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17. Kapitel

Nun wußte Edmund doch nicht recht, was er getan hatte, als er sich plötzlich in einem Spiegel in der Auslage eines Konfektionsgeschäftes auf dem Boulevard Saint-Michel sah. Hatte dieser Mund die haltlosen Sätze gesprochen, die jetzt in seinem Hirn irgendwo blaß lagerten wie die fortgeschobenen Gewitterwolken am Horizont? Hatten diese Augen jene Szene beleuchtet: das schwarzrosa verdämmernde Hotelzimmer gegenüber dem ewigen Pantheon, wo dunkle Gestalten ums Haupt einen zerfließenden Goldschleier trugen, wie in einer sehr romantischen Erzählung?

Und hier war faßbare Wirklichkeit: die lächelnden Wachsmenschen, in schwarzem Jackett und Zylinder heimkehrend vom Turf, oder blondhell mit spannender Tennishose den Triumph des Lebens proklamierend, trugen stolz auf der Brust kunstvoll bemalte Etiketten mit der Aufschrift: 500 Fr. oder Ultra-Chic.

In dem Laden nebenan gab es Veilchenseife, Götterparfüms, Meerschwämme: die ganze Natur zum körperlichen Gebrauch des Menschen verarbeitet und veredelt, Geruch von Gebirge und Quellen, sämtliche Zauberformeln zur Betörung der Nymphen und Jungfraun. Billige, aber feste Preise.

In dem Geschäft weiter links standen Bücher: eine ganze Auslage voll gleichartiger, kanariengelber Romane. Und zum erstenmal seit langen Wochen wieder überlegte Edmund, wie unscheinbar unter diesen vielen ähnlichen Umschlägen unermeßliche Gefühlswelten, Ereignisse, Leiden und Träume aufgestapelt waren, die man sich aneignen konnte, die da zu kaufen waren, für jedermann.

Das Wunder des Alltags.

Wie beneidete er in diesem Augenblick die einfachen Menschen, die da an ihm vorübergingen, einem erreichbaren »Zweck des Lebens« entgegengingen, und nicht gleich dem ganzen ungreifbaren »Leben«! Seine und seiner Generation Tragik lag wohl darin, zu Vieles und zu Hohes gewollt zu haben. Und nun, da alle Revolutionen, die des Herzens sowohl wie die des Proletariats, zerschellt waren, und da die Menschen im Sumpf der Gemeinplätze und der mißratenen Ideologien ratlos wie nach einer Überschwemmungskatastrophe umherirrten, was war noch zu tun? Die ganze Epoche war verpfuscht. Ein schmutziger Blut- und Tintenfleck in der Weltgeschichte. Es war nichts Großes mehr zu wollen, kein Ruhm mehr herauszuholen.

Ganz klein, ganz resigniert mußte man werden. Dem einzelnen erscholl der Alarmruf: »Sauve qui peut!« Wie nach der Sintflut. Mochte jeder still und ohne weiter als den Rand seines Berges zu sehen, sein Häuschen irgendwohin bauen, und ganz von vorne wieder anfangen, dumm und ruhmlos. Ein Weib, zwei Kinder, sechs Hühner, und nach dreißig Jahren Arbeit eine Pension. O wieder einfach werden, still und unbekannt.

Aber für ihn gab es kein Wunder mehr. Er war von nun an ausgeschaltet aus dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, aus dem der Liebe. Er hatte sich selbst exiliert. Eben hatte er die Türe hinter sich zugeschlagen, hinter der er jahrelang gestanden, ohne sie zu überschreiten, hinter der er gefroren und gehustet hatte, hinter der er aber auch nachts die Sterne hatte klingen hören und tags die goldene Kawalkade der begüterten Sommer- und Blumenvölker hatte vorüberziehen sehen. Der Liebende. Der heute zum erstenmal nicht mehr Liebende.

Und nun war der Boulevard Saint-Michel, war ganz Paris matt und wunderlos, wie die Pappekulissen in den Filmateliers, wenn die tausendvoltigen violetten Platinlampen ausgelöscht sind und die berühmte, parfümierte, nervös lachende Diva nach Hause gefahren ist. Er sah sich noch einmal im Spiegel, und wandte schnell den Kopf weg. Häßlich waren ja seine Züge, allgemein, uninteressant. Er liebte nicht mehr. Nun war er ein Mensch wie alle Menschen. Ohne jegliches Privileg. Nichts, das ihn über das Mittelmaß erhob. Wie hatte er sich das nur einbilden können!

Paris? Menschen hier wie überall, die arbeiten, um essen zu können, essen, um arbeiten zu können. Ein wenig mehr Kinoglanz um die Abende, ein wenig mehr Schminke um den Mund der Frauen, aber sonst: die gleiche Einsamkeit wie überall. Was konnte er hier noch suchen? Ein Erlebnis? Wohl mit einer ausgeleierten Großfürstin in einem Hotel Meublé? Eine Philosophie? Er hatte die Menschengüte gepredigt, dann den Zynismus entdeckt und durchschaut, und es blieb nun nichts anderes übrig, als einfach sich zu ergeben, und möglichst angenehm zu essen, zu schlafen und zu sterben.

Mit diesen Russen, mit dem östlichen Imponderabel war wahrscheinlich für den Gedankenmenschen, der er war, nichts anzufangen. Schon wieder überkam ihn dabei die Manie, zu klassifizieren. Viele Menschen ohne starkes psychologisches Fundament kleistern sich eine Menschenkenntnis zusammen, indem sie den verschiedenen Nationen allgemeine Wesenszüge aufkleben, wie z.B. der Grieche ist falsch, der Algerier ist lügnerisch, etc. So arbeitete er wieder eine Tabelle aus: der Osteuropäer ist Sinnenmensch, der Mitteleuropäer Gedankenmensch, der Westler Vernunftmensch. Ewersejeff, Edgar. Ewersejeff, Edgar. Und er. Das vergleichende Karussell ging in seinem Kopf herum. Die andern haben gesiegt, warum nicht er? Gesiegt? Was heißt da Sieg?

Langsam, und die Augen nur noch nach innen gerichtet, war Edmund wie ein Traumwandler zum Châtelet-Platz hinuntergewandert. Er stieß einen gequälten Schrei aus, als wäre ihm jemand auf den Fuß getreten, und hatte doch nur Seelenweh. Ein alter Mann, der gerade vorüberkam, drehte sich nicht einmal um. Der Platz liegt zwischen zwei Theatern, dem Châtelet, in dem die großen bürgerlichen Epopöen für Metzgerinnen und Versicherungsagenten aufgeführt werden, und dem Théâtre Sarah-Bernhardt, in welchem der goldene Schatten der großen Tragödin noch lebt: man geht hinein, weil sie auf jenen morschen Brettern stand und dort in der verlotterten Loge litt, ohne zu wissen, was heute für ein Titel auf dem Zettel steht.

Die Menschen standen Schlange, um hineinzukommen. Sie bildeten vor den Eingängen zwei große, sehr dekorative Schnörkel. Die großen Affichen waren äußerst primitiv gemalt, vielleicht absichtlich, um dem Pariser Bürger die heimelige Illusion der Tradition zu lassen.

Die Theater waren von Wachen der Garde Républicaine im Goldhelm mit schwarzen Roßhaarwedeln behütet, was dem Abenteuer des Theaterbesuchs eine romantische Note mehr verlieh. Der Programmverkäufer verkündete mit wilder Energie, daß er das einzig offizielle Programm zu vergeben habe. Das Wort »offiziell« war höchst imposant und einschüchternd.

Edmund ging aber nicht hinein. Ein Taxi hielt vor ihm: er rief dem Chauffeur die Adresse des Bœuf sur le Toit zu. Welche andere sonst? Sonst hatte Paris ihm nichts zu bieten.

Er hatte Pech. Die Bar war vollkommen leer. Sogar der Barman war abwesend. Um halb neun Uhr abends: was für eine Idee, in die Bar zu gehen. Edmund sah sich um. Wie klein der Raum, kellerhaft, ja eine Bar, bar aller Illusion, wo gestern der Barbar der Neuzeit nackt zu den Negerrhythmen tanzte. In diesem Raum, der in einer bürgerlichen Wohnung für ein Speisezimmer als viel zu klein gegolten hätte, konnten sich mitternachts hundert, zweihundert, dreihundert Menschen drängen, schieben, tanzen und berühren. Traurig erschien ihm jetzt das Dekor, wie eine verlassene Bühne nach der Vorstellung, und alles war nur Schein und Lüge, der Weltschmerz Hamlets wie Julias Liebe. Cocherels eleganter Zynismus und Edgars ehrliche Unehrlichkeit, nur scheinbare, schnell verwelkte Fahnen dieses Jahrzehnts. Hier ein »Zweck des Lebens«? Keine Werte, kein Trost, nirgends, weder in der Güte noch in der Schlechtigkeit, weder in den ruhigen Familien noch bei den Verbrechern der Vorstadt.

Für einen Menschen wie Edmund, der nur vom Gedanken, oder wie er sich anfangs ausgedrückt hatte, vom Ideal lebte, war das eine tragische Erkenntnis. Denn das eine war sicher, unendlich sicher: alle Ideale waren ihm einzeln, eins nach dem andern, abgewürgt worden, und sein letztes – Lola – hatte er sich selbst aus der Seele herausgeschnitten.

Ein altmodischer Mensch in dieser bizarren Stadt, die Mittelalter und Amerikanismus zart in ihren Gobelins verarbeitet.

Aus dem Hinterstübchen kam die Bardame hervorgehuscht, die gestern aus goldenem Haar und silbernem Nymphenkleid bestand, jetzt ungeschminkt, unfrisiert, mit einer Serviette um den Hals und einem braunen Kotelettknochen in der Hand: sie erkannte Edmund und lud ihn, ohne sich zu genieren, zum familiären Abendmahl ein. Er aber entschuldigte sich vage, sagte er habe nur seinen Bruder gesucht, und verschwand, schamhaft, als sei er in seiner Intimität ertappt worden, und nicht sie!

Er floh. Er stand einsam wie ein Hund auf dem Boulevard de la Madeleine. Zu dieser Stunde sind die Straßen trostlos leer. Die Menschen haben sich alle in die verschiedenen Paradiese geflüchtet, die einen ins schwarzweiße der Films, andere ins bunte des Alkohols, und die meisten ins schneeweiße eines Bettes. Wehe denen, die um diese Abendstunde den Anschluß nicht gefunden. Sie sind elender als die Obdachlosen, die sich unter den zugigen Brücken der Seine schlafen legen, auf einem Sack mit Sand oder einem eben ausgeladenen Vogesensteinquader. Denn diese haben für ihre ungeheure Einsamkeit eine tatsächliche Armut als Entschuldigung vor sich selber: aber ein Mann wie Edmund ist einsam in der Seele!

Weil er die letzten sechs Abende im Bœuf gepraßt und übrigens nun scheinbar zur Cocherelbande gehörte, hatte ihn die Bardame eingeladen, mit den Kellnern und Portiers zu speisen und zu warten, bis die Stunde des alles verwischenden Jazz gekommen wäre. So war er heruntergekommen! Er hatte niemand in Paris, niemand auf der Welt. Mechanisch war er in die Bar gefahren, gedankenlos hatte er nach seinem Bruder gefragt, aber wozu? Er wußte, daß dieser ihm schnippisch nur hinwerfen würde:

»Eh bien! Und deine Ideale?«

Wovon lebt denn die Menschheit? Immer nur von der Hand in den Mund? Nicht immer. Aber diese Epoche war eine der gräßlichsten in der Weltgeschichte. Die ungeheure Blutüberschwemmung des Weltkrieges hatte sämtliche Wege des Geistes, Landstraßen der Kultur, Kanäle der seelischen Vertiefung verwischt und zerstört. Ein Ödland der Seele war Europa. Jeglicher Glaube war verloren: der Glaube an einen Gott, der Glaube an die Liebe, und selbst der Glaube an die Erde. Womit, wovon, wofür lebten die Menschen? Viele seiner Zeitgenossen meinten, es sei eine sehr große Zeit, eine der größten, da in der geringen Zeitspanne von dreißig Jahren mehr »Wunder« geschehen waren, als in den vorhergehenden dreitausend Jahren.

Ja, nur das Wunder des Lazarus, das hatten sie nicht mehr!

Das Ideal!

Als er gerade den Boulevard verlassen wollte, sah er am Untergrundbahneingang einen jungen Mann in Livree mit einer ältlichen Frau stehen, die ihn mit ihren mageren Armen fest umschlang und ihm einen langen, langen Kuß gab. Solche Szenen sieht man meistens nur in großen Häfen, wenn die Überseedampfer schon rauchen. Die Frau hielt ein Körbchen im Arm: sie mochte wohl von ihrem Sohn, der in einem großen Hotel der City beschäftigt war, einige Küchenreste bekommen haben und fuhr jetzt in die Dunkelkammer irgend eines in der Vorstadt zerfallenden Lattenhauses zurück. Aber als sie sich endlich getrennt hatten, und die Mutter schon mit tränenverhüllten Augen die Treppe hinuntertorkelte, rief ihr der Liftboy mit ausgestreckten Armen noch einmal nach:

»Maman!«

Wie ein Kristallglas schwang und klang Edmunds Herz.

Das Volk, das Volk, das hatte noch seine Ideale!

Er dachte an seine Mutter, die rothaarige, die ungealterte stille Frau, die er seit jenem ersten Abend nicht wiedergesehen hatte, warum hatte er sie nicht wiedergesehen? Er wagte sich den Grund nicht einzugestehen, denn es war viel Feigheit dabei und Mutwille. Schließlich hatte er wohl auch erwartet, daß sie ihn wieder einmal zu sich einladen würde. Es fiel ihm jedoch nicht ein, daß er allen Regeln der Courtoisie (von denen der Kindesliebe nicht zu sprechen) zuwider sich nicht mehr von selbst bei ihr gemeldet hatte, und daß das ein nicht wieder gut zu machender Fehler gewesen war. Aber die triftigste Ausrede vor sich selber war wiederum die vollkommene Inanspruchnahme seines Wesens durch Lola. Jetzt entschloß er sich, einfach vorzusprechen.

Ach eine Mutter zu haben, eine Schulter, weich und warm, an die man den Kopf legen kann, und die keinerlei Erklärung verlangt: schluchzen, nur schluchzen, und die Augen zudrücken, den Mund zudrücken, das Herz zudrücken – bis endlich alles unter dem elektrischen Kontakt leiser Finger über dem Haar sich auftut, der Mund zum Schrei, das Auge zu Tränen, das Herz zum Bekenntnis! Mutter! Mama! Erde! Fleisch! Einfachheit! Seele ohne Worte! Verständnis ohne Ideal!

Er läutete. Das Glockensignal brachte große Unruhe ins Haus. Der Diener kam auf den Zehenspitzen bis zur Tür, und ging unschlüssig wieder weg, ohne aufgemacht zu haben. Zu solcher Stunde ein ungemeldeter Besuch: das war seit zehn Jahren nicht vorgekommen. Wie konnte auch nur die Concierge unten den Eindringling so ohne weiteres durchgelassen haben! Edmund läutete ein zweites Mal. Es kam drinnen zu einer Beratung zwischen dem Diener und der Kammerzofe. Schließlich ging ein dünner Spalt auf. Edmund beeilte sich hineinzuflüstern:

»Sagen Sie Madame, daß ihr Sohn draußen steht!«

Der Spalt schloß sich wieder, und erst nach drei weiteren Minuten erhielt Edmund Einlaß.

Madame de Tizac saß an einem zierlichen, apfelgrünen Empiretisch und spielte Bridge. Ihre Partner waren der bereits bekannte Monsieur de Saintes, Madame Lévèque, dessen Nichte, die etwa dreißigjährige und wenig betrübte Witwe eines Flugzeugfabrikanten, und der Sekretär eines Unterstaatssekretärs, M. de la Mazière. Obwohl Edmund gemeldet worden war, schienen alle in das Spiel noch ganz vertieft, und erst, als er einige Schritte dem Tisch zu gemacht hatte, sprang Madame de Tizac auf und hielt ihm die Hand hin, auf die er den erwarteten Handkuß nicht drückte:

»Da sind Sie, böser Ausreißer! Was? Sich wochenlang bei seiner Mama nicht zu melden! Gott sei Dank konnte mir Edgar über Ihre Gesundheit sichere Auskünfte geben!«

»Ich, ich war sehr unglücklich ...« wollte Edmund an ihre Backe flüstern, aber das letzte Wort kam nicht aus der Gurgel heraus.

»Paris! Paris ist unsere große, größere Allmutter!« sagte Herr de Saintes, während er die Karten mischte. »Man verliert die Adressen, man verwechselt die Straßen, man vergißt das Normalmaß der Stunden und Tage ... Wenn ich ein Romancier wäre, würde ich meinen Helden die größten Unwahrscheinlichkeiten erleben lassen, denn das Unwahrscheinliche, müssen Sie wissen, ist die Speise des Alltags – ich würde ihn in ein unbekanntes Haus treten lassen, im vierten Stock läuten, dort mit dem öffnenden alten Mann Bekanntschaft machen, dessen Tochter am nächsten Tag zur Braut nehmen, dann mit dem Untermieter im dritten Stock ein Schirmgeschäft begründen lassen und so weiter, und so weiter. Heute hat kein Dichter mehr Phantasie. Sie verlassen sich alle auf die sogenannte Realität, die die größte Lüge unserer Logik ist!«

De Saintes hatte eine gütige und alles mildernde Artigkeit, wie ein fürsorglicher Familienvater: er war aber nur der Geliebte der Madame de Tizac.

Herr de la Mazière war einmal, nach einer Aufführung des Rosenkavaliers in der Oper, eine halbe Stunde lang im Bœuf gewesen und erinnerte sich, Edmund in der Reihe der tobenden Jeunesse dorée bemerkt zu haben. Diese Tatsache bewog Madame Lévèque, einen Moment lang ihre blauen, schwarzumrahmten Augen auf der hageren Gestalt Edmunds ruhen zu lassen, und sich zu fragen: »Hat er versteckte Leidenschaften? Sein Mund ist nicht sinnlich. Vielleicht weiß er eine Adresse, wo man sich Opium verschafft. Aber seine Antworten sind wirklich banal« Und ihre blauen, schwarzumrahmten Augen, die noch Trauer trugen, fielen wieder auf den Kartenfächer, den sie mühsam mit dem linken Daumen zusammenhielt.

Edmund war auch wirklich heute weniger denn je fähig, die leere, plätschernde Unterhaltung zu führen, die sich in den Salons gehört. Um so weniger, als sich das ganze Hauptinteresse um ihn drehte, und er in vollkommener Geistesform hätte sein müssen, um dem Maschinengewehrfeuer dieser vier überkultivierten und überziselierten Gesellschaftsmenschen standzuhalten, die, in ihrem Spiel gestört, entweder durch ein geistreich kitzelndes Scharmützel entschädigt werden, oder aber ruhig zu ihrem Spiel zurückfinden wollten. Eine gewisse Nervosität durchzitterte bald den Salon, die ihren Gipfelpunkt erreichte, als Madame de Tizac ihren Sohn fragte:

»Wollen Sie ein Glas Orangeade?«

Sie brannten alle, weiterspielen zu können.

Aber Edmund brannte, ihnen die Qual zuzuschreien, die ihn würgte, seiner Mutter um den Hals zu fallen, die doch so milde aussah, so still, so lächelnd: die Wangen rund und zart gerötet wie kleine afrikanische Apfel, die Augen feuchtstrahlend und honigbraun, und das Haar, so jugendlich gewellt und keck. Er hatte nie eine Mutter gehabt, und diese, sie schien die schönste von allen. Warum hatte sie ihn nie eine Stunde allein zu sich gerufen, warum war er nie zu ihr geschlichen und hatte ihr gebeichtet, was er litt! Jetzt war es zu spät, zu spät. Die Dinge, die in dieser Minute aufschwollen und seine geschnürte Kehle bedrängten, sie steigen nur einmal aus dem Innersten, Unbekanntesten, Allerheiligsten des menschliches Leibes empor, einmal, wie die königlichen Blüten gewisser Südpflanzen, und dann nie wieder, nie wieder. Und Madame de Tizac erbot sich nicht, sie zu hören, sie an sich zu nehmen, wie man die Wertgegenstände jemandes annimmt, der eine große Reise vorhat und diese schwerste Last in einem sicheren Hause deponiert. Das Herz dieser Mutter war, ach, kein sicheres Heim. Edmund wurde in ihrem eigenen Salon ärger behandelt als ein Fremder. De Saintes schien das zu spüren, und mit dem seltsamen Gefühl der Verantwortung, die der Mann, jeder Mann an der Seite einer Mutter hat, versuchte er, die schon langsam aus den Fugen gehende Brücke zwischen ihr und dem Sohn zu reparieren. Er warf die Karten hin und sagte, er habe keine Lust mehr zu spielen: Edmunds Erscheinen sei heute Abend geradezu ein Labsal für ihn, und er freue sich, Neues von ihm und von der neuen Jugend von heute zu erfahren.

Alle Partner waren verblüfft.

De Saintes war aufgestanden, hatte sich neben Edmund gestellt und klopfte ihm auf die Schulter:

»Übrigens wissen Sie, lieber Freund, ich habe über unsere letzte Unterredung viel nachgedacht. Ihre politische Theorie ist gar nicht so ohne. Die Völker brauchen genau wie die Individuen, Verjüngungskuren. Wir, wir haben hier die Arteriosklerose. Dafür gehen wir ja auch nach Vichy und zu Voltaire. Die täuschen uns aber nur über die Altersgrenze hinweg. Im Grunde ist es wichtig, rostiges Eisen einzuschmelzen. Letzten Endes habt ihr Bolschewiki vollkommen recht.« Herr de la Mazière sah Frau Lévèque groß an. Diese verkniff kaum das Lachen.

»Ihr Bolschewiki?«

Kein Wort in der Welt hätte in diesem Augenblick Edmund mehr beleidigen können, und niemand hier konnte verstehen warum. Jetzt, jetzt erst erkannte er die grenzenlose, nicht mehr gutzumachende Einsamkeit, die ihn umgab. Mißverstanden, unverstanden immer und überall. Hier verhöhnt als Bolschewik, und vor wenigen Stunden vom Bolschewiken Ewersejeff verhöhnt als dieses Namens auf ewig unwürdig.

Er spürte das ätzende Gift unter der Höflichkeit des alten Herrn, obwohl dieser im Augenblick gar nichts anderes beabsichtigt hatte, als Edmund auf ein objektiv politisches Terrain hinüberzulotsen, wo er die Segel ein wenig hätte ausbreiten und in der Gesellschaft leidlich lavieren können. Dieser Versuch mißlang leider. Kein Mensch im Salon verstand den Ton und den Sinn dieser Replik Edmunds:

»Ich bin kein Bolschewik!«

Ja, was denn, in Gottes Namen? Nicht salonfähig (weil nicht fade genug), nicht barfähig (weil nicht unehrlich genug) und dennoch nicht revolutionsfähig?

Jetzt vollends verlor er allen Glanz und alles Interesse in den Augen der Anwesenden. Als radikalem Gesinnungsmenschen verzieh man ihm die geschmacklose, rotviolett gehäkelte Krawatte und die schlechtgepflegten Fingernägel. Aber ohne die Aureole des Nihilismus (dies veraltete Wort hatte in Salons noch Tauschwert) es wagen, mit ungeschorenem Nackenhaar vor die Vertreter der Elite zu treten und den Anspruch erheben, von diesen geliebt und gar geherzt zu werden, das grenzte an Naivität oder Wahnsinn.

Die Mutter schämte sich ihres Sohnes. Sie hatte ihn das erste Mal mild und gütig bemängelnd auf sein Äußeres hingewiesen. Mehrere Wochen Pariser Aufenthalt und ein ganz klein wenig Verständnis für Zivilisation hätten ihn belehren müssen. So aber war alles umsonst. Sie war traurig, sehr traurig.

Aber eine Traurigkeit war es, die Edmund haßte und verachtete. Er, der anfangs hier hätte knien und die Schuhspitzen der edlen Mutter hätte küssen wollen, reckte sich nun stolz zurück. Es hatte gar keinen Zweck, vor diesen Menschen sich in umgekehrter Weise zu erniedrigen, wie am Nachmittag im Hotel des Grands Hommes, und ihnen zuzuschreien, wer er war, was er fühlte, wie er litt.

Er nahm plötzlich steif Abschied, und seine Mutter, die ihn durch den langen Gang bis zur Flurtür begleiten wollte, bat er ironisch, sich nicht zu bemühen und sich ja nicht zu erkälten.


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