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3. Kapitel

Zwei Brüder, Vertreter zweier polar entgegengesetzter Generationen, fuhren in diesem roten Taxi den Boulevard St. Germain hinunter. Zehn Jahre Unterschied, zwei Welten. Der Jüngling des Vorkriegs und der des Nachkriegs. Der trotz allem Leid Hoffnungsvolle und der trotz allen Festen Hoffnungslose. Der gütige Dicke und der boshafte Schlanke. Das Ja und das Nein. Edmund und Edgar.

Madame de Tizac, von griechischer Abstammung, im klassischen ägäischen Meer geboren, war in erster Ehe mit einem bedeutenden Reeder in Malta verheiratet gewesen, dem man später oft nachgesagt hat, er sei deutschen Ursprungs gewesen. Sie gebar Edmund auf dem Überseedampfer »Alighieri«, an einem Morgen, an dem gerade die perlgraue rosige Küste gesichtet wurde. Das Kind bekam vom ganzen Schiff Geschenke, die schönsten und die einzigen seines Lebens. Edmund besaß davon heute noch ein in Elfenbein gebundenes Notizbuch, in das ein afrikanischer Missionar ein Gedicht von Mörike hineingeschrieben hatte, und eine Suez-Aktie, von einer reichen Irländerin, die in seinen Vater verliebt war.

Das Papier stellte später das einzige Kapital dar, das ihm von seinem Vater geblieben. Denn dieser, in unglückliche Unternehmungen verwickelt, siedelte bald darauf in die Schweiz über und starb dort, als Edmund acht Jahre alt war.

Die Mutter steckte ihn in ein Institut und ließ sich nach wenigen Monaten von einem Mitglied der französischen Gesandtschaft nach Paris entführen.

Edmund verbrachte eine uninteressante und idealistische Jugend in den Schweizerbergen: angesichts eines Gletschers lernte er »De virtute« übersetzen, den Begriff der Treue aus den »Nibelungen« und den Corneillischen Dramen herleiten, was aber seine Lehrer vor allem von ihm verlangt hatten, war die genaue Kenntnis der Bodengestaltung der Schweizerkantone, die Tiefe der Seen und die Namen aller Stationen der Eidgenössischen Eisenbahnen in Glarus. Also klassisch gebildet bezog er die Universität von Lausanne.

Er lernte das waadtländische Zivilrecht. In einem vermorschten Klosterbau, zu dem man auf gefährlich knarrenden Treppen und waghalsigen Wegen hinauf kletterte, in Bänken, in die noch die Namen heute hundertjähriger Bräute eingeschnitzt waren, versaß Edmund seine kräftigsten Jahre. Da kam der Krieg. Edmund hatte nie gewußt, welcher Nationalität er angehörte, ob er Grieche war wie sein Vater, Franzose wie später seine Mutter, oder Glarner, wozu ihn sein Vormund, ein entfernter Verwandter, naturalisieren lassen wollte. Er war auf wogendem Meer geboren, zwischen den Kontinenten.

Schließlich wurde er Schweizer und entdeckte gleichzeitig sein »über dem Getümmel schwebendes« Herz. Romain Rolland war an den Genfersee geflüchtet und hatte dort, in einem kleinen Hotel, das den Namen Byrons trug, Europa entdeckt. Endlich, endlich fand der Enthusiasmus, der in jeder jugendlichen Brust wie ein Naturkraut wächst, geeigneten Boden: Edmund fuhr zu Rolland und wurde sein erster Apostel. In einem feierlichen Zeitungsartikel beschrieb er die Zufluchtstätte des großen Denkers wie die neue Arche Noah über der Blutflut.

Langsam war er dann in politisches Getriebe linkshin geglitten. Jemand nannte seinen Namen in einer Zeitschrift, und schon hielt er sich für berufen. Mit Deserteuren aller Länder, mit Russen, Türken, Deutschen, Franzosen, Serben und Irländern zusammen buchstabierte er die Worte Menschlichkeit, Güte, Brudertum. Er wurde der Verwaltungschef der Bruder - A. G. Romain Rolland war der Gott dieser religiösen Bewegung. Altäre wurden ihm errichtet in den Cafés von Genf, Bern, Zürich und Locarno.

Sozialisierende Sekten schlossen sich der Bewegung an. Die noch in unbekannten vegetarischen Restaurants und russischen Lesestuben umherirrenden Theoretiker der Revolution klopften ihm manchmal auf die Schulter, und deshalb konnte er später stolz berichten, daß Trotzki, Lenin und Lunatscharski seine besten Freunde gewesen waren. Er übersetzte eine Novelle von Tolstoi für das »Droit du Peuple«. Er rezitierte Dichtungen Verhaerens bei der Totenfeier des großen belgischen Poeten.

Kurz, Edmund war ein neuer Europäer und Freiheitskämpfer geworden. Er hatte ein Programm: »Die Menschengüte«, und wer ein Programm im Leben hat, der hat es gut: er braucht nicht mehr zu zweifeln. Er reiste mit diesem von Stadt zu Stadt, empfing an den Bahnhöfen die aus den Kriegsbastionen entflohenen Kameraden, organisierte, schrieb, sprach, hoffte. Am Ende war die Revolution. Gefahren gab es, öffentliche und verbotene Versammlungen, Prozesse, Gefängnis.

Endlich die Russische Revolution, der Friede, der Völkerbund, Tagore und Gandhi, und dann, und dann ...

Dann sah sich Edmund eines Tages in seinem möblierten Zimmer um und rief: »Wo ist mein Ich?«

Nach dem Waffenstillstand aber, nach Beendigung der Sintflut, kehrten die internationalen Menschheitsfreunde jeder in sein Land zurück und paßten ihr müdes Ideal den Notwendigkeiten des Tages und der Mitmenschen an. Das heißt, die meisten mischten ihren Wein mit Wasser und tauschten die großen Ziele gegen kleinere, aber nähere Aufgaben ein. Edmund blieb allein in der Schweiz zurück. Er hatte keinen richtigen Beruf. Das Studium des waadtländischen Zivilrechts hatte er längst aufgegeben und niemals ein Examen gemacht. Zum erstenmal überlegte er, daß die Jugendjahre vorüber waren.

Da hatte er sich erinnert, daß er in Paris eine Mutter und einen Halbbruder hatte. Während des ganzen Krieges war der Kontakt zwischen ihnen unterbrochen gewesen, nachdem ihn die Mutter im September 1914 aufgefordert hatte, in die französische Armee einzutreten und er ihr als Antwort einen seiner ketzerischen Artikel geschickt hatte. Der jüngere Bruder Edgar war damals zwölf Jahre alt gewesen und wußte von Edmund fast nichts. Und dessen Vater, der zweite Gatte der schönen Griechin, Bertrand de Tizac, war bei Château-Thierry gefallen, was auf den fernen Stiefsohn einen noch dunkleren Schatten geworfen hatte.

Langsam aber, nach dem flügellosen Frieden, flaute die Stimmung von Tapferkeit und Tugend ab, und die Frauen waren die ersten, die den Heroismus, der zu nichts geführt hatte, in mancher Weise lächerlich fanden. Zu Weihnachten schrieb Frau de Tizac ihrem Sohn einen leisen, sehr vernünftigen Brief, und fragte ihn, ob er nicht einmal nach Paris kommen wolle.

Da war Edmund nun, entwurzelt wie ein Bauer. Sein Konfektionsanzug saß schlecht. Er trug zu einem bunten Hemd einen weichen weißen Kragen. Keine Handschuhe. Bis jetzt war sein äußeres Auftreten immer zweiten Ranges gewesen, selbst wenn er in der Nähe von Frauen gelebt hatte.

Das heimatliche Gefühl, das er am Morgen bei der Einfahrt in Paris empfunden hatte, verschwand. Die Lichtreklamen, wie ein sommerliches Feuerwerk, entzündeten die Straßen. Alles schien festlich aufgeregt. Und er so wenig darauf eingestellt. Edgar neben ihm schwieg, mit ziemlich gelangweiltem Ausdruck: da wagte Edmund nicht mehr, zu staunen, sich zu wundern, sich zu freuen und Fragen zu stellen.

Als sie aber über den Concorde-Platz fuhren, der mit seinen hundert silbernen Bogenlampen wie ein Diamant in Platinfassung schimmerte, hielt er es nicht zurück: »Wie herrlich!«

Edgar rief mißmutig: »Der letzte Schmuck einer alten Kurtisane. Mit viel Schminke und rotgefärbten Haarwellen. Wen ich dir einmal das richtige Paris zeige, die Kloaken, die baufälligsten Ruinen Europas, reines Mittelalter noch überall, und mittelalterlich die Menschen, das Ende eines Jahrtausends, kein Anfang. Kein Grund, stolz zu sein!«

Warum machte Edgar jetzt auch Paris herunter?

»Wie sind die Freunde, zu denen wir fahren?«

»Lauter Menschen, die nicht wissen, was sie wollen. Die sich unerhört langweilen. Die den glänzendsten Esprit von Frankreich versprühen. Aber auch der Esprit nützt sich ab. Es sind alles ganz junge Menschen, die nur aus Raffinement oder Freude am Kontrast manchmal einen Fremden bei sich aufnehmen. Aber im Grunde sind sie schon alte Weiber und wie Voltaire: voll Neugier und Médisance. Sie haben zuviel Geist und zu wenig Ideen, und wissen darum nicht, wie den ersten verspritzen. Ich sage dir das, weil du mein Bruder bist. Ich gehöre ja auch zu ihnen, und verderbe ein wenig das Spiel.«

Das Taxi hielt in einer der belebtesten Straßen, wie ein Boot andauernd von den Wellen der Flut geschlagen. Der Hof des Hauses indes, in den sie traten, war kühl und still wie ein Bergsee. Im Vestibül stand ein großer Spiegel, diskret genug, um nur den Eingeweihten aufzufallen und die Fremden nicht zu erschrecken. Edgar, mit einem Blick, ermaß den ganzen Unterschied zwischen sich und Edmund: keiner wird mir glauben, dachte er, daß das mein Bruder sein soll.

Cocherel, der Chef der Jugend, kannte das Geheimnis seiner Zeit: Cocktail. Keine reinen Getränke, keine einfachen Gefühle, keine eindeutigen Worte. Er wollte den neuen Typ der Zeit schaffen: Alcibiades-Wilde-Carpentier. Er wob Legenden um sich wie Efeu und Papierrosen. Aber er hatte eine Macht: den Esprit, und übte mit ihm eine unbeschränkte Diktatur aus. Eine Schar von Zwanzigjährigen war ihm auf den Tod ergeben. Cocherel selbst trug Maske und Ansehen des Zwanzigjährigen, obwohl er gut das Doppelte zählte; die Geheimnisse einer Marquise, die, fünfundvierzigjährig, ihn verführt hatte, waren auf ihn als alleinigen Erben übergegangen. Alles in Paris ist Vererbung.

Zum sichtbaren Zeichen seiner Jugend bewohnte er im Patrizierhause seiner Mutter ein kleines, unscheinbares Zimmer auf den Hof, das der Bohême äußere Armut vortäuschte und seiner unechten Lebenshaltung als Kulisse diente. Dieser bevorzugte reiche Jüngling umgab sich mit einer ausgesuchten Simplizität. Er schlief in einem alten, hochstehenden Bett mit großmütterlich blumigen Decken, die Wände waren überall bemalt und mit gelben Photos besteckt, auf Gesims und Tisch standen naive Antiquitäten: in leere Flaschen eingebaute Segelschiffe, Glaskugeln mit Schneestürmen drin, kunterbunte Einfalt: aber mitten dazwischen lagen absichtlich unverwahrt und vergessen blaue Schecks, rosa Picassos und Rechnungen des ersten Nizzaer Schneiders.

Die übrigen Räume der Wohnung waren die üblichen eines großbürgerlichen Haushalts mit breiten Flügeltüren, Kronleuchtern, bezeugt echten Möbeln aus den Zeiten der drei Ludwige und vielen Zofen und Grooms. Der Diener führte Edmund und Edgar ein.

Cocherel, einen fleckigen Bademantel wie eine römische Toga um die Schulter geschlagen, empfing sie sehr weihevoll.

Edmund war mit großer Neugier erwartet, denn Edgar hatte ihn heimlich telephonisch angemeldet. Der Pariser Gesellschaftsmensch spielt mit jedem neuen Fremden immer fair play. Er lädt ihn überall ein und gibt ihm in ehrlichem Spiel die Möglichkeit, die Spannkraft seines Könnens und die Geschmeidigkeit seiner Repliken zu zeigen. Einmal. Und man ist streng und unbarmherzig. Auf dem Terrain des geistigen Duells wird die Erbschaft der Jahrhunderte bestritten. Deshalb haben die Pariser vor keinem Amerikaner Angst: mag er ihre Stadt mit dem Boxcalfschuh zerstampfen, er strauchelt auf dem ersten blanken Parkett. Aber sobald der Gegner unterliegt, ist er erledigt, nicht mehr interessant, höchstens nur wie ein Wildpret, noch wert, aufgefressen, d. i. verhöhnt zu werden.

Edmund ahnte nichts von derlei Hinterhalten und glaubte, man wolle ihn feiern. Cocherel kam ihm ernst entgegen und führte ihn zu einer Ottomane, von der zwei junge Menschen aufsprangen, unbeholfen wie Knaben und von Ehrfurcht durchzuckt. Sie blieben stumm vor ihm stehen, als man ihre Namen nannte: Mazelle und Drapier. Dazu schwiegen sie, aber ihre Augen lauerten höhnisch. Sie waren mit raffinierter Einfachheit angezogen: nur die Krawatte war frech. Bedeutete ihre Haltung Achtung oder Schüchternheit? Schüchternheit! Aber diese wurde mit allen Mitteln unterdrückt, und um sich für sie zu rächen, ließen die jungen Leute am Dritten ihren Unmut über sich selbst aus. So hatte Edmund vom ersten Augenblick an einen schweren Stand. Ihr Schweigen, ihre Blicke waren wie eine Mauer von Watte und Kork, die sie um ihre geheime Welt legten. Die Worte, die sie sprachen, verwandelten sich in der Umgebung eines Fremden, wie Lakmuspapier in Säure, und wechselten ihre Bedeutung.

Nachdem ihn Cocherel einen Augenblick lang, wie man einen ungeschickten Schwimmer unter Wasser tunkt, seiner Einsamkeit überlassen und einem allgemeinen Schweigen nicht schnell genug Einhalt getan hatte, sagte er zu Edmund:

»Wir freuen uns immer, wenn ein Fremder in unsere Stadt kommt. Sie machen sich keinen Begriff davon, wie provinziell unser Paris ist. Ein Dorf! Wir sind wie lauter Weiber an den Küchenfenstern, die dem Nachbarn ins Schlafzimmer gucken. Aber atmen wir je Weltwind? Haben wir eine Ahnung davon, wie die Erdrinde 500 Kilometer von der Madeleine entfernt aussieht? Wir reisen nicht, aus Dünkel, mein Herr, aus purem Größenwahn. Weil wir der Meinung sind, daß alles nur bei uns vollkommen und absolut sei. Das ist unser Unglück. Denn wir zehren noch vom siebzehnten Jahrhundert. Wir sind nicht nur die kleinen Rentner des Wollstrumpfs, sondern auch der cartesischen Philosophie.

Seit hundert Jahren haben wir keinen großen Gedanken mehr konzipiert. Oder?«

Cocherel drehte sich fragend im Kreise um.

Die Freunde Cocherels wußten sehr wohl, daß er Rimbaud für den genialsten Dichter des neuen Occidents hielt, daß er die ganze moderne Aesthetik vom baudelaireschen Dekadenzwillen herleitete, der von Paris aus, und nicht ohne Zutun Cocherels selbst, den Kontinent erfaßt hatte – aber er gab absichtlich dem neuen Ankömmling Waffen, um sich mit ihm schlagen zu können.

Edmund versagte. Er fiel plump in die Falle. Er lächelte dick und murmelte:

»Wenn Sie es selber sagen! Meine Meinung ist es auch. Ihrem Lande fehlen Impuls, Freude und Jugend. Wenn ich Sie so sehe, junge Menschen des Jahrhunderts, grüblerisch, gelangweilt, angeekelt. Warum stehen Sie nicht in den Redaktionen der fortschrittlichen Zeitungen oder mitten auf den Plätzen und kämpfen für die Freiheit? Denn Freiheit, vermute ich, schöne Enkel Robespierres, ist das Hauptwort eures täglichen Gebets? Sie, die Jungen! Oder? Warum lächeln Sie?«

Nun war Edmund in seinem Gleise und hoffte, hier vielleicht eine Schar neuer Revolutionäre heranbilden zu können, die dem bürgerlichsten Land in Europa nottat: Frankreich, o Ironie, der Wiege Desmoulins!

Edmund kam sich bedeutend vor. O welch ein Irrtum. Er predigte Jungens eine Theorie, die sie mit sieben Jahren auf den Schulbänken gelernt hatten, und von der sie bis zum Ekel müde waren. Er wußte ja nicht, wen er vor sich hatte: eine müde Jugend.

Müde der vier Jahre hindurch in jedem Tagesbericht verbreiteten männlichen Tapferkeit und Tugend, müde der Größe, müde der staatlich und in Marseillaisen proklamierten Freiheit, müde des Fortschritts, bei dem die Volksmassen schwitzen, müde der klassischen oder unabhängigen Schönheit, müde der Worte, müde der Hoffnung, müde ihrer selbst.

Warum hatte er gesprochen, statt zuzuhören? Er imponierte mit seinen als Fertigfabrikat bezogenen Phrasen keinem der Jünglinge, die er zu seinem Ideal heraufzuhissen hoffte. Da erinnerte er sich, wie höhnisch Edgar vor einer Stunde das Wort Ideal hingenommen hatte. Und er schwieg. Es war, als wäre ein großer Ballon plötzlich durch einen Nadelstich zu einem winzigen Gummifetzen zusammengefallen.

Aber Edgar wollte seinem Bruder eine endgültige Zivilisationslektion geben und ließ den Faden nicht fallen. Trotz des verächtlichen Lächelns Mazelles und Drapiers auf der Ottomane wollte er das Thema vor Edmund auf den Grund ausschöpfen, ihm zeigen, wer er und seine Freunde waren.

»Edmund, du kannst nicht wissen«, begann Edgar, indem er ihm eine Zigarette anbot und zum erstenmal freundlich schien, »du kannst dir noch nicht vorstellen, wer wir sind, wir jungen Pariser. Du kommst aus einem jungen, naiven Europa, wo selbst die Greise vor ihrem Tod und die Kühe auf den Bergen Ideale haben. Wir, wir sind die Ideallosen. Wir haben keinen Glauben, keine Götter, keine Gesetze mehr. Was nützt uns da die Freiheit? Wir langweilen uns!«

Edmund gab sich alle Mühe, bei dem funambulesken Ton, mit dem dies Bekenntnis hergesagt wurde, nicht breit aufzulachen. Da machte man ihm das Spiel leicht, dachte er bei sich – und schon quollen als Antwort schwere Worte wie: »Kapitalismus«, »Es geht euch zu gut« und »Jeunesse dorée« auf. Aber zum Glück ließ ihn Edgar nicht zum Reden kommen.

»Halt, ich kenne deine Schwerartillerie: Moskau und New York. Für uns erledigt. Für uns gemeinsames Symbol des Fortschritts, der Massenarbeit, des Massenglücks. Zum Heros der Menschheit erkoren der Chauffeur (wie euer Keyserling selber sagt). Menschen, die Ideale haben in Form von Flugzeugen, Maschinenbestandteilen, Bibeln und Menschenrechten! O wie langweilig das alles!«

»Langweilig!« stöhnte Mazelle.

»Zum Verrecken!« machte Drapier.

Edmund riß die Augen auf. Er wollte schreien: Springen Sie in die Luft! Treiben Sie Sport! Trinken Sie Wasser!

»Seit hundert Jahren krankt unser Kontinent an Denkschwund. Das ist unheilbar. Sollen wir arbeiten? Wozu? Uns auflehnen? Wozu? Sollen wir eine falsche Religion annehmen? Aha, Sie rufen uns zu: Revolution! Aufpeitschung des Blutes! Wozu? Wozu?«

»Wozu? Wozu?« echoten die andern auf der Ottomane. »Das alles hieße die Geschichte vergewaltigen. Wir haben aber die Verwesung und Vertrocknung des europäischen Zoon konstatiert. Logisch bleibt nur eins: den Krankheitsbazillus, die Herde des Todes schüren. Keine individuellen Selbstmorde: Werther ist zu eitel. Aber den Massenselbstmord durch Psychose, durch allgemeine Verschlechterung, Verblassung, Verdummung des Menschen herbeiführen. Und das ist absolut der Weg unserer Überkultur. Rufet die Amerikaner! Rufet die Neger über Europa!«

»Und ihr?« fragte Edmund, bereits interessiert.

»Tout nous dégoûte. Mais nous nous dégoûtons les premiers. Wir glauben an nichts mehr. Wir nehmen nichts mehr ernst. Nicht Gott, nicht den Präsidenten der Republik, nicht uns selber. Wir glauben nicht an die Heiligkeit der Arbeit in Abflußkanälen, nicht an die unbedingte Unbescholtenheit unseres Vaters, wir haben kein Mitleid und keine Ehrfurcht. Warum auch? Es droht uns keine Strafe.«

Edmund war erschüttert. Mühsam brachte er hervor: »Aber der Frühling! Eine reife Erdbeere! Das Leben in einem Tropfen Wasser! Feuer auf einem Berg! Da ist noch was zum Anbeten!«

Da sah er, daß die andern ihn verachteten. Und er schwieg.

Cocherel bot ihm ein Glas Porto an. Drapier machte den Witz:

»Den zum Tod Verurteilten bietet Herr Deibler, der Henker von Frankreich, einen Porto und eine Zigarette an. Sie aber sind zum Leben verurteilt!«

Cocherel sah nervös auf die Uhr. Edgar studierte intensiv die Umrisse einer Zeichnung von Braque an der Wand. Edmund rührte sich nicht vom Stuhl.

»Wie war doch noch die edle Vokabel, die Sie vorhin, ganz zu Anfang gebrauchten, lieber Herr Edmund?« fragte Cocherel. »Ach ja, die ›Freiheit‹! Nun, die haben wir eben, außer aller Revolution, und besser als mit der Revolution. Wir sind vogelfrei, wir haben nichts mehr zu verlieren. Vielleicht haben wir mit unserer Dialektik unrecht. Aber eben! wir wollen unrecht haben. Das macht uns frei. Wir drehen alle Werte um, um frei zu sein. Um frei zu sein, sind wir untreu, unehrlich, unleidenschaftlich. Wir haben jegliches Interesse an dieser Welt aufgegeben. Wir wollen nicht mehr wollen. Nicht einmal den Tod.«

»Herrgott, wie langweilig!« stöhnte wiederum Mazelle, eine Quaste des Vorhangs, der neben der Ottomane hing, endlich, nach wochenlangem Drehen, abgerissen in den Fingern haltend.

»Die Menschen auf der Straße, in den Salons, im Theater werden aus uns nicht klug,« fuhr Cocherel fort, »sie behaupten, wir seien Zyniker. Wären wir nur das! Wir benutzen aber natürliche Masken und Formeln, die uns die alte Zivilisation bietet. Wir sind ja ihre Generalerben, und es wäre schade, ein solches Kapital nicht nach allen Regeln der Kunst zu verschleudern, um wenigstens etwas davon zu haben.«


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