Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Fabeln
Johann Wilhelm Ludwig Gleim

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Der Löwe. Der Tiger. Der Wandersmann

An des Prinzen Friederichs von Preussen Königl. Hoheit

(Im Jahr 1753, als Ihro Königl. Hoheit dem Verfasser Kupferstiche zu den Fabeln des la Fontaine zeigten und ihn dabey fragten: Ob er auch Fabeln machen könne?)

        Als Oesterreich und Sachsen sich verband,
Und Dein geliebtes Vaterland
Verschlingen wolte,
Prinz!
Und unter sich schon jegliche Provinz
Getheilet hatte, da entwich
Von uns der Vater
Friederich,
Mit Seinem Heer, that einen Flug
Auf unsern Feind, und sah und schlug,
Und war des Feindes Sieger.

Und als ich da
Den Helden wieder kommen sah,
Da, Prinz, erzählet ich die Fabel von dem Tiger.

Ein Tiger, schrekklich anzusehn
Obgleich von aussen schön,
Fiel einen armen Wandersmann,
Der vor sich hin, bey stillem Gang,
Ein Morgenlied dem Schöpfer sang;
Mit ausgestrekkten Klauen an,
Ihn zu zerreissen. – – Was geschieht?

Ein edler Löwe sieht
Die Heldenthat aus seiner nahen Höle;
Und, angespornt von seiner grossen Seele,
Fliegt er hervor, springt auf den Tiger,
Hält ihn. – Rund um erschallt,
Von dem Gebrüll der weite Wald,
Jedoch er ist des Feindes Sieger.

Von Blut noch mehr, als von Natur geflekkt,
Liegt er vor ihm lang hingestrekkt.
Er tritt auf ihn. – – Der arme Wandersmann
Fällt auf die Knie, und fleht
Den Helden um sein Leben an.

Der Löwe sieht ihn an, und geht
Zufrieden (seine grosse Seele
Auf dem Gesicht) zurükk in seine Höle.

 


 


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