermehren könnten, und ihnen so, eines Tages, das Herz öffnen, und ein gewisses Interesse für das öffentliche Wohl und eine gesunde Staatseinrichtung, also absolut entgegengesetzte Dinge, eingeben könnten.
  3. Zuletzt käme es soweit, daß man uns Geschichtsbücher fabrizieren würde, aus denen all das Heldenhafte und Wunderbare gestrichen wäre, das unser Volk in so glückseligem Stumpfsinn erhält. Dort würde man den groben Fehler begehen, die guten und die schlechten Taten auszusondern, Rechtschaffenheit und Liebe zum Volk würden sie predigen, was sichtlich unserer Rechtsordnung widerspricht.
  4. Im Lauf der Jahre würden uns dann elende Philosophen, unter dem klugen, aber strafbaren Vorwand, die Menschen aufzuklären und besser zu machen, gefahrvolle Tugenden lehren, wovon das Volk nie etwas ahnen darf.
  5. Durch Erhöhung des Respektes für Gott und durch gedruckte Bekanntmachung (was ein Skandal 166 wäre), daß dieser allgegenwärtig ist, würden sie die Zahl der Mekkapilger vermindern, zum großen Schaden ihres Seelenheils.
  6. Zweifelsohne würde es endlich dazu kommen, daß durch andauernde Lektüre der westlichen Schriftsteller, die über die ansteckenden Krankheiten und deren Heilung vieles geschrieben haben, über uns das große Unglück hereinbräche, daß wir uns vor der Pest schützen könnten, was wiederum ein schlimmes Attentat gegen die Vorsehung wäre.

Aus diesen und manchen anderen Gründen, und zur Erbauung und Beruhigung des Getreuen, verbieten wir ihnen, je ein Buch in die Hand zu nehmen, unter Androhung ewiger Verdammnis. Und aus Furcht, daß die diabolische Versuchung, zu lesen, sie erfaßte, verbieten wir allen Vätern und Müttern, ihren Kindern das Lesen beizubringen. Um ferner jegliche Abschweifung von diesem Befehl unmöglich zu machen, verbieten wir ausdrücklich unter gleicher Strafandrohung das Denken. Mögen uns alle Gutgläubigen jene anzeigen, die vier Sätze hintereinander logisch aussprechen: was auf einen klaren Sinn hinweisen würde. Der Befehl geht dahin, daß man sich in jedem Gespräch nur der Phrasen bedienen darf, die keinen Sinn haben, wie es bei der Hohen Pforte von altersher Sitte ist.

Und mit der Verhinderung des Schmuggels klarer Gedanken in die heilige Kaiserstadt betrauen wir 167 den ersten Arzt seiner Hoheit, der in einem Tümpel des nördlichen Westens geboren ist. Da dieser Arzt schon vier hohe Personen des Herrscherhauses umzubringen verstand, hat er mehr als jeder andere ein besonderes Interesse daran, das Eindringen der Wissenschaft in unser Land zu verhüten. Hiermit geben wir ihm die Vollmacht, jede schriftliche oder mündliche Idee gleich an den Toren der Stadt zu beschlagnahmen und uns dieselbe tot oder lebend vorzuführen, damit ihr jene Strafe zuteil werde, die uns gutdünkt.

Gegeben in unserem Palast des Stumpfsinns, am 7. des Muharem-Mondes, im Jahre 1143 der Geschichte. 168

 


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