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16. Kapitel

Wenn Edmund jetzt gegen Mittag, noch etwas müde, im Hotel des Grands Hommes seine Visite bei Lola machte, tat er absichtlich so, als verschweige er gewisse Dinge, die sich in der Nacht zugetragen, was den bewundernden Tadel der Madame Blechkin und ein neugieriges Schweigen der Geliebten zur Folge hatte. Er spielte seine Rolle ganz gut, das heißt, er imitierte seinen Bruder Edgar leidlich. Und der Effekt war, daß Lola ihn viel interessierter erwartete und über die Freunde, die Frauen und so weiter ausfragte. Edgar selber kam seiner Gewohnheit nach ganz selten, denn er verlor ungern, behauptete er, seine Zeit mit Frauen, das heißt der Hof rentierte sich nur bei gleichzeitig erwiesener Huld. Und Lola war krank und nie allein.

Edmunds Herz konnte jetzt ruhig und regelmäßig schlagen.

Die Nachtbeleuchtung des Bœuf sur le Toit wob ihm einen kleinen Heiligenschein. Ewersejeff selbst hatte mehr Respekt und zuckte nicht mehr so mit den Schultern, wenn Edmund sich über Lolas Hand beugte. Und Lola, eines Tages, gab ihrer Bewunderung mit den Worten Ausdruck:

»Wirklich, Edutschka, du bist hier reifer geworden!«

Edmund wütete mit einem geradezu grandiosen Fanatismus gegen seine Gesundheit, die ihm lästig war angesichts der vom Jahrhundertfieber erfaßten schmächtigen Lola. Er harrte jetzt die Nächte lang im Bœuf sur le Toit aus, war immer der letzte Gast, freundete sich mit den Hawaiern an, versuchte ins Banjo zu tuten, und lud sie nachher alle noch in Kutscherkneipen ein. Er untersagte es sich, vor sieben Uhr nach Hause zu kommen. Dann konnte er bis zur Abenddämmerung schlafen, und brachte es sogar so weit, daß er mehrere Tage lang seine Besuche bei den Blechkins einstellte, unter dem Vorwand, er sei zu müde und zu beschäftigt.

Und doch auch diesmal verrechnete sich Edmund. Das Schicksal bewies ihm, daß man mit ihm nicht falschspielen kann, und daß von jedem die Regeln des Jeus erbarmungslos genau eingehalten werden müssen.

Als Edmund einmal, nach fünf oder sechs Tagen, abends um halb sechs an die Tür der Russin klopfte, nachdem er seinem Gesicht eine lässige, übermütige Müdigkeit einstudiert hatte, war er baß erstaunt, niemand andern anzutreffen als die gute Zwickermama. Lola war ausgegangen. Das war die einzige Möglichkeit, an die er nie gedacht hatte: daß Lola auch einmal wieder gesunden konnte. Es war für den unbegnadeten Liebenden so einfach und bequem gewesen, solange sie krank war: er konnte sie im Zimmer antreffen, so oft es ihm angenehm war, und im übrigen war sie in ihrer Bewegungs- und gewissermaßen auch Denkfreiheit ziemlich beschränkt gewesen. Der Kranke ist dem gesunden Besucher immer etwas verpflichtet.

Warum hatte er heute gleich die Intuition, betrogen zu werden? War es nicht seine eigene Schuld, wenn er nicht mehr auf dem laufenden gehalten worden war? Er hatte nicht gefühlt, daß Charme sich nicht erlernt, sondern vererbt, und daß für ihn die Rolle des Lebemanns die unglaubhafteste war, weil ihm die instinktive Artigkeit fehlte, die oft in scheinbarer Unartigkeit besteht.

Betrogen, jawohl, so nannte er das, als Madame Blechkin ihm, absolut ohne Ironie und ohne jeglichen Hintergedanken, erklärte, Lola habe eine Stellung als Sekretärin in der Pariser Sowjetgesandtschaft angenommen. Nicht aus politischen, aus rein sentimentalen Gründen nannte er das einen Verrat. Lola arbeitete: unerträglicher Gedanke. Lola dem schönen, wilden, bittern Spiel der Liebe mehr oder weniger entzogen, Lola wieder ein Mensch, der nicht krank ist, und nicht frivol, in keiner Weise mehr schwach, ein Mensch, der auf kleine, reale Dinge seinen Geist richtet, auf Geschäftspapiere, Vertragsakten oder diplomatische Berichte: o Verrat!

Frau Blechkin trug Tee und Mohnkuchen auf und setzte sich wieder neben ihn, wie damals in Chailly, wenn Lola weggefahren war, und die Alte ihm aus der Tochter Jugendzeit erzählte, sonderbare Geschichten, wie Märchen der Schulbücher. Ein Rußland hatte es gegeben, mit viel Schnee, mit einem gütigen Zaren, mit Generälen und sittsamen jungen Mädchen, von denen Lola eine der letzten gewesen sein mochte. Einmal war sie zum Hochzeitsfest eines Großfürsten geladen, »und unsere Lolenka hätten Sie den Czardas tanzen sehen sollen, mit einem Kadetten zusammen, sie wurde sofort fürs kaiserliche Ballett vorgeschlagen ...«

»Altes Zeug!« unterbrach sie Edmund barsch. »Eine ganz gewöhnliche Kupplerin sind Sie! Wo ist Lola?«

Ein Freund (was für ein Freund? schon wieder ein Freund? schließlich stellte es sich heraus, daß es sich um Ewersejeff handelte) hatte die Tanzmüde überzeugt, daß es nur noch ein Narkotikum gebe, das sie einerseits aus dem Genußleben, andererseits aus der Melancholie erretten würde: die Arbeit. Das neu errichtete Büro der Handelsdelegation hatte dem Zeitungshändler einen gutbezahlten Posten angeboten und ihn gebeten, auch seine Bekannten herbeizuziehen. Lola, die noch von der Schweiz her den russischen Verbannten von damals bekannt war, wurde ohne weiteres aufgenommen, obwohl ihre einstige Verbindung mit einem Marineoffizier und ihr jetziges Kabarettleben mit bolschewistischen Allüren wenig Ähnlichkeit gehabt hatten. In Paris, und mit untergeordneten Beamten, waren die Vertreter der Diktaturregierung recht kulant.

Edmund hörte nur eins heraus: Ewersejeff hatte sie auf seine Seite gezogen! Dieser ungewaschene, unrasierte, immer so demütig schweigsame Russe hatte sie gekapert, während er noch beschäftigt war, die Uneroberte durch Umstellung seiner ganzen Person dem gefährlicher aussehenden Edgar streitig zu machen! War er der Dumme im Blindekuhspiel? Wo er hinlief und hintapste, entwich ihm der Gegner, ohne daß er es merkte. Ein tobender Zorn stieg ihm zu Kopf, um so unerträglicher, als es ein Zorn gegen sich selber war.

Ewersejeff, den er unumschränkt verachtet, den er fast übersehen hatte, dem es scheinbar immer nur auf den Tee und die Nähe der Dampfheizung angekommen war: er Sieger über ihn? Nein, das, unmöglich!

Er fand einen Gegner vor sich, den er bis jetzt immer verachtet hatte. Ob zu Recht oder ohne Unrecht, war hier nicht wesentlich. Nichts ist schwerer, als in einem Liebeshandel einen unwürdigen Rivalen vor sich zu haben. Denn der Haß muß doppelt sein: nicht nur gegen diesen selbst, sondern rückprallend auch gegen die geliebte Frau, die einem solchen die Ehre erweist, Rivale sein zu dürfen, und gewissermaßen zu seiner Bundesgenossin wird. Wieviel angenehmer und ehrenvoller war es, sich mit Edgar zu messen, dem der ältere Bruder, trotz ihrer Verwandtschaft und trotz des Altersunterschiedes, einen adligeren Rang beimaß, weil er Pariser und weil er jünger war.

Aber zwischen Ewersejeff und ihm war nie der geringste Funke Sympathie aufgeglommen. Obwohl sie tagelang in demselben Zimmer und mit denselben Gedanken um Lola gelebt hatten, war nicht der geringste Kontakt, weder ideell noch gefühlsmäßig, zwischen ihnen zustandegekommen. Sie hatten sich wohl die Streichhölzer herübergereicht, manchmal vom Fenster bis zu Lolas Diwan ein Wettrennen veranstaltet, um ein gefallenes Band aufzuheben, oder auch in kalter, ganz unpersönlicher Weise ein Zeitungsproblem gemeinsam erörtert, ohne sich dabei anzublicken, so oben hin, um ja zu bedeuten, daß jedem schließlich die Meinung des andern vollkommen gleichgültig war.

Eine unüberbrückbare Verachtung trennte die beiden. Aus Verachtung hatten sie es sich bisher versagt, auch nur gereizt zu sein gegeneinander. Aus Verachtung hatten sie gelächelt.

Aus Verachtung hatten sie es unterlassen, sich objektiv zu beobachten und zu kritisieren, so daß sie beide eine sehr falsche Meinung voneinander haben mußten. Und aus Verachtung schließlich hatte sich keiner je herabgelassen, mit Lola über den andern zu reden und zu versuchen, ihre Gefühle zu analysieren oder gar zu beeinflussen. Sie glaubten immer, die Anwesenheit des andern sei ein grenzenloser, ganz nebensächlichen Dingen zuzuschreibender Irrtum, oder bestenfalls aus Mitleid geduldet. Ja mit Mitleid erklärte jeder am leichtesten des anderen Gunst.

Daß Madame Blechkin den verkommenen, heimat- und arbeitslosen Russen aus Mitleid bei sich aufgenommen hatte und nun durch die Macht der Gewohnheit als zu ihrer Gemeinschaft gehörig betrachtete, ließ bei Edmund keinen Zweifel zu. Da er die Slaven schlecht kannte, taxierte er auch Ewersejeffs gedrücktes, uninteressiertes und schlampiges Benehmen danach. Sich von zwei Frauen wie ein Hund aushalten zu lassen, empfand er als unmännlich. Sich als Revolutionär auszugeben, und dabei von den besoffenen Kapitalisten von Montmartre für eine Zeitungsnummer ein unangemessenes Trinkgeld zu schinden, unehrlich. Das ganze Wesen dieses stillen und doch irgendwo so leidenschaftlich intoleranten Slaven, unheimlich. Und bis heute hatte Edmund nicht einen Augenblick auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß Lola für diesen Menschen eine andere Regung haben konnte, als die, die man Dienern oder Bettlern entgegenbringt. Ewersejeff trug einen geschenkten, hellgrauen Sommeranzug, der viel zu eng war, und dessen Ärmel und Hosen feine Knöchelgelenke freigaben. Er trug einen unmodischen Spitzbart, wahrscheinlich um das Rasieren zu sparen. Und seine stechenden Augen enthüllten seinen ganzen Geisteszustand.

Hätte er aber gewußt, der schlechte Psycholog, was für eine traurige Gestalt er selbst im Geiste Ewersejeffs vorstellte! Längst bevor er ins Hotel des Grands Hommes gekommen, kannte ihn der Russe und verachtete ihn, durch die Erzählungen, Anekdoten und Komplimente der Familie Blechkin hindurch. Was der Mitteleuropäer für positives Gefühl und echte Liebesmünze hinnahm: die Diminutiva und die einlullenden, familiären Kundgebungen der Alten, die fortwährenden, nicht immer gespielten Neckereien Lolas, und vor allem Sergejs unverblümte Antipathie gegen den »guten« Onkel Edmund hatten genügt, um dem Eingeweihten zu bedeuten, um was für einen Typ Mensch es sich handelte. Er war der Geduldete! Mit ihm hatte man Mitleid! Nie hatte ihn die Mutter anders eingeschätzt als den gutmütigen, blinden Schwerenöter, der im Fall eines Unglücks als letzter Heiratskandidat in Betracht kam. Nie hatte Lola ihn geliebt, sondern ihn vielleicht in den ersten Schweizer Tagen für seinen Umgang mit namhaften Schriftstellern und Revolutionären ein bißchen bewundert. Und nie hatte das intuitive Kind einen Hehl aus seiner Furcht vor ihm gemacht. Trotzdem hielt er sich für den Hahn im Korbe und glaubte, verbriefte Rechte auf die Liebe der Drei zu besitzen!

Ewersejeff verachtete ihn nicht, er haßte ihn.

Er haßte ihn, weil er Edmund hieß. Er haßte ihn, weil er trotz seiner Schüchternheit eine schwarz-weiß karierte Krawatte trug. Er haßte ihn, weil er im Umgang mit Lola nicht schlagfertig war. Er haßte ihn, weil sein linker Schuhsenkel schlecht geknüpft war. Er haßte ihn, weil er im Diskant lachte. Er haßte ihn, weil er Blumen brachte, die immer einen Franc zu billig waren. Er haßte ihn, weil er nicht verstand, warum der Knabe ihn mied. Er haßte ihn, weil er das Wort Revolution in den Mund nahm. Er haßte ihn, weil er Kuchen so schlecht aß, daß immer Brösel an seiner Hose hingen. Er haßte ihn, weil er der kranken Lola immer Verse von Baudelaire falsch zitierte. Er haßte ihn, weil er so groß war und am Fenster stehend das karge Zimmer noch stark verdunkelte. Er haßte ihn, weil er Lola liebte. Er haßte ihn, weil er nicht merkte, daß man ihn haßte. Ewersejeff haßte Edmund so, daß er es nicht eingestehen wollte, denn auch das brachte irgendeine Intimität zwischen den beiden zustande. Er haßte ihn so, daß er beinahe Lola nicht mehr lieben konnte, weil sie ihn nicht so haßte.

Mit einer Nitschewo-Melancholie hatte er gewartet, bis das Spiel des Lebens eine Änderung des Zustandes brachte. Er selbst hätte keinen Finger gerührt, kein Wort dafür gelispelt, und doch hing sein ganzes Sein davon ab.

Eines Tages war ihm dann im Café der Vorschlag gemacht worden, als Übersetzer bei der unlängst eingetroffenen Handelsdelegation mitzuwirken. Ewersejeff war als eines der reinsten, wenn auch politisch untätigen Elemente bekannt. Als er ins Hotel kam und es den Blechkins erzählte, schlug Lola in die Hände und rief, sie möchte auch arbeiten. Sie ging mit ihm aufs Büro und wurde ohne Schwierigkeiten engagiert. Von dem Tag ab war sie gesund. Edmund hatte sich seit vier Abenden nicht mehr gezeigt, und niemand hatte mehr an ihn gedacht.

Madame Blechkin schien von dem wilden Sturm unter Edmunds Schlapphut, den er aus Trotz und Ärger wieder aufgestülpt hatte, nichts zu bemerken. Sie erklärte ihm im Gegenteil, er werde sich über diese neue Wendung in Lolas Leben sehr freuen, er der anfangs gegen das Barleben, in dem man immer bar bezahlt, so gewütet hatte. Was sollte er gegen eine solche Harmlosigkeit der guten Frau tun? Zum erstenmal sah er ein, wie verderblich, wie negativ die »Güte« der Harmlosen ist. Diese hatte er immer für die beste Mutter der Welt erklärt. Wie ein Tölpel hatte er sich auch von ihr einlullen lassen, mit Mohnkuchen, mit Tränen hinter dem Zwicker, mit kleinen hilflosen Vogelschreien. Und hätten es die Verhältnisse nur einmal erlaubt, er wäre ein vorbildlicher Schwiegersohn geworden.

Er konnte sich nicht zurückhalten. Er mußte ihr eine Szene machen. Jetzt, im ungeeignetsten Moment seit ihrer Bekanntschaft. Die Szene, die er nicht gemacht hatte, als ihn Lola im Café Old India einfach hatte sitzen lassen und mit dem Fremden ins Genfer Hotel des Bergues abgereist war, die er nicht gemacht hatte, als er zum erstenmal ahnte, daß Sergej der Sohn und nicht der Bruder Lolas war und man ihn so unmenschlich hatte belügen können, die er nicht gemacht hatte, hier in Paris, wo sie im Kaukasischen Montmartre als eine der vielen tanzenden Fürstinnen fungierte – jetzt, jetzt explodierte sie, im Moment, in dem Lola zu ehrlicher Arbeit zurückgefunden hatte. Wahrscheinlich fühlte er, daß er sie jetzt endgültig verlor.

Hätte ein französischer Lustspieldichter die Figur Edmunds je unter die Feder bekommen, hätte er ihn wohl mit dem lapidaren Satz gezeichnet: »Il est né cocu!«

»Eine Kupplerin sind Sie, Madame Blechkin. Zu allem sagen Sie: ja. Mit wem sie auch herumzieht, noch mit diesem miserabelsten der Pariser Straßenbummler, Sie geben Ihren Segen. Arbeiten? Dieser Schmarotzer arbeiten? Und Lola soll es in einem Büro an der Schreibmaschine aushalten? Mit den Perlmutternägeln, die sie hat! Ihr haltet mich wahrscheinlich alle zum Besten! Wenn sie wirklich ins Sowjethaus gegangen ist, dann weiß ich warum!«

»Warum?« schrie die Blechkin, richtig erzürnt. Sie band sich die Schürze los, im Gefühl, daß sie in der Abwehr imposanter aussehen müsse.

»Spionage!«

»Edutschka«, sagte die Alte mit fistelnder Stimme, »nehmen Sie das Wort in den Mund zurück, fressen Sie es, schlucken Sie es bis zum Nabel hinunter. Doch wenn es noch einmal in diesem Zimmer ertönt, sind wir beide fertig!«

Edmund warf sich auf den Diwan. Es fehlte wenig, er hätte sich langhin auf den Boden geworfen, wie als Knabe, wenn er unglücklich war. Die Nähe der Erde, das heimatliche Gefühl in der Nachbarschaft des Todes kühlt unsere Qual.

Nach zwei Minuten sah er selbst ein, daß er gefehlt hatte.

Plötzlich trat Sergej herein, der bis jetzt auf dem Pantheonsplatz gespielt hatte. Er hatte flammende Backen und trug eine feindselige Gesundheit zur Schau. Gesundheit ist dem Unglück gegenüber immer feindselig. Sein Haar roch nach Abend und Freiheit.

»Gehen Sie von dem Diwan weg«, schrie er auf Edmund ein. »Der Diwan gehört Mamutschka. Gehen Sie weg!« Und dabei zog er ihn fest bei den Haaren. Das Kind verteidigte mit unglaublichem Instinkt die ferne Beleidigte.

Die Beleidigung durch ein Kind ist vielleicht noch demütigender als durch eine Frau, nicht nur weil man ihr gegenüber wehrloser ist, sondern weil sie noch weniger aus der Berechnung und nur tiefer aus dem Untergründigen des Bewußtseins kommt. Edmund wollte sich wie alle Schwächlinge wehren, indem er den Hieb als Streichelei aufzufassen vorgab und das Kind, als es sich ihm näherte, an sich in seine Arme riß. Aber das bekam ihm schlecht. Jähzornig griff Sergej, dessen linkes Handgelenk von Edmund zu stark gehalten wurde, mit der rechten Hand nach dem Füllfederhalter, der auf einem niedrigen Rundtisch neben dem Diwan stand, und stieß ihn dem Peiniger in den Arm. Augenblicklich ließ der Gestochene das leichte sich wegstemmende Körperchen los, und da prallte es hin, glitschte aus und schlug mit dem Hinterkopf gegen den Eßtisch. Zwei Vogelschreie wurden gleichzeitig laut, aber der der Mama Blechkin war noch schriller und weher. Ihr Gezwitscher und Gezeter um den rasch vom Boden aufgehobenen Jungen dauerte lange, lange, während sie sinnlos nach Verbandzeug, heißem Wasser oder Alkohol im Raum umherlief. Edmund wußte überhaupt nicht, was anfangen. Der Tintenstich schmerzte ihn, und doch wagte er sich nicht zum Waschtisch vor, aus Angst vor einer noch stärkeren Schreikrise. Der Sturz des Knaben war an sich ungefährlich gewesen, aber der Schreck der Alten gewaltig. Sie legte ihn der Länge nach auf den Diwan und wimmerte jetzt in einem fort nach Lola.

Edmunds Situation war peinlich. Weglaufen, auf sein Zimmer laufen, war unmöglich, hätte wie Flucht vor der Verantwortung gegenüber einer Frau und einem Kind ausgesehen. Und etwas sagen oder gar helfen schien noch unmöglicher.

Da kamen plötzlich Lola und Ewersejeff herein, mit der angenehmen Ruhe von Menschen, die ein Tagewerk vollbracht, die ihre Existenzberechtigung hienieden bewiesen haben. Sie mußten auf dem Nachhauseweg langsam bummelnd die Artigkeit von Paris genossen haben, die den Wunschlosen zuteil wird. Lola war sehr ruhig und schien von ihrer Krankheit ganz erholt. Ewersejeff hatte die Laune derjenigen, die nach langem Hunger gut gegessen haben.

Die dramatische Stellung der drei Menschen im Halbdunkel reizte sie zum Lachen. Sie dachten an einen Witz. Aber auch selbst nachdem Madame Blechkin die ganze Szene mit weinerlichen Allüren erzählt hatte, drehten die beiden alles ins alltäglich Groteske und lachten. Aber Edmund verdarb sein Spiel. Er blieb mürrisch. Er erreichte es, daß Lola ungeduldig ihre Handschuhe auf den Tisch warf und daß Ewersejeff eine Querfalte in die Stirn bekam.

»Ich will es wissen«, stieß er hervor. »Bin ich zuviel in diesem Zimmer? Aus den Kindern sprechen die Geheimnisse der Großen.«

Man schwieg und zuckte die Achseln.

»Lola«, wandte sich Edmund an die junge Frau, »warum waren Sie gestern Abend nicht im Bœuf sur le Toit?«

»Ich gehe nicht mehr ins Bœuf, ich arbeite!«

»Arbeiten heißt verzweifeln«, statuierte Edmund, der etwas bei seinen neuen Freunden gelernt hatte.

»Wer sagt das Gegenteil?« erwiderte Lola leise. »Man kann sich betrinken, man kann Selbstmorden, man kann arbeiten, es ist alles dasselbe.«

»Das ist Spielverderberei«, sagte jetzt Edmund kläglich. »Ich bin für Sie fin-de-siècle geworden, und nun entschlüpfen Sie mir wieder und werden langweilig-bürgerlich.«

»Von der Langeweile der Cocherels bin ich wenigstens erlöst«, höhnte Lola.

»Wir wollten doch freie Menschen sein!«

›Ja, was ist Freiheit? Tiefbürgerlich ist die Ihre, wenn Sie glauben, daß man sie in Bars und unbeschränktem Alkoholgenuß findet ...«

»Das muß ich mir sagen lassen!« stöhnte Edmund.

»Weil Sie nie einen eigenen Gedanken, nie einen selbständigen Lebensinstinkt gehabt haben, und immer eine Viertelstunde zu spät auf eine Idee kommen. Sie entdecken jetzt Cocherel, das Bœuf und die Cocktails, wo die anderen den Betrieb schon längst an die Industrie zur weiteren Ausbeutung verkauft haben. Denn alles wird industriell ausgebeutet: der Kubismus im Kunstgewerbe, der Weltschmerz in der Psychoanalyse, und der Überrealismus im Hotelgewerbe. Und jetzt entsinne ich mich, Sie kamen ja auch eine Viertelstunde nach Rolland zum Pazifismus und zwei Jahre nach Trotzki zur Revolution!«

»Zur Revolution?« mischte sich zum erstenmal Ewersejeff mit drohendem Baß in die Diskussion, »das Wort Revolution in Ihrem Munde, Herr Edmund, tut mir jedesmal weh. Sie sind ein Literat und gefährlicher Plagiator der Revolution. Ich ziehe einen Royalisten einem Talmikommunisten vor. Ich seh es schon kommen: übermorgen werden Sie mich bitten, Ihnen einen ähnlichen Posten zu verschaffen. Das sage ich Ihnen gleich: nie! nie!«

Alles hieb auf ihn ein. Alles war gegen ihn verschworen. Lola, Ewersejeff, die Blechkin, Sergej. Mit diesen Menschen war es aus. Er würde sie nie wieder sehen. Wie ungerecht gingen sie alle mit ihm um! Sie schlugen ihn mit Keulen, sie stachen ihn mit Stecknadeln, sie pufften ihn mit Kochlöffeln.

Er empfand, daß gegen eine so große Tragik nur mit einer großen Geste anzukämpfen war. Daß man mit diesen Russen nicht mehr mit den gewöhnlichen mitteleuropäischen Karten kleinlich falschspielen durfte, sondern daß nur ein ehrliches Sichfinden und Sichbekennen ihn – nicht mehr vor der Antipathie, aber wenigstens vor der Lächerlichkeit retten konnte. Es war ihm, als könnte er jetzt seine Kleider ausziehen und hinknien vor diesen entfreundeten und entfremdeten Menschen, die nicht böse, aber alle mit dem gleichen Instinkt wie der Knabe vorhin mißtrauisch geworden waren.

»Das alles könnte stimmen«, sagte er mit ruhiger Stimme und fast lächelnd, »aber es gibt eine Erklärung und eine Entschuldigung für meine Fehlschritte, für alles was ich gewesen bin oder geschienen habe. Ich liebe Lola. Ja, du hast recht, auch bei dir bin ich immer eine Viertelstunde zu spät gekommen, selbst bei jahrelangem Vorsprung. Für dich bin ich das geworden, was ich nicht bin. Für dich habe ich mich immer neu verleugnet und verwandelt. Die Liebe war und ist meine Revolution. Die Liebe, das ist meine Freiheit. Ich war nach Paris gefahren, um Paris zu erleben, und ich fand wieder dich, nicht Paris. Was kann ich dafür, daß ich im Hotel des Grands Hommes abstieg, daß mein eigener Bruder dich am Tag vor meiner Ankunft schon gekannt hatte, daß heute Herr Ewersejeff das neue Ideal »Arbeit« erfand, und nicht ich, der Idealenspezialist? Mein Los ist, dich nie zu gewinnen, damit ich meine Liebe nie verliere. Gut, ich nehme es an. Ich verschwinde.«

Frau Blechkin stand am Fenster und wischte sich eine Träne vom Zwicker. Lola strich ihre grünen Handschuhe glatt und glätter. Ewersejeff stand an der Türe – und ließ Edmund ruhig vorbeigehen, als dieser mit einem plötzlichen Griff sich umwandte und, sehr blaß im Gesicht, hinausstürzte.


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