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6. Kapitel

Edmund klopfte an Nummer 15, und nicht eine, drei Stimmen riefen Herein. Im Bett lag eine blasse, müde und viel schöner gewordene Lola, denn ihre schwarzen Jadeaugen erschienen fast doppelt so groß wie früher: so erscheint uns manchmal der Morgenstern, wenn er sich der Horizontlinie nähert, viel riesiger als mitten in der gewöhnlichen Nacht. Ihr Haar quoll in gequälten Windungen um Hals und Stirn. Sie drückte den struwweligen Kopf des noch schlafenden kleinen Sergej an ihre Brust. Links, am Fenster, saß Madame Blechkin auf einem Koffer und stopfte Strümpfe, wobei ihr der Zwicker immerfort von der Nase rutschte. Sie mußte die Nacht auf dem Diwan verbracht haben, denn dort häuften sich Decken, Unterröcke, ein Pelzmantel in heilloser Unordnung. Schachteln, Schuhe, Köfferchen versperrten überall den Weg. Auf dem Tisch mit dem Plüschüberzug ein halb ausgeschütteter Teekessel und zwei schmutzige Tassen. Quarkkuchen.

»Edutschka!« rief Lola mit sichtlicher Freude. Sie hielt ihm den Arm hin, der weiß war wie der Dent du Midi. Frau Blechkin stand auf, verstrickte sich in ihrer Wolle und stieß kleine Töne aus wie ein Wiesel.

Edmund vermochte nicht zwei Minuten die Maske des Beleidigten auf dem Gesicht zu behalten und kniete am Bettrand nieder. Es war ein zu furchtbarer Anblick der Misere und der vollkommenen Ergebung ans Geschick. Er verstand im Augenblick, was alles geschehen sein mußte seit dem Abend, seit der Minute, die er letzte Nacht im Traum wiedererlebt hatte. Und kaum war die erste Überraschung vorüber, da erzählte ihm Lola auch schon die wirkliche Fortsetzung ihrer Geschichte:

Die Flucht nach Genf, ins Hotel des Bergues, mit dem ersten Geliebten ihres Lebens hatte kaum zwei Wochen gedauert. Diese waren allerdings himmlisch gewesen. Die alte Liebe zweier Götter war für kurze Zeit aufgeflackert: das Paar schwarz in schwarz, erregte Aufsehen in ganz Genf. Wenn Lola auf dem Balkon lag, fühlte sie sich dem Mont Blanc ebenbürtig, und wieder rein wie seine Gletscher. Von allen Gesandtschaften kamen die Kameraden Saschas, um das Wunder einer ewigen Liebe zu besichtigen. Ein Perser war darunter, mit zartgeschliffenen Knöcheln, der ließ es sich nicht nehmen, Lola mit Hafisliedern und Huldigungen zu überschütten, die süß waren wie Lukum, sodaß sie lachend zu Sascha sagte, sie habe Zahnschmerzen davon. Eines Tages hatte dieser auch verlangt, seinen Sohn Sergej zu sehen. Man verabredete eine Zusammenkunft mit Frau Blechkin in Nyon. Diese fuhr mit dem ersten Frühzug von Lausanne ab und kam, prustend, eilfertig und das halbgekämmte, schlechtgewaschene Kind hinter sich ziehend, im genannten Wirtshaus am See zu einer Stunde an, zu der die Tische noch übereinander lagen und die Kellner in Hemdsärmeln ihre Socken im See wuschen. Zwei Stunden wartete sie dort, verlor dreißigmal ihren Zwicker, bis endlich ein Glas zerbrach. Das war eine Katastrophe. Sie mußte in die Stadt laufen und fand in ihrem gebrochenen Russisch nur mit Mühe einen Optiker.

Mittlerweile kamen auf majestätischem Dampfschiff die Geliebten von Genf an. Ein kleines Gezänk, wie eine rötliche Flamme, schlug aus ihrer Ungeduld. Die siebenhundert Heiligen Rußlands wurden gegen die arme Mutter aufgerufen.

Und schon wollten sich die beiden zum Bahnhof wenden, unschlüssig ob in der Richtung nach Lausanne oder nach Genf, da tauchte im Hintergrund des Gartens in Schweiß und Tränen aufgelöst Frau Blechkin auf, Sergej zehn Meter hinter ihr. Statt Sascha zu begrüßen, klagte sie über seine Unpünktlichkeit, die schweizerischen Geschäftsleute, die schlechten Schiffsfahrpläne und den Lümmel Sergej, und merkte nicht, daß Sascha ein saures Gesicht schnitt.

Der Knabe, der zwar die Kohlenaugen der Geliebten hatte und des Vaters eigene vererbte Grazie und edle Blässe, mißfiel ihm wegen seines wilden Trotzes. Die Limonade, die serviert wurde, war bitter, das Bier warm. Und alle diese Getränke, inbegriffen die da und dort vergossenen Tränen, befleckten die Liebe der beiden Entrückten mehr, als sie ahnen konnten. Sie machten den Brautschleier zuschanden.

Lola trug ein wunderschönes smaragdgrünes Seidenkleid, das ihr der Geliebte in Genf gekauft hatte: Frau Blechkin bewunderte es eingehend und fragte nach dem Preis. Lola drehte errötend den Kopf nach dem See, sprang dann plötzlich auf und rief unvermittelt, man müsse zum Zug eilen. Ein groteskes, aufgeregtes Rennen zum Bahnhof folgte.

Sascha fand keine Zeit, sein Kind bei der Hand zu nehmen und ihm die paar großen unvergänglichen Worte zuzuraunen, die die Nahrung für ein ganzes Leben werden können, und die von Blut zu Blut hinüberzünden wie elektrische Funken.

Vater und Sohn wurden auf immer durch die Unbeholfenheit einer armen, zwickerbehafteten Frau auseinandergeworfen.

Auf der Rückfahrt nach Genf hüllte sich der orangene Mont-Blanc in düsteres Gewölk. Sascha las ein Journal. Lola zerbiß ihr Taschentuch.

*

War Edmund heute noch immer in sie verliebt? Er weinte zweimal während dieser Erzählung, die Lola eigentlich mit lustigem und fast losgelöstem Tone berichtet hatte, als handle es sich gar nicht um sie. Aber hier und da hatte sie den schlafenden Knaben mit einem Blick zugedeckt, mit einer gewissen zornigen Zärtlichkeit abgeküßt, die Edmund an ihr nicht kannte.

Und eine große Hoffnung, größer als ganz Paris, das sich ihm eben zu offenbaren begonnen hatte, kam über ihn: die Frau, die er liebte, um derentwillen er einmal die Linie seines Lebens gewaltsam abgebogen hatte, wurde durch Schicksal, an das er immer mehr glauben wollte, zu ihm zurückgeschleudert. Da lag sie, besiegt, blasser und schöner als je. Das Triumphgefühl des obwaltenden Mannes, das alle Männer, selbst die Rivalen, dem Weib gegenüber solidarisch macht, bemächtigte sich seiner. Er spürte einen Augenblick den Geschmack der Rache auf der Lippe, wie von einer exotischen Frucht. Und Edmund dachte schon, er brauche nur der Unglücklichen die Hand hinzustrecken, um sie endgültig zu besitzen.

Schon kristallisierte sich in seinem Hirn eine Zukunft: Ich werde Arbeit finden in einer Redaktion, sie in einer Klinik. Die Mutter lebt mit uns. Wir heiraten in der russischen Kirche. Ich anerkenne Sergej. Oder wir können auch nach der Schweiz zurückfahren. Nein, man soll niemals zurückfahren.

Sechzig Sekunden lang erschien ihm das alles möglich. Madame Blechkin schleuderte mit ihrem Zwicker vom Koffer aus wilde Blicke auf die beiden, und wie durch Gedankenübertragung hatte sie eine ähnliche Vision. Und Lola, die in die Kissen zurückgefallen war, suchte wohlwollend im Gesicht Edmunds alles zusammen, was für ihn einnehmen konnte. Um die Augen herum, selbst bei den Häßlichsten, stagniert immer etwas Seele, die lockt.

Edmund fragte nicht, wie sich das Drama in Genf zu Ende entwickelt hatte: es war zu leicht zu erraten. Aber wie das gekommen war, daß er dann in Lausanne niemanden mehr von der Familie getroffen hatte? Und wie sie plötzlich nach Paris gefahren waren? Seit wann?

Er hatte aber keine Eile mehr, es zu erfahren. Sie hatten ihr ganzes Leben damit auszufüllen, das Wunder zu erklären, das sie wieder zueinandergebracht hatte.

Da klopfte es an der Tür. Ein Herr fragte nach Edmund. Richtig, Edgar sollte ihn um zwölf abholen. Im Gefühl seiner Macht und seines Glücks ließ er ihn unvermittelt hereinrufen. Er wollte dem Jüngelchen, das ihn gestern so überlegen und herablassend behandelt hatte, auch mit etwas Verblüffendem aufwarten. Ob der was von russischen Karawansereien kannte, der Salonsnob? So ein Exemplar wie die zwickerbehaftete Madame Blechkin?

Edgar trat mit ehrerbietiger und abwartender Spannung in das dunkle Zimmer, und übersah zuerst die Situation sehr schlecht. War Edmund im Hotel was passiert? Lag ein Diebstahl bei diesen armen Frauen vor? Er drehte sich nach der Bettdecke um: irrte er sich nicht?

»Lola!« rief er und eilte, die bleiche Hand zu küssen, die an den Laken herunterhing.

»Ihr kennt euch?« fragte Edmund, wie ein Ertrinkender.

»Ich ahnte nicht, daß Sie hier wohnen!« sagte Edgar und beugte sich zu der jungen Frau hin.

»Niemand in Paris ahnt es!« machte Lola.

»Aber!« murmelte Edmund.

Es fiel niemand ein, dem staunenden Edmund gleich eine Antwort zu geben. Es wäre auch viel zu schwer gewesen. Wer sollte wem zuerst erklären? Lola Edmund? Edmund Edgar? Edgar Lola? Und alle drei Madame Blechkin?

Da fand Lola schnell die geeignete Lösung. Sie nahm einen Spiegel, der über dem Bett an der Wand hing, und stieß plötzlich einen erschütternden Schrei aus: Gott, wie sah sie aus! So empfing sie ihre Freunde! Madame Blechkin stand majestätisch auf und trieb die beiden Herren zur Türe. Sergej schlüpfte aus dem Bett und gab ihnen Püffe in die Beine.

Ohne ein Wort vorzubringen, fanden sich die Brüder lachend im Korridor Nase an Nase.


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