Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13. Kapitel

Bitter war für Edmund die Erkenntnis, daß ihm sein um zehn Jahre jüngerer Bruder fast in allem überlegen war. In allem: Edgar wußte sich besser anzuziehen als er, und mit dreißig lernt man nicht mehr eine Krawatte binden, sie bindet sich von selbst an deinem Hals, ebenso schicksalhaft gut oder schlecht, wie dein Gang dem Hosenbein seine Falten einätzt. Edgar war artiger im Umgang mit Menschen: kann man mit dreißig die Tonfarbe der Stimme noch umändern? Edgar war besserer Psychologe, Edgar hatte größere Kenntnisse in der Philosophie: das alles war nicht einzuholen!

In Mitropa hatte sich Edmund für berühmt gehalten, weil sein Name mit dem anderer Pazifisten in Zeitschriften gestanden und weil eine kleine Bourgeoisie ihn bei gelegentlichen Meetings in Halle, Salzburg oder Neuchâtel ausgepfiffen hatte. Doch der Skandal war nicht ins große Ausland gedrungen. Hier in Paris war er unbekannt, selbst bei denen, die er als seine Mitkämpfer angesehen hatte.

Eines Tages, als er in der Rue Montmartre an dem Gebäude vorbeikam, in dem sich seltsamerweise die Redaktionen von mindestens zwölf in Gesinnung und Wesen diametral entgegengesetzten und feindlichen Zeitungen befanden, so daß man sich fragen mußte, wie solch ein Haus, unter dem atmosphärischen Druck der in allen Zimmer angehäuften und sich gegeneinander austobenden Haß- und Eifersuchtsgefühle, noch nicht explodiert war, trat Edmund in den großen Gang hinein. Er las tatsächlich nebeneinander die Namen einer kommunistischen und einer royalistischen Zeitung, die sich in das dritte Stockwerk teilten. Im ersten befand sich die Redaktion einer erotischen Zeitschrift, die dafür bekannt war, daß sie nur Abbildungen nackter Frauen und die Adressen exquisiter Bordelle brachte. Darüber hatten Bäcker- und Pferdezuchtorgane ihre Geschäftsstellen. Im vierten Stock wurde das gelesenste Abendblatt Frankreichs geschrieben, das keine politische Färbung, das heißt, alle gleichzeitig hatte. Als Edmund im Lift am dritten Stockwerk vorbeifuhr, sah er, daß die beiden gegenüberliegenden Eingangstüren offen waren, und aus beiden hörte man aufgeregte Männerstimmen. Die intimsten Feinde in diesem Land konnten einander leicht behorchen und gaben ihre Geheimnisse ohne Inanspruchnahme von Detektiven und Spitzeln preis. Und vielleicht grüßten sich die Journalisten auf der Treppe tief oder machten sogar einen Witz über die schlechte Heizung?

War das das Geheimnis aller Politik? Daß es nämlich gar keine Geheimnisse gab, daß nur grobe und groteske Formeln die Parteien trennten, aber die Kämpfer menschlich keineswegs mit ihrem ganzen Blut dabei waren? Das merkte man auch am Umgang der Abgeordneten in der Kammer, die sich in den Gängen duzten und auf der Rednerbühne ohrfeigten.

Edmund hatte als Auslandskorrespondent an dem Linksblatt mitgearbeitet und sich immer darauf gefreut, seine Gesinnungsgenossen einmal persönlich kennen zu lernen. Aber am Eingang empfing man ihn barsch. Dreiviertel Stunden mußte er warten, während deren er allerlei beschäftigte und unaufmerksame Journalisten vorüberirren sah, in verlotterten Mänteln, schmutzigen altmodischen Pelerinen, Pfeifen im Mund, in jede Ecke hineinspuckend und schreiend wie in einem Bazar. Eine unwiderstehliche Verachtung erfüllte ihn.

Dann wurde er von einem unbekannten Redakteur empfangen, der sich kaum seines Namens entsann, obwohl vor etlichen Monaten ein Artikel in diesem Blatt gedruckt worden war, den er für sein Evangelium gehalten hatte. Nach einigen Höflichkeitsformeln floh Edmund aus dieser Fabrik, die nur für den Tag arbeitete, und keine größeren Werte verbreitete als der Bäcker mit seinen täglich frischen Brötchen.

Auch Lola, die ihn bei seiner Arbeit in der Schweiz unterstützt und ihn einmal darum gefleht hatte, seine Sekretärin sein zu dürfen, Lola hatte dies alles vergessen und verleugnet.

Er erinnerte sich jetzt mit wehem Gefühl an eine Reise nach Zürich, die sie gemeinsam im ersten Jahr ihrer Bekanntschaft unternommen hatten. 1916. Das Jahr von Verdun. Das Jahr, in dem das Blut am rötesten floß, aber anderswo die Schmerzliebe am rötesten brannte. Damals schwamm tatsächlich ein Schweizer Holzhäuschen über der Blutflut Europas. Drin hauste die internationale Familie von Männern, die den Gedanken an die Liebe und an das Leben zu retten hatten: Dichter waren da aus allen Ländern, und jeder steuerte ein Symbol, eine Gestalt bei, um die göttliche Menagerie, die zur Arche gehörte, zu vervollständigen. Im Hotel Schwert in Zürich war ein offiziöser Kongreß der Weltbrüder anberaumt worden. Es war die erste der Friedenskonferenzen, von der aber niemand mehr spricht, und die kein Geschichtsbuch nennen wird. Deutsche Novellisten, französische Lyriker, italienische Journalisten, russische Dogmatiker, belgische Maler und indische Soziologen hatten eines Nachmittags in der Halle des seltsam stillen Hotels, das wie ein Schiff auf der grünen Limmat verankert war und oben das Dach mit kupferner Abendsonne beziegelt hatte, geschworen, der Mensch sei heilig und unantastbar.

Große Tage der Hoffnung und der europäischen Vorbereitung waren das gewesen. An einem Abend war er mit Lola von einem Arbeiterkomitee zu einer geheimen Sitzung im Hinterstübchen einer schlichten Wirtschaft draußen in der Enge eingeladen worden, wo der unscheinbare Genosse Lenin einen Vortrag über die revolutionäre Unterminierung des Balkans hielt. Polizei war draußen angesammelt gewesen. Sie hatten sich dann schnell auf einem kleinen Pfad am See verlaufen, Edmund, Lola und Ludwig Rubiner. Lola war etwas bange geworden, nicht vor der Polizei, sondern vor den harten, einsilbigen Zürcher Arbeitern, vor der Schlichtheit des Lokals und vor der totenerweckenden Stimme Lenins. Nie hatte das Wort Proletariat so finster, so nackt, so hoffnungslos geklungen. Das Wort Proletariat auf Schweizerdeutsch. Dann aber waren die drei die ganze Nacht hindurch am flammenden See entlang gewandert, bis über Rüschlikon hinaus, vorbei an duftenden Gärten, Apfelhainen und Weinbergen, und hatten aus den hellen Sternbildern über den Alpen das Rätselwort der Zukunft zu entziffern gesucht.

In jener Nacht, wie hatte ihn Lola geliebt! Wie hatte Rubiner Europa geliebt! Wie hatte er, Edmund, die ganze Welt geliebt!

Im Hotel Schwert hatte ein armenischer Bildhauer eine Statue nach ihr gemacht und auf einer Ausstellung in Venedig die »Göttin der Freiheit« genannt. Die Huldigungen waren zahlreich. Und Lola hatte sich als ein wunderbarer Kamerad erwiesen. Und auf das Wort Kamerad war er allerdings hereingefallen. »Ich Tölpel«, schlug er sich jetzt vor den Kopf.

Und nun, was war aus Lola geworden?

Genau dasselbe, was aus ganz Europa geworden, und was aus allen wird, die einmal in einem allzu heißen Schmerz geglüht haben: sie sind Bäume, strotzend von Farbe und Kraft, aber die süßen, schweren Früchte, die sie tragen müßten, sind in einer kalten Frühlingsnacht schon zur Erde gesunken, und es bleibt nichts anderes mehr zu tun, als in Schönheit auf den Oktober zu warten. Und man hat nichts mehr zu verlieren. Und man läßt sich gehen, bis Blatt um Blatt sich löst.

Die alten Ausdrücke wie Gefallene, Verlorene, Hure paßten in den katholischen Wortschatz der feigen Bourgeoisie. Viel zu simpel. Wenn Lola Tänzerin im Kaukasischen Schloß war, glaubte jeder zu verstehen, was es bedeutete: aber jeder irrte sich, der es auch nur deuten wollte. Die Lolas allein waren konsequent. Sie waren die stürmischen Amazonen, das Todeskorps, das dem Geschlecht mit kurzen Röcken und kurzen Haaren unumwunden voranging und das Hallali blies. In ihren Dörfern, in ihren beblümten Alkoven staunten die letzten Jungfrauen und die letzten Mütter. Eine kurze Ruhmeszeit hub an für die Frauen, oktoberfarben. Und dann krachte der Stamm Europa zusammen.

Was für einen Weg hatte Lola in diesen wenigen Monaten in Paris durchschritten! Sie hatte beinah das bewußte, selbstmörderische Geistesniveau eines Edgar erreicht, die wandelbare Frau! Aber viel härter und verknöcherter ist das Rückgrat der Männer: wehe den Dreißigjährigen, den Trägern einer plötzlich veralteten und unnützen Kultur, die doch noch Prätentionen ans Leben hatten und jung sein mußten, und denen es nicht anstand, mit dem Kopf zu wackeln wie Greise! Denen, die nie geherrscht hatten und nie herrschen würden, den abgedankten Kronprinzen einer erblichen und gottbegnadeten Zivilisation! Den Dreißigjährigen nach dem Weltkrieg! Die aber noch eine Moral im Genick trugen wie die hohen gestärkten Vatermörder von 1910. Und die einmal geglaubt hatten, die Menschheit nähere sich der Erfüllung. Denn mit welchem Hochmut waren sie nicht aufgewachsen, mit dem Hochmut des siegreichen Fortschritts. Die Sehnsucht der Menschheit seit Tausenden von Jahren hatte sich in den zwei Jahrzehnten, die sie gelebt hatten, erfüllt: die Entdeckung des Nordpols, die Besteigung des Himalaya, die Erfindung von Luftschiffen, mit denen man über den Atlantik fuhr, Fernhören, Fernschreiben, Fernsehen und Ferntöten. Alles, alles das, und doch kein Glück? Vielmehr ein größeres Seelenelend als je? Gipfelpunkte, und dabei immer nur der Gedanke an den Tod? Die letzten Erforschungen des Ichs, und doch die hemmungslosen, nicht zu stillenden Epidemien von Selbstmord?


 << zurück weiter >>