Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15. Kapitel

Aha! Sie liebte keinen? Diese Erkenntnis kam über Edmund wie eine Erleuchtung. Ja dann war ja alles noch gutzumachen und im Grunde nichts verloren? Neue Hoffnung durchstrahlte sein eifersüchtiges Herz, wie das Morgenlicht immer blendender an das Gitterfenster der Gefängniszelle schlägt, in der ein zum Tode Verurteilter bereits die Schritte des herannahenden Henkers zu vernehmen geglaubt hatte. Noch war eine Revision des Urteils möglich. Edgars Eindruck auf Lola war bei weitem nicht so bedeutend und endgültig, wie er gefürchtet hatte. Sie selbst hatte es in eklatanter Weise bewiesen. Und bei dieser eben erlebten Szene konnte es sich um kein falsches Spiel, kein kleinliches Heucheln gehandelt haben. Es war mit heiseren, beschlagenen Stimmen gesprochen worden, als ob ein Orakel befragt würde ... Und die Pythia hatte tiefe geheimnisvolle Wahrheiten über das Weib ausgesagt.

Sie liebte keinen? Gut. Dann hatte sich Edmund doch nicht geirrt. Dann war Lola also doch eine ganz andere Frau, die mit der gewöhnlichen Pariser Artigkeit, liebes Edgarchen, noch lange nicht zu fangen war. Sie war ein Weib in höherem, metaphysischem Sinn, konstruierte Edmund weiter, an das Fenster seines Zimmers gelehnt und den Kopf tiefatmend in den blauen Himmel wie unter eine Dusche hinaussteckend.

Und wieder stark geworden bei dem euphorischen Gefühl, das ihn erfüllte, begann sich der Mitropäer, der in ihm steckte, gerade jene Weltanschauung zu zimmern, die zu diesem Augenblick paßte. Der Mitropäer, dem oft der Rohstoff zu einem Fabrikat und die Grundidee zu einer Weltanschauung fehlt, ist hingegen ein guter und fleißiger und technisch raffinierter Verarbeiter fremder Stoffe. In Mitropa arbeiten die Maschinen und die Literarhistoriker am präzisesten von der Welt. Der schöpferische Gedanke wird oft aus dem Ausland bezogen. Aber aus ihm werden die täglichen Bedarfsartikel (wie aus Eisen Hosenknöpfe) hergestellt, die das Made in Germany über den ganzen Globus glanzvoll verbreitet haben.

Der Mitropäer hat einen geduldigen Sammlerinstinkt, den die leidenschaftlichen schöpferischen Völker nicht besitzen, und deshalb konnte ein Steiner einer Zeit, die nach einem Gott rang und schrie, eine neue Philosophie, ja sogar eine neue Dreifaltigkeit zu billigen Einkaufspreisen offerieren, in der Elemente aus alten und neuen Religionen zu einem fast genießbaren Maggiwürfel verarbeitet waren.

Edmund konstruierte sich in demselben Augenblick, in dem schon wieder eine Hoffnung ihn hob, ein ganzes neues Lebensgebäude.

Unter den wenigen Büchern, die er mitgenommen hatte, befand sich ein zerlesener »Zitatenschatz«, den er immer so fromm bei sich führte, wie eine Engländerin die Bibel. Wenn er einige Minuten lang nichts zu tun hatte, oder wenn er sich geistig schlapp fühlte, suchte er aufs Geratewohl in dem Buch nach dem geflügelten Wort eines großen Dichters und ließ sich also behend auf Genieflügeln in eine hehrere Welt der Erkenntnis oder der Schönheit entheben.

Und fast mechanisch las er heute, ohne zuerst weiter zu denken, dieses Wort Goethes: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«. Der Zweck des Lebens ... Der Zweck des Lebens ist ... Rechts über der Pantheonskuppel stand das Sternbild der Waage. Der Zweck des Lebens ... Lola. Niemanden liebt sie. Wie kann man so leben? Wie kann man so leben ohne Liebe? Und die anderen denn? Ist Edgar einer Liebe fähig? Jetzt hat er es heraus! Alle, alle diese Zeitgenossen um ihn herum, die ohne Glauben, ohne Ehrfurcht, ohne anderen Trieb leben als den zur Erfüllung der Sinne, und die lachen, wenn einer sagt, er habe ein Ideal, irren sie sich denn alle, oder haben sie nicht vielleicht doch irgendwo recht? Lola zieht nervös die Augenbrauen zusammen, wenn er sie zufällig an ihre gemeinsam verbrachte Pazifistenzeit erinnert. Sie haßt die Vergangenheit, sie lebt wie die Blume nur diesem Tag, ob es nebelt oder sonnt. Seltsames Weib, so klug und doch so erdennah. Und die Cocherelianer, die zu allem Nein sagen und den Mund verziehen, sie sterben deshalb noch lange nicht, sondern tanzen und trinken, tagaus, nachtein. Sie wissen! Und auch ihr Nein ist ein Ja, sie kosten mit ungeheurem Raffinement die Süße dieses Neins aus, wie man Haschisch kostet und die Nähe des Todes, die Gefahr des Abgrunds. Auch das ist Leben. Das Leben ist der Zweck Lolas, ist der Zweck Edgars, ist der Zweck seiner Mutter, Madame de Tizac, ist der Zweck dieser ganzen verzweifelten Menschheit.

Blitzschnell, in Edmunds spekulativem Hirn, entwickelt sich der Dreh, der ihn retten soll.

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Unvermeidlichen gegenüber zu verhalten. Der Skorpion, um den man mit Kreide einen Kreis auf den Boden gezeichnet hat, hält sich für verloren und glaubt seinem Schicksal nur dadurch zu entgehen, daß er sich seinen Giftstachel ins eigene Gehirn bohrt – der Skorpion ist das einzige Tier, das in vollem Bewußtsein Selbstmord verübt.

Befindet sich ein Mitropäer, namentlich ein Deutscher, dem Unvermeidlichen gegenüber, benimmt er sich anders. Er erfindet einen Dreh in seinem Kopf, demzufolge, aus einer gewissen Gedankenspekulation heraus, er die Tatsachen völlig anders beleuchtet; er deutet sich den Kreidekreis einfach weg. Er hängt die Sonne um, von links nach rechts, und plötzlich ist dort Licht, wo eben Schatten war, und umgekehrt. Er begeht andauernd Geschichtsfälschungen, um sich selbst in helleres Licht zu stellen. Das ist es, was man Dreh nennt.

Edmund hat endlich nach vielen Zweifeln und Ohrfeigen erkannt, welches die Basis ist, auf der diese Westmenschen ihre Existenz aufgebaut haben. Und in seinem ungeheuren Frohlocken über diese Entdeckung hält er sich auch schon für den Erfinder dieser Idee, der er einen Namen gab. Er wird diese einzig wahre, im verröchelnden Europa einzig mögliche Weltanschauung in eine Form gießen und sie äußerlich zu der seinigen umfabrizieren. Diese jungen Leute haben vollkommen recht. Aber er allein weiß jetzt, warum ... Er wird sich ihre Maximen aneignen, ihre Masken tragen, ihr Vokabularium erlernen, und ihnen ähnlich werden. (Heimlich hegt er auch schon die Hoffnung, durch straffe logische »Ballung« dieses Lebensprinzips, es irgendeinmal zu einer Führerrolle in diesem Milieu zu bringen: erster und letzter Ehrgeiz jedes Mitropäers!) Aber vorläufig der nähere Zweck: ein durchgekochter Cocherelianer werden, so zynisch wie nur ein Edgar, so gefühllos wie nur ein Drapier, so hemmungslos wie Lola selbst: und dann, und dann – wird er diese überwinden, besiegen und für sich erobern.

Mit diesem monumentalen Dreh im Kopf legte er sich ins Bett und schlief gut.

Am nächsten Morgen überraschte er Edgar, der eine kleine Garçonnière am Boulevard Malesherbes bewohnte: zwei fast gleiche, mit blauen Teppichen belegte und blauen Vorhängen dunkelbehangene Zimmer, in denen eine erstaunliche Ordnung herrschte: ganz das Gegenteil der gewohnten Bohèmebuden. Die Möbel waren schwarz und angenehm gerundet. Ein Diwan zu ebener Erde, Telephon und Zeichnungen von Picabia. Edgar ein Ästhet? Das hatte er zum wenigsten erwartet! Edgar war ein ganz anderer Mensch, wenn er empfing, als wenn er sozusagen objektiv auf der Straße oder im Café mit einem umging: er hatte die Artigkeit des Franzosen gegenüber dem Gast, dem sein Heim als sakrosankt zu gelten hat und dessen gesellschaftliche Ehrfurcht durch übergroßes Zuvorkommen ausgeglichen werden muß. Er brachte sofort Porto und Gläser. Er brachte Photographien aus der Kindheit, auf denen er dem Halbbruder seinen Papa in weißen Tennishosen und Panamahut zeigte, wobei er einige bissige Witze über ihre gemeinsame Mutter machte, als wäre sie eine Fremde. Dabei erfuhr Edmund, daß Madame de Tizac jetzt gerade dabei war, sich mit dem alten de Saintes zu verloben. »Wie alt ist sie?« warf er ein, und Edgar antwortete lächelnd: »Vor dem Friseur 51, nachher 31. Aber die Zahlen 5 und 3 sehen sich von weitem, bei Nebelwetter und auf den Börsenkurszetteln verdammt ähnlich!«

Edmund erfuhr aber auch etliches über seinen eigenen Vater, seine Geburt und sein Schicksal: und der Bruder schloß seinen Bericht mit einem Satz, der je nach dem Ton grausam freundschaftlich oder unheimlich böse ausgelegt werden konnte: »Also im Grunde bist du ein Boche!« Und den Ton vermochte Edmund nicht zu deuten. Er senkte den Kopf. Er war noch zu kurze Zeit in Paris, um zu wissen, daß der neuerliche Snobismus der fortgeschrittenen Kreise gerade darin bestand, die Deutschen zu loben und bei sich zu empfangen. Wenn ein Künstler oder Schriftsteller herüberkam, rivalisierten die Salons vom Boulevard Saint-Germain und vom Etoile um die Ehre, ein solches Kuriosum ihren Gästen vorzustellen, genau so wie eine Negertänzerin oder einen indischen Fakir. Und dann glaubten die deutschen Kulturträger schon, es sei erreicht. Ja, die Mode ging so weit, daß ein bekannter Schriftsteller sich mit der Tochter eines deutschen Generals öffentlich verlobte und ein Musiker seine Frau nach München sandte, damit sie dort entband und ihm einen halbdeutschen Sohn schenkte.

Um aber endlich von dem Thema abzulenken, begann sich Edmund angelegentlich in den Räumen umzusehen und entdeckte nirgends, an keiner Wand, auf keinem Tisch ein Buch. »Wo ist deine Bibliothek?« fragte er den Bruder. »Ich habe keine. Ich besitze keine. Ich besitze und lese nur ein Buch. Da ist es!« erwiderte Edgar, stemmte sich auf den linken Ellenbogen und holte unter seinem Kopfkissen ein dünnes, zerlesenes, zerschlissenes Bändchen hervor: »Paludes« von André Gide.

»Statt der Bibel, des ›Kapitals‹ und des ›Raskolnikoffs‹ ist das das Grundbuch des heutigen europäischen Geistes. Ich sagte es ja: du bist ein Barbar!«

Edmund wollte das Büchlein in die Hand nehmen. »Unnötig darin zu blättern«, machte Edgar, indem er es ihm leise aus der Hand nahm. »Auch lesen kann man's nicht. Man muß es essen, trinken, schlafen, rauchen, man muß damit leben und es auswendig kennen. Vielleicht wirst du in sechs Wochen würdig sein, darüber zu reden.«

»Darf ich es kaufen, oder bedarf es auch einer persönlichen Autorisation von Ihnen, Ihren Freunden, oder dem Autor?«

»Es ist im Buchhandel nicht mehr erhältlich«, erklärte Edgar in fast mysteriösem Ton. »Dann wirst du mir's doch leihen«, sagte Edmund so ganz leichthin, doch innerlich triumphierend, da er gewissermaßen jetzt mit Edgar zu spielen glaubte.

»Wie soll ich ruhig schlafen, ohne die Gewißheit unter dem Kissen zu haben, daß es endlich einen Menschen in Europa gibt, der die Dummheit des Wachens genau durchschaut hat!«

Da nahm ja Edgar sich und etwas ernst! Edmund jubelte über diesen Dreh und heuchelte nur noch sein Interesse: »Erkläre mir wenigstens die Philosophie dieses großen Mannes!«

»Das bedeutete, eine endgültige Verzweiflung in dein Herz träufeln. Und du bist doch geistig so gesund und hoffnungsfroh. Du hast keine Ahnung vom Jammer Europas. Es wäre schade um dich und – wahrscheinlich auch nutzlos. Es ist schwerer zu verneinen als zu bejahen, weil die Tatsache schon, daß wir atmen, ein unwiderlegbares Ja ist –« Edmund unterbrach hoffnungsfreudig: »Das erste Ja, das ich dich aussprechen höre!«

»Aber dennoch Nein sagen und gegen den Strom schwimmen, dazu gehört ein Training von Jugend auf.« »So schließt du mich aus der Gesellschaft der wahren Europäer aus?«

»Sei froh, denn die schwimmen alle auf einem heillos verseuchten Schiff. Ihr Zentralmenschen und Östler hingegen habt noch ein Fenster nach der Seite des erfrischenden Windes und der Erneuerung.«

»Ist das Paris? Das aus allen kleinen Provinzen, von allen Erdteilen und Ozeaninseln die Menschen anzieht wie ein hellrosa schimmernder Leuchtturm die Falter der geistigen Nacht?«

Edmund staunte nicht mehr über die Gehässigkeit, mit der sein Bruder von der Stadt sprach, deren Stickluft seinem Organismus doch notwendiger war als reines Ozon der Berge. Ja, das Leben war stärker als seine Verneiner. Wenn Edgar im Sommer, weil es sich so schickte und weil Paris unter Staub und Dunst erstickte, ans Meer oder mit seiner Mutter in die Touraine reiste, war er dort nervös und fiebrig wie ein Opiomane, dem man sein Gift entzogen. Nur in Paris war er gesund, ein flinker Fisch in den Sumpfgegenden des Boulevard de la Madeleine, der wie ein mit gelben Kacheln ausgeschlagenes Aquarium aussah. Und doch sprach er nur Bannflüche gegen seine Stadt aus, genau wie er über seine eigenen Freunde nur Böses aussagte und sich selbst wahrscheinlich so unausstehlich fand, daß er täglich mehrere Male das Wort Selbstmord in den Mund nahm.

Bei einem Spitalbesuch ist es nicht der Kranke, da ist es der Gesunde, der sich schämt. Er schämt sich seiner zu lauten Stimme, seines zu frischen Atems, seiner Glieder, unter denen der Stuhl kracht: denn die Gesundheit ist bäurisch und brutal. Das durchschaute Edmund jetzt. Er hatte sich in Paris geschämt, daß er Ideale hatte und vielleicht an Gott glaubte, daß er dies und jenes schön fand, wie zum Beispiel an Frühlingsabenden das graublaue Panorama von einer der Brücken aus, Justizpalast und Notre-Dame in eine rosa Unwirklichkeit emporgehoben, oder wenn plötzlich hinter einem Square eine Eskadron von fünfzig Reitern der Garde Républicaine, mit den wehenden Pferdeschweifen am Goldhelm hervorgaloppierte und schnell wieder, wie eine Vision, von einer Untergrundbahnbrücke aufgeschluckt wurde.

Von nun ab schloß er sich allen Manifestationen der Cocherelgruppe an. Der Tag dieser jungen Menschen begann gegen vier Uhr, in einer Bar der Rue Duphot, die für ihr gutes italienisches Eis bekannt war. Die Bar war fast leer, so als ob sie reserviert sei, und Drapier, der im Nebenfach Musiker war (sein Hauptfach war der Pessimismus), spielte auf dem Klavier, in Abwesenheit der Jazzkapelle, ein kleines Stückchen von Satie. Gegen fünf Uhr siedelte man ins Bœuf sur le Toit über, wo offiziell mit einigen Freundinnen aus der hohen Gesellschaft getanzt wurde. Aber immerhin wenig Tanz, wenig Alkohol, immer nur so etwas wie die Quintessenz davon, und nie ohne die begleitende Geste der Ermüdung und des Ekels vor der Geringfügigkeit des Lebens. Einige schöne Frauen waren da, die trösteten wie frische Rosen in einem Krankenzimmer. Im großen und ganzen gingen die jungen Herren aber mit ihnen sehr ungalant um, ließen sie nach einem Tango mitten im Saal stehen, traten an einen anderen Tisch und drückten einem Bekannten die Hand, ohne dessen Begleiterin zu beachten oder sich vorstellen zu lassen. Die Frauen ihrerseits taten sehr burschikos, zündeten sich selber ihre Zigaretten an und holten sich von Zeit zu Zeit ihren Tänzer von einem Tisch.

Edgar spielte hier eine erste Rolle. Er war überall umworben. Das beruhigte Edmund, denn er mußte sich sagen, daß gegenüber so viel pikanten Gelegenheiten eine Lola in ihrem Hotelfamilienzimmer für ihn ein kleines Nebenaventürchen bedeuten mochte. Und seine Eifersucht glomm leiser.

Edgar beugte sich über ein Mädchen mit kupferroten Haaren und zwickte sich ein Veilchen ab aus einem Strauß, den sie tief zwischen den Brüsten trug. Was für ein Don Juan. Was für ein Feind! Diese Geschmeidigkeit! Jetzt führte er das Mädchen an seinen Tisch heran und stellte Edmund vor.

»Hier ist ein Jüngling, der noch an die Liebe glaubt, Riette!«

Riette trug ein preußischblaues Samtkleidchen mit einem weißen Schulknabenkragen und Manschetten. Sie trat einen halben Schritt zurück, hielt ihre beiden zum Kreis gerundeten Daumen und Zeigefinger wie einen Operngucker vor ihre leuchtenden Augen und rief:

»Dieses Phänomen muß ich mir ansehen!«

»Er ist gefährlich«, lachte Edgar, als sie sich darauf neben Edmund setzte, »nehmen Sie sich in Acht. Wenn Sie zuviel Alkohol an sich haben, können Sie leicht Feuer fangen!«

»Ich bin gegen Feuer und Beinbruch versichert. Und mein Herz, was man so nennt, ist wasserdicht wie ein Gummibeutel.«

Edmund beherrschte seinen Abscheu.

Um nicht lächerlich zu wirken, mußte er jetzt etwas sagen. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, nun einmal anzubringen, was er seit dem Umgang mit Edgar und seiner Bande gelernt hatte, nämlich die bereits zu Klischees gewordenen Klagen über Zivilisation, Müdigkeit und Langeweile herzusagen, wie ein guter Schüler, der abgehört wird. Aber das wurde ihm zur Pein. War es nicht wirksamer, seine wahren Gefühle zu enthüllen, aber mit einem Ton, der leicht ironisch aufgefaßt werden konnte, so daß der Zuhörer nicht mehr wußte, was Wahrheit, was Paradoxon war:

»Ja, ich trage noch ein altmodisches Herz heimlich unter meinem Wollsweater, mein Fräulein, das hat eine so unglückliche Form wie Öllämpchen aus der Großmutterzeit. Um Gottes willen, kommen Sie mir nicht zu nah, sonst laß ich es fallen, und plumps, springt die ganze Bar in die Luft. Lachen Sie nicht! So ein Herz ist gefährlicher als eine Bombe. Es kann die gräßlichsten Explosionen verursachen, Sie werden schon sehen! (Er schielte dabei zu Edgar hinüber.) Nein, ich möchte noch einen anderen Vergleich nehmen. Ein Herz ist ein Stück Radium. Wissen Sie, wie selten und wie teuer Radium ist? Ein Gramm kostet Millionen. Nehmen wir an, ein Menschenherz wiege 200 Gramm, da können Sie sich seinen Wert in der Phantasie ausrechnen. Und seine Ausstrahlungen sind ebenso wirksam wie die des Radiums: es wirkt Wunder. Aber wer damit nicht umzugehen versteht, dem verbrennt es die Finger, die Arme, die Augen. Noch alle, die bis heute mit Radium oder Liebe hantiert haben, sind daran entweder lahm oder blind geworden. Darum gratuliere ich Ihnen, mein Fräulein, daß Sie gegen solcherlei Gefahren so gewappnet sind, und vor allem, daß unsereins in Ihrer Nähe gefahrlos gähnen darf!«

Edgar lächelte. Riette hatte nichts verstanden.

Cocherel und Drapier, die diesem pathetischen Bekenntnis zuerst von der Seite, und dann mit gesteigertem Interesse zugehört hatten, indem sie dabei an Strohhalmen sogen, winkten Edmund begeistert zu, denn sie glaubten, es sei eine Mystifikation und ein sehr geistreicher Spaß von ihm. Sie waren angenehm überrascht, bei dem bislang so schweren Zentralmenschen, dem alles blutiger Ernst war – ob man von Maschinengewehren oder Unterröcken oder Spinoza sprach – plötzlich diesen beizenden Witz zu entdecken.

Eine dicke Dame am Nebentisch, wie ein Schellenbaum umklirrt von Glasperlen, Pailletten und goldenen Anhängseln, beugte sich herüber, klopfte sich mit den kleinen, untersetzten Händchen wie die Camilla von Corneille, wenn Madeleine Roch sie in der Comédie Française darstellt, auf den wild wogenden Busen und flüsterte Edmund zu:

»Wenn Sie traurig sind: ich bin die Schwester, die Mutter und die Jungfrau!«

Cocherel stellte sie sofort als die Marquise de Pompon vor. Sie rückte ihren Stuhl bedeutend näher. Edgar wurde von Riette zu einem Charleston aufgefordert. Die anderen woben sich in Zigarettenwolken und in ein Gespräch über die Nase der Neger ein. Nun erklärte ihm die Marquise de Pompon, sie sei eine frühe Freundin Paul Valérys, eine Muse Strawinskys und eins der gelungensten Porträts Modiglianis. Vor acht Tagen sei sie aber zum Katholizismus übergetreten: es bliebe einer ewig durstigen Seele in dieser liebesarmen Zeit einfach nichts anderes mehr übrig.

»Und wissen Sie, wie ich den Katholizismus entdeckt habe?« fragte sie Edmund, indem sie ihm aufs Knie klopfte. »Der zarte Dichter Max Jacob entführte mich, ich sage: entführte! eben von diesem Lokal aus um vier Uhr früh, und bat mich, ihn zu seinen Engeln zu begleiten. ›Wollen Sie sterben?‹ fragte ich ihn, und er gab mir nicht die banale, von jedem Commis zu erwartende Antwort: ›Nachdem ich in den Grund Ihrer Augen geschaut habe, ist mir das Leben nichtig geworden!‹ sondern rief dem Chauffeur die Adresse: ›Sacré-Cœur!‹ zu. Der Wagen kletterte die schon rosig sich färbenden Straßen des Hügels so schnell hinauf, daß man sich wie in einem Lift vorkam. ›Das ist die Jacobsleiter!‹ bemerkte lächelnd Jacob der Dichter. Er zeigte mir die letzten alten Mauern von Montmartre, die einstweilig noch hier und da mit staubigem Efeu bewachsen waren, ehe sie pappenen Wolkenkratzern weichen mußten. Mit Rührung wies er sogar auf einen Feigenbaum, der sich aus einem verwunschenen Garten sehnte. Das Auto hielt vor dem Portal der vom ersten Sonnenstrahl vergoldeten Kirche. Der Dichter gab dem Chauffeur zu wenig Trinkgeld und wurde dafür mit den unflätigsten Namen traktiert. ›Ich enttäusche Sie, weil ich arm bin!‹ entschuldigte sich Max Jacob und zog den Hut tief ab. ›Aber seien Sie mir nicht bös, ich werde es sofort beichten!‹ und trat, mich unterm Arm fassend, in das hohe, dunkle Gewölbe ein. Ich erschauerte vor Ehrfurcht. In der fast wesenhaften, fast greifbaren Nacht dieses Raumes hörte man den Flügelschlag der unsichtbaren Engel. Einige ärmliche Kerzen zitterten. Es war mir, als sähe ich im Flackerschein vom Fuß des Gekreuzigten einen Blutstropfen sickern. Unversehens fiel ich in die Knie. Erst als mich die Kälte des Steins durchfuhr, erhob ich mich und war eine andere geworden. Max Jacob stellte mich dem Pfarrer vor ...«

»Und jetzt warten Sie jede Nacht im Bœuf sur le Toit bis 5 Uhr früh, um rechtzeitig ins Sacré-Cœur beichten zu gehen?«

Die Insassen des Tisches hatten die beiden allein gelassen. Edmund wußte nicht recht, wie er diese Auszeichnung, von einer authentischen Marquise in einer Bar bemerkt zu werden, deuten sollte. Wurde ihm eine Ehre zuteil, oder machte man sich einen Scherz? Er selber fand diese Gestalt unendlich lächerlich, und doch, und doch, warum begegneten ihr alle mit so offensichtlicher Ehrerbietung?

Eine Marquise, und war sie noch so alt und wie eine Bonbonniere mit Rouge, mit Wachs, mit Roßhaar, mit Lack und mit Rosenöl ausstaffiert, war eben doch eine Marquise, und die Schlechtgeborenen ergingen sich gern im Schatten ihres zerzausten und herbstlich gefleckten hundertjährigen Stammbaums. Die Marquise de Pompon spuckte auf den Teppich, rauchte Zigarren, sagte, wenn sie hinausging, sie müsse pissen gehn, und fluchte wie ein Hallenweib; und doch blieb sie Marquise! Edmund empfand eine seltsame Genugtuung von ihr ausgezeichnet zu werden.

Nach einigen Tagen hatte sich Edmund vollends an das Milieu gewöhnt. Immer mehr entdeckte er, daß auch die Freiheit der Zyniker, der Amoralisten und Verneiner ihre Gesetze besaß, und von Formeln und Klischees eingezäunt war. Die »Langeweile« dieser jungen Leute war nur ein Lebensprinzip, wie fünfzig Jahre früher der Optimismus der Bohème von Murger. Es ging im Bœuf sur le Toit genau so zugeknöpft zu wie in den Salons des Boulevard Saint-Germain. Und die Anhänger Cocherels waren meist von bester Familie. Zum mindesten: von bestem Geist. Die Gesellschaft in dieser Bar war adelig, wenn nicht von Abstammung, so gewiß von Geistes Gnaden. Und das erklärte auch ein wenig die Fin-de-siècle-Stimmung. Aber es gehörte schon die ganze Illusionskraft des Mitropäers dazu, um in diesem Räume auf den Endsieg des Lebens so fest zu vertrauen wie auf den der Mittelmächte im Weltkrieg.

Die Bar war furchtbar eng und gab den Gästen bessere Gelegenheit, miteinander anzuknüpfen: von Tisch zu Tisch, ja, auch mit den drei Hawaiern des Jazz-Band und mit dem Barman wurde ungezwungen die Konversation geführt. Der Raum sah aus wie eine Zufluchtstätte von Leuten, die draußen in der Welt alles verloren hatten, wie eine dunkle Barke, die, durch irgend einen Strudel vom Tau losgerissen, jetzt auf dem Europäischen Meer herumtanzte, und die Gezeichneten erwarteten den sicheren Tod mit kühlem Gesang.

Obwohl sie die buntesten Liköre tranken, waren sie alle müde, müde, müde. Sie wußten, es hatte keinen Sinn mehr, zu wissen und zu leben. Es war vollkommen unnötig, sich noch aufzuregen, und sei es über seinen eigenen Tod! Die Abgründe und die Gipfel des menschlichen Wissens waren ihnen bekannt. Und sie lächelten, weil es das Einzige ist, was ein kluger Mensch vor dem Schafott tun kann.

Sie ahnten, zu welcher Rolle in der Geschichte ihres Vaterlandes sie berufen waren: sie bildeten die Nachhut hinter dem jahrhundertelangen Heereszug der europäischen Ritter.

Ihnen war beschieden, mit einer letzten heroischen Geste das Kapitel abzuschließen. Sie wußten, daß sie nicht dem schaffenden Leben, aber einem ebenso fruchtbaren Tode geweiht waren. Und sie versuchten, ihren Tod mit allen Tugenden und Wahrheiten auszustatten. Sie lebten wie Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Wie die Vogelfreien aus dem Mittelalter. Und in diesem Gedankengang war ihnen alles erlaubt. Sie spieen den Menschen und Gott ins Gesicht. Sie suchten, was sie zu finden fürchteten. Sie bauten, was sie zerstören würden. Sie liebten, was sie hassen könnten. Sie töteten, was sie verehren mochten. Und sie verlachten das, woran sie glaubten.

Eine unglückliche Generation, die keine Mütter mehr hatte zu knien, keine Bräute zu streicheln und keine Töchter zu segnen!

Aber trotzig waren sie! Tapfer wie Godefroy und mutig wie Danton. Sie entleibten sich im Angesicht der fünf Kontinente. Sie waren die Märtyrer eines anerkannten Schicksals und starben ebenso schön wie ihre Vorfahren auf dem Schafott. Sie starben mit Genie und Ekstase. Eins nach dem andern rissen sie sich ihre Ideale aus der Seele, den Glauben an all die großen Dichter, an die Heerführer, an die Erfinder und an die berühmten Liebenden. Sie rissen sich langsam die Zehen, die Füße, die Schenkel, das Liebesglied, die Leber und das Herz heraus, und lachten dazu.

Der Selbstmord der Zivilisation.


 << zurück weiter >>