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4. Kapitel

Es schlug acht auf einer alten Gesimsuhr, auf der ein in dieser Umgebung besonders anachronistischer Hirtenjunge vergoldete Lämmer hütete. Cocherel ging leise auf Edmund zu und sagte ihm, daß die Kutsche unten auf ihn warte.

Edmund sah sich fragend nach ihm um. Welche Kutsche? Aber schon stand auch Edgar neben ihm und sagte präzis und deutlich, in einem Ton der keine weitere Frage zuließ: »Du bist doch um acht Uhr bei Mutter eingeladen!« Edmund drehte sich nicht um, um nicht in das Gesicht Mazelles sehen zu müssen, das sicher vor Hohn wie ein Clownsgesicht aufgeblasen war. Am peinlichsten war ihm, daß er sich allein verabschieden mußte und nicht durch das Rumoren eines allgemeinen Aufbruchs gedeckt war: aber wie behend schloß sich die Türe hinter seinem Rücken!

Ein Coupé erwartete ihn auf der Straße, die großen Räder blaulackiert, der alte Kutscher schwarzlackiert, das Pferd hellbraunlackiert: wie aus einem Museum dahingestellt. Edmund stieg ein: der Kutscher hatte sich nicht umgedreht. Und konnte es nicht sein, daß irgend ein Passant sich den Witz erlaubt hätte? Der alte Kutscher, die Etikette, die Kultur erlaubten es nicht: unmöglich, daß ein anderer als der Berechtigte an solche Güter gerührt hätte. Der weise, wissende Rücken des Kutschers stand massiv vor ihm, und Edmund wagte sich nicht zu bewegen.

Der Wagen fuhr abseits der geölten Fahravenuen durch kleine holperige Straßen, wie aus dem Bedürfnis heraus, in seinem Milieu zu bleiben, in seinem Jahrhundert: vorbei an hohen Mauern, die noch die letzten Wipfel hoher Kastanien oder Eschen hervorschauen, noch den feuchten Duft verzauberter Parks durchsickern ließen. In allem war ein geheimer Schmerz und Vorwurf.

Im mütterlichen Hause wurde Edmund erst durch eine lange gläserne Galerie geführt, die wie ein Wintergarten hell und mit einigen exotischen Pflanzen bewachsen war. An Zimmern vorbei, von denen jedes seinen persönlichen Duft hatte, kam er bis zu einem Boudoir. An der Tür überrumpelten ihn zwei nackte Arme, ein Schrei. Eine Sekunde lang.

Als sie sich lösten, sah Edmund einen Kopf mit mahagonifarbenen kurzen Locken, zwei große Augen, ebenfalls aus Mahagoni, und einen roten Mund, etwas gerippt, etwas gesplittert der Mund, das einzige was an Alter gemahnte. Seine Mutter? Er hatte sie im Geist mit einem weißen Schopf ausstaffiert, in schwarzer Seide, ein mildes Lächeln – wie in den Photographiealben seiner Jugend. Vielleicht ein Spaß? Eine Nichte?

Der einzige Satz, den ein geschmeidiger Franzose jetzt aussprechen durfte, war: »Wie schön du bist, Mutter!«

Von Edmunds ungeschickten Lippen aber fiel nur das Murmeln eines geschlagenen Kindes: »Verzeih mir!« Warum: »Verzeih«? Das war so deplaziert, und was noch schlimmer, so wenig galant! (Muß man mit einer Mutter galant sein?)

Die Größe der Augen, die Geste der Arme, die Wärme der Stimme von Madame de Tizac sanken um 30 Grad. Warum dies »Verzeih«? Weil er siebzehn Jahre nicht in diesen Armen gelegen, oder weil er jetzt zehn Minuten verspätet war? Warum dies Schuldigsein eines unschuldigen Kindes, das der Mutter erst ihre wahre Schuld aufdeckt?

Innen im Boudoir registrierten die Gäste sofort den Temperaturwechsel, und aus dem Verlorenen Sohn wurde bereits ein Eindringling.

Nur zwei intime Gäste hatte die Mutter noch zum Empfang Edmunds geladen. Ihren alten Kavalier de Saintes und eine sehr begabte und auch sehr warmherzige, einfache Sängerin, Mademoiselle Edmée Blanc: zwei Gegengewichte, die zwischen Mutter und Sohn während des Diners spielend die Balance halten sollten. Je nach seinem Charakter konnte Edmund bei de Saintes sich über Pferde oder Feste erkundigen, oder zur Sängerin, die zwischen den Altern stand, gebeugt, Anmut oder Feuer an den Tag legen. Binnen zehn Minuten hoffte Madame de Tizac sicher Charakter und Anlage ihres Sohnes durchschaut zu haben. Die Menschen, mit denen man sich einläßt, und sei's nur für ein Diner, sind Partner eines ernsten Spiels.

In einem guten Hause werden an den Gast keine Fragen gestellt, Erklärungen scheinbar abwesenden Ohres aufgenommen, und sonst unablässig Anekdoten erzählt, deren Kolorit mit den Weinen steigt. Anekdoten sind das Geplätscher, das das Schlagen der Uhren und der Herzen übertönen soll. Edmund, von der exquisiten Kost, der klaren Ruhe im Raum, der unglaublichen Freundlichkeit und Verbindlichkeit des alten Herrn, der warmen Sympathie der Sängerin, der Schönheit seiner Mutter betäubt, ließ alles das beseligt mit sich geschehen, aß, lehnte sich im bequemen Sessel zurück, lächelte gnädig den leisen Witzen zu und schwieg. Er benahm sich als Mufle. Er war der Jüngere bei weitem, er war der Fremde und der Gast und sollte gewissermaßen dem ruhigen, täglich gleichen Tisch ein Gastgeschenk mitbringen: Leben! Das ist der Trank, der neben Bordeaux und Vichy auf den feinen Tafeln fehlt: Leben!

Edmund merkte wohl, daß diese Tischgesellschaft nur eine Maske des Lebens trug und daß sie in allen Hotels und Villen von Passy ähnlich aussah: Menschen, die sich in eine alte Kultur fröstelnd zurückzogen, weil sie sonst von dem Feuerwagen einer neuen Epoche zermalmt würden.

Der alte Herr erzählte überschwänglich aus seiner Jugend. Wie glorreich erscheinen vergangene Jugenden immer, und wie belanglos die eigene! Aber der Franzose treibt die Courtoisie soweit, daß er den schönsten Erlebnissen, von denen er berichtet, ein Körnchen Ironie und Ungunst beifügt, Pfeffer und Lorbeer, um so den Zuhörer gnädig zu stimmen und ihm den eingeborenen Neid wegzuwürzen. De Saintes hatte Anatole France gekannt, ihn fast jeden Sonntag in einem befreundeten Salon getroffen. Aber ahnend, daß France für die Generation Edmunds ein gefallener Gotts sei, suchte er nur Anekdoten heraus, die den Dichter in ziemlich lächerlichen Situationen zeigten. De Saintes hatte Alexandre Dumas' Tochter einst stark den Hof gemacht, hatte auch Marcel Proust geduzt, von dem er keine andere Erinnerung hatte als daß er ihn in allen Salons des Boulevard St. Germain mit einem wächsernen Lächeln den Damen hatte Tee servieren sehen: »Unter uns, er war damals schon selber das gelungenste Vorbild seiner Snobs!«

Die Sängerin war nicht ohne Charme. Sie hatte Arme wie Früchte, bei denen man sich fragt, ob sie frisch oder kandiert sind. Sie luden zum Biß ein. Sie mochte wohl nichts sehr ernst nehmen, weder die Liebe, noch das Lachen, noch ihre eigenen Augen: denn sie warf das alles viel zu ungezügelt um sich.

Die Mutter war verhalten. Sie legte zuweilen ihre Augen wie zwei Rosen auf die ungepflegte Hand, auf die pickelbesternte Stirn ihres Sohnes, als ob sie das alles mit Liebe verdecken könnte. Es ging schwer. Sie war nicht sehr begeistert von ihm. Er sah gesund aus, und sie hätte es lieber hingenommen, wenn er leicht schwindsüchtig gewesen wäre, weil Blässe ihn geadelt hätte. Was hat er nur hinter seiner Stirn! wiederholte sie immerzu bei sich selbst. Dieser Vorsprung über den Augen quälte sie. Erst bei der Poularde erinnerte sie sich, daß es ein Vermächtnis seines Vaters war. Sie dachte, sie sagte: »sein Vater«, nicht: »mein erster Mann«.

Beim Dessert lief man leicht, wie auf Schlittschuhen, über ebenes politisches Terrain. Zu Edmunds größtem Erstaunen war man über Extremstes, über kommunistische Abgeordnete fast milde zu sprechen. (Er übersah das Lächeln.) Man amüsierte sich über die Kapriolen eines Doriot in der Kammer, regte sich über verschärfte Erbgesetze nicht auf, erkannte gewissermaßen ihre Notwendigkeit an, man schimpfte über einen lächerlich eitlen Nationalistenführer: ja was war denn das? Das war, daß die französische Elite immer ein bißchen frondiert, daß der Franzose in der Intimität eher über seine Lieblinge scherzt als sie lobt, teils weil er zu klug ist, um nicht auch die Gegenansicht zu verstehen, teils aus Selbstironie. Ein Fremder mißversteht letztere oft, fällt tapsig darauf herein. So Edmund. Endlich durch Wein und soviel Zutrauen zu sich gelöst, begann er, als man von Tisch aufgestanden war, auch über sich zu sprechen, über seine Tätigkeit in der fortgeschrittenen Presse, und packte großzügig und schwerfällig seine Ideale eins nach dem andern aus. Edgar hatte ihm doch schon eine kluge, aber zu feine Lektion gegeben, als er am Nachmittag ausgerufen hatte:

»Was, du hast Ideale? Wie zum Donnerwetter sieht denn so ein Tierchen aus?«

Wenn man mit Idealen aus der Schweiz kommt und diese womöglich für teures Geld noch hat verzollen müssen, wenn man einen ganzen Krieg lang vom Prinzip der Güte geträumt hat, womöglich davon dick geworden ist, da gibt man sie nicht preis, in einer seligen Stunde, im Zirkel von drei freundlichen und zartfühlenden Gastgebern. Da sprach er denn von der großen Völkerverbrüderung in der Revolution, brachte sämtliche Bilder und Phrasen seiner Artikel und Volksversammlungsreden vor, sprach, sprach, wie jemand sich nach zu gutem Essen erbricht. Er sah die drei Gesichter, die noch höflich gebeugt waren, aber Eiskugeln beherbergten statt Augen. De Saintes lächelte dann wieder. Fräulein Blanc puderte sich und, als sie ganz plötzlich in einer weißen Wolke auf und davon ging, erbot sich der alte Herr eiligst, sie zu begleiten.

Als Edmund schließlich mit seiner Mutter im tête-à-tête zurückgeblieben war, legte sie ihm leise die weiße Hand aufs schuppige Haar:

»Armer Junge, ich darf dir keine Vorwürfe machen. Sondern du mir. Nein, schweige. Ich bin schuld daran, daß du bist, schuld, daß du so bist. Du hast dich frei geformt, so wirr wie dein wildes Haar hat dein Geist im Freiheitswind ausgeschlagen. Du hast Ideale im Kopf, mein armer junge, und dazu einen schmierigen Schlapphut und Schuppen im Haar. Vielleicht kannst du so glücklich bleiben. Ich wünsche es dir. So aber gehören wir zwei verschiedenen Menschensorten an, die wenig voneinander haben. Ich werde immer verstehn, was du tust, aber du kannst nicht von mir verlangen, daß ich mich für dich ändere. Du hast deinen Bruder Edgar gesehen. Ihr seid zwei Welten, ihr beide. Du wirst sagen, wir hier seien Greise, wir lebten in den Formen der Vergangenheit, wir seien abgetan, erledigt. Es mag sein. Dir sind unsere Manieren vielleicht unerträglich. Sei mir nicht böse. Aber wenn du ein anderes Mal zu mir kommst, zieh andere Schuhe an, einen Kragen, der zum Hemd paßt und laß dir die Haare schneiden. Und, und ...«

Edmund stand feierlich auf, ging langsam zur Türe. Dort drehte er sich um, wartend.

»Und ... und meine Seele, Mama?«

Der Rimmel war bei der Aufregung in die Augen der Madame de Tizac geflossen und beizte sie. Sie wandte den Kopf nach hinten, vor Schmerz. Edmund mißverstand aber die Geste und glaubte, sie verberge Tränen. Da riß er überwältigt seine Mutter in seine Arme, küßte sie ins Haar und lief darauf atemlos zum Hause hinaus.


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