Die Fieberkurve
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Ein Morgen im Posten Gurama

»Vetter Jakob«, fragte Marie, »hast du die Fieberkurve?« Studer nickte, nickte lange. Sein Kopf konnte nicht zur Ruhe kommen. Marie hatte sich auf das Ruhebett gesetzt, auf dem, vor gar nicht langer Zeit, der Capitaine, der Hund und die Gazelle in tiefem Schlaf gelegen waren. Und Studer hockte auf dem Stuhl, dessen bequemer Bau auch ihm Ruhe geschenkt und die Augen zugedrückt hatte. Auf dem Tischlein lag immer noch das Buch mit dem Vers:

Der Himmel überm Dach
Ist still und leise...

Aber die Anwesenheit Maries hatte die Stimmung im Zimmer verändert. Das Mädchen trug einen weißen Leinenschurz, wie er zur Uniform einer Krankenpflegerin gehört, ihre Haare waren eingehüllt in einen dünnen Schleier, dessen Leinenband ihre Stirn umspannte. Und mitten auf dem Leinenbande prangte ein rotes Kreuz. Sehr sittsam saß Marie auf dem Ruhebett, hatte die Hände gefaltet und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Neben ihr hockte Capitaine Lartigue in seiner verrumpfelten Khakiuniform, so weit nach hinten gelehnt, daß nur ein dunkelblaues Kissen seine Schulterblätter von der Wand trennte. Ihm zu Füßen waren der Hund und die Gazelle, ein braunschwarzes Wolleknäuel.

Ja, die Fieberkurve habe er, sagte Studer und starrte auf den Boden... Das heißt, um ganz genau zu sein, er habe nur die Hälfte der Fieberkurve, die andere Hälfte liege wohlverwahrt in einem Notariatsbureau z'Bärn.

Jetzt war es an Marie, zu nicken. Und sie tat dies auch. Ausgiebig und lange. Schließlich erkundigte sie sich, ob es in diesem Zimmer eigentlich gar keine Zigaretten gäbe? Der Vetter Jakob – l'oncle Jacques, sagte sie – rauche Pfeife, und sie?... Studer seufzte. Wie viele Namen mußte man sich in diesem verkachelten Fall gefallen lassen! Für Madelin war man »Stüdère«, für die Tanzlehrerin »Stiudaa«, für den Murmann »der Köbu«, auf dem Paß hieß man Joseph Fouché, und fürs Hedy war man der »Vatti«. Marie hatte einen »Vetter Jakob« getauft. Das ging noch an. Aber »Oncle Jacques«! Das war zuviel! Und während Capitaine Lartigue ein blaues Päckli, ähnlich dem, das im Schnellzug Paris-Basel neben dem damals noch unbekannten Meitschi gelegen hatte, aus einer seiner Taschen hervorzog und Marie von den Zigaretten anbot, kleidete Wachtmeister Studer von der Fahndungspolizei seinen stillen Protest in laute Worte. Und die Worte waren aus bernischem Stoff.

Der Protest verhallte. Studer hatte den Eindruck, als spräche er zu zwei Puppen. Das gab einen kleinen schmerzhaften Stich. Lartigue sah Marie an und das Meitschi hatte nur Augen für den Capitaine. Und man war der »Oncle Jacques«... Es gab eine Redewendung im Französischen, die hieß: »faire le Jacques«, was sich am besten mit: »dr Löli sy« übersetzen ließ. Und der Wachtmeister kam von diesem dummen Wortspiel nicht los.

Was ging diese beiden, dort auf dem Ruhebett, die Fieberkurve an! Was ging sie der Schatz bei der Korkeiche, am roten Mannfelsen an! Was kümmerte den Capitaine Lartigue, den Viehhändler, Postenchef, Hausvater, Strategen und Arzt, die Tragödie von zwei alten Frauen, die in ihren Küchen ein trostloses Ende gefunden hatten? Dachten etwa zwei Verliebte an Dinge, bei denen jedem Kriminalisten das Herz höher schlägt, an den »Großen Fall« zum Beispiel? Studer seufzte, und da er, zugleich mit dem Seufzer, seine Pfeife auf dem Rande eines porzellanenen Aschenbechers ausklopfte, so blickten die beiden endlich doch zu ihm herüber. Es war Zeit.

»Wir wollen«, sagte Capitaine Lartigue, »die ernsten Geschäfte auf morgen verschieben. Sie sind müde heute, Herr Inspektor, wir werden zu Nacht essen, dann schlafen Sie einmal ordentlich aus und morgen werden wir sehen, wie wir am besten unsere Angelegenheiten regeln können.«

»Unsere Angelegenheiten«, hatte der junge welsche Schnuufer gesagt. Mira! Unsere Angelegenheiten!... Es war nur gut, daß zu diesen »unseren« Angelegenheiten das Nachtessen gehörte. Es war üppig, und gemütlich wurde es auch. Die Ordonnanz des Capitaine, ein Ungar mit einem Rübezahlbart, servierte.

Lammkoteletts. Risotto mit Hühnerleber garniert. Artischocken mit Mayonnaise. Salat. Käse. Dazu gab es einen Weißwein, der den Namen »Kébir« trug. Kébir, erklärte der Capitaine, heiße »Der Große«. Der Wein verdiente den Übernamen.

Das Feldbett war in einem leeren Offizierszimmer aufgeschlagen worden. Es war schmal. Aber das schadete nichts. Wachtmeister Studer schlief ein und er schlief tief. Als er erwachte und auf die Uhr blickte, die auf einem Stuhle neben seinem Bette tickte, war es fünf Uhr. Er stand auf und verließ sein Zimmer. Der Himmel war ein riesiges Tuch aus Rohseide, sehr hell, hie und da gefältelt – die Falten waren dunkler...

Zuerst schien es dem Wachtmeister, als sei der Posten so still wie ein Kirchhof. Fensterlos waren die niederen Baracken, über die sich, fast in der Mitte des Postens, der einstöckige Turm erhob. Fast lautlos ging Studer über den sandigen Boden, er hatte Lederpantoffeln angelegt, deren weiche Sohlen seine Schritte fast unhörbar machten. Er versuchte sich zu orientieren. Dort mußte der Ausgang liegen. Auf ihn ging er zu, er hatte im Sinn, den Posten zu verlassen und noch einmal nachzusehen bei der Korkeiche, ob wirklich nichts zu finden sei.

Da war der Ausgang. Auf einem Prellstein saß ein Legionär, hatte das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett neben sich an die Mauer gelehnt, den Kopf in beide Hände vergraben – und schlief. Rechts vom Eingang kauerte eine Baracke, sie glich so gar nicht den andern Baracken, obwohl sie eigentlich gebaut war wie die andern auch: weißgekalkt die Wände, das Dach aus Wellblech... Aber da waren zuerst zwei Türen, aus schweren Bohlen zusammengefügt, und starke eiserne Riegel waren daran angebracht. Die Enden der Riegel steckten in der Mauer. Und dann – das war das Auffällige! – die Baracke hatte Fenster. Zwei Fenster! Und die Fenster waren vergittert...

Die Wache am Tor schlief. Studer schlich sich an eins der Fenster. Es war etwas hoch angebracht, er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, dann konnte er das Innere überschauen...

Eine Zelle... Schätzungsweise zwei Meter auf anderthalb. In der Ecke ein Zementblock in der Form eines Bettes. Auf dem Block saß ein Mann. Es war dunkel in der Zelle und darum ein wenig schwer zu erkennen, was der Mann tat. Studer beugte sich weiter vor, er gab sich Mühe, mit seinem Kopf keinen Schatten in die Zelle zu werfen. Er wußte selbst nicht, warum es ihm so notwendig schien, daß ihn der Mann nicht erblickte. Jetzt sah man es deutlich: der Mann hielt schmutzige Karten in der Hand, mischte sie, legte sie in einem Päckli neben sich, hob ab – und dann begann er sie reihenweise auszulegen...

Vier Reihen legte er, das war deutlich zu sehen. Vier Reihen zu neun Karten. Dann schüttelte der Mann den Kopf, schob die Karten zusammen, mischte wieder, hob ab – mit der linken Hand – und spielte sein einsames Spiel anders:

Er zog drei Karten ab, sonderte eine aus, warf zwei beiseite. Nahm wieder drei Karten, blickte sie an, warf sie alle drei beiseite. Nahm wieder drei, behielt von diesen dreien eine und warf zwei zum begonnenen Haufen. So fuhr er fort, bis seine Hand leer war. Dann nahm er die beiseitegeworfenen Karten, mischte sie, hob ab und begann das Spiel von neuem. Die ausgesonderten Karten bildeten eine merkwürdige Zeichnung – ein Kreuz, hätte man meinen können.

Immer noch schlief die sitzende Wache am Eingangstor. Aber der Posten war nicht mehr stumm. Aus der Ferne dröhnten Pfannen, die gegeneinandergeschlagen wurden. Unsichtbare Hände zogen den Rohseidevorhang vom Himmel. Und nun war er blau wie gefärbtes Glas.

Da fuhr der Wachtmeister zusammen. Ein Horn gellte seinen Morgengesang durch den Posten, keine fünf Schritte von Studer entfernt... Hinter jener Mauerecke? Der Wachtmeister schlich sich davon. Richtig, da stand einer in resedagrüner Uniform, der Trichter seines Instrumentes war gegen die Sonne gerichtet, die müde und glanzlos hinter den roten Bergen hervorgekrochen kam – und der Mann blies der müden Sonne sein Morgenlied mitten ins Gesicht...

Da zerbröckelte das Schweigen in den Baracken, Husten, Fluchen, Schimpfen... Plötzlich war es, als sei die Luft gesättigt mit Kaffeedampf. Gestalten schlichen vorbei – sie trugen Eimer, die mit einer braunen Brühe gefüllt waren, und ihre Gesichter waren staubig – staubig und mager. Ein paarmal wurde der Wachtmeister unsanft beiseitegeschupft – es war, als seien die Kaffeeträger blind. Aber Studer merkte nichts von diesen unsanften Berührungen. Er sah, und er wurde das Bild nicht los: den einsamen Mann in der Zelle, der sich selbst die Karten legte nach einer Nacht, die er sicher schlaflos verbracht hatte auf dem Zementblock, ohne Decken, in der kalten Zelle – und der nun die erste Morgendämmerung benutzte, um einen Blick zu tun hinter den Vorhang, der ihm die Zukunft verbarg.

... Ein ausgelegtes Kartenspiel in Basel, ein ausgelegtes Kartenspiel in Bern. Wie war es mit dem Hellseherkorporal? Mit dem Giovanni Collani, der am 28. September aus Géryville desertiert war, um dann wohlbehalten am 15. Januar bei seiner berittenen Kompagnie in Gurama einzutreffen? War dieser Schatten, der das erste blasse Licht eines beginnenden Tages dazu benutzte, Karten zu schlagen – ja, wer war der Schatten in der Zelle? Ein unerlaubtes Fernbleiben von dreieinhalb Monaten wird wohl in jeder Armee bestraft – das nannte man Desertion. Gewiß, man würde den Herrn Hellseherkorporal als Kranken behandeln – es gab ja einen wunderbar klingenden wissenschaftlichen Namen für jenen Zustand, von dem Korporal Collani heimgesucht – mira! heimgesucht! – worden war: man nannte das Amnesie. Und wenn man auch nur ein simpler Fahnderwachtmeister war, so konnte es vorkommen, daß man wissenschaftlich auf der Höhe war...

Amnesie!... Gut und recht. Aber man hatte doch feststellen können, daß der Hellseherkorporal hinter Schloß und Riegel saß! Wie war es da möglich, daß besagter Collani, auch wenn er mit dem Cleman, Victor Alois, alias Koller, Mörder der Ulrike Neumann, identisch war, zu dem Mannfelsen bei der Korkeiche hatte gehen können, um den Schatz zu heben? Wie war das möglich? Ganz einfach.

Der Mann hatte einen Komplizen gehabt.

Wie aber – neue Frage – wie aber gedachte der Komplize zusammen mit seinem Auftraggeber den Schatz zu verwerten? Deutlicher gesagt: ihn zu Geld zu machen?

Auf der einen Seite der Geologe Cleman, mochte er nun der Hellseherkorporal sein oder nicht, zusammen mit seinem Komplizen... Gut!... Auf der anderen Seite der Kanton Bern und Marie Cleman, vertreten durch Fahnderwachtmeister Jakob Studer. Zwei Parteien. Sehr sauber. Aber die Rechnung ging nicht auf. Damit sie aufging, brauchte es einen Mittelsmann. Mittelsmann! Schlechtes Wort! Besser: einen Dritten... Damit das Sprichwort nicht log: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.

Wer war der Dritte?...

Studer hatte es gar nicht gemerkt, daß er schon siebenmal um die gleiche Baracke geschritten war, daß es oft, sehr oft Zusammenstöße gegeben hatte mit unzufriedenen Leuten... Mochten sie fluchen! Fluchen hatte den Wachtmeister noch nie beim Denken gestört.

Beim achten Kehr stieß er mit einem Menschen zusammen, der nicht fluchte, und dies weckte den Wachtmeister aus seinem Grübeln. Der Mensch war weiß gekleidet, er trug einen Schleier. Der Mensch sagte: »Vetter Jakob, seid Ihr schon früh auf?«

Dumme Fragen konnte Studer nicht leiden. Darum antwortete er brummend, wenn er auf seinen beiden Beinen spazierengehe, so sei wohl anzunehmen, daß er aufgestanden sei. – Das sei eine Manier, Damen zu begrüßen! – Damen hin oder her. Soviel er sehe, sei keine Dame umewäg, höchstens es frechs Meitschi; und übrigens wolle er es ein für allemal gesagt haben: er heiße nicht »Oncle Jacques«. Das heiße ja Löli auf französisch. Und wenn er bei sich manchmal finde, er sei ein Löli, so brauche ihm dies nicht von jungen Göfli bestätigt zu werden... Und der Wachtmeister wollte auf seinen lautlosen Sohlen weiterstampfen. Marie hielt ihn am Ärmel fest: er möge entschuldigen, sie habe es nicht bös gemeint. Es sei überhaupt alles anders gekommen als sie gedacht habe. Sie habe gemeint, erst viel später nach Gurama kommen zu können, sie habe gehofft, ihren Onkel Matthias, den »Weißen Vater«, schon hier anzutreffen – aber, wie es eben immer gehe auf dieser Welt, Pater Matthias sei erst diese Nacht angekommen. Sehr spät übrigens, gegen ein Uhr. Darum habe sie den Capitaine gebeten, den Vetter Jakob nicht im Schlaf zu stören...

Marie verstummte, ganz erschreckt. Studer hatte sie an beiden Oberarmen gepackt, er hielt sie fest, starrte ihr ins Gesicht, und als Marie ängstlich fragte, was denn los sei, stand sie in einem Kreuzfeuer von Fragen, von leise, aber so zwingend gestellten Fragen, daß ihr ganz schwindelig wurde.

»Denk nach! Denk genau nach! Wie oft ist Pater Matthias deinen Vater besuchen kommen?«

»Aber nie, niemals!«

»Warum?«

»Weil der Onkel Matthias zur katholischen Religion übergetreten ist.«

»Das ist kein Grund.«

»Ich weiß keinen anderen!«

»Wie alt warst du damals, als der Briefträger den Chargébrief gebracht hat?«

»Acht Jahre.«

»Bischt sicher?«

»Ja doch!«

»Wann bist du geboren?«

»Neunzehnhundertneun!«

»Sicher?«

»Eh ja!«

Schweigen, ganz kurz nur. Studer sah die Küche in der Gerechtigkeitsgasse, sah den Pater sein Scheschiaspiel spielen. Er hörte sich fragen: »Wann hat sich Ihr Bruder scheiden lassen? – Antwort: »1908. Im nächsten Jahr hat er wieder geheiratet. 1910 ist Marie geboren worden...«

Neunzehnhundertzehn! Da brauchte man nicht das neue Ringbuch vom Hedy, das stand eingegraben im Schädel! Neunzehnhundertzehn! Und was sagte Marie, die es doch wissen mußte? Marie sagte: 1909. – Irrtum des Paters? Versprechen? So arg verspricht man sich nicht.

»Gut. Neunzehnhundertneun. Wann hast du deinen Onkel zum erstenmal gesehen?«

»Nach Vaters Tod.«

»Im gleichen Jahr?«

»Ich glaub'.«

»Sicher bist nicht?«

»Nei... ein.«

»Einmal, zweimal, öfters?«

»Alle Jahre einmal.«

»Regelmäßig, bis in die letzte Zeit?«

»Nein. Vor fünf Jahren haben die Besuche aufgehört. Dann sind noch Briefe gekommen.«

»Ist der Mutter an den Briefen nichts aufgefallen?«

»Doch. Sie hat einmal gemeint, man merke es, daß der Matthias alt werde. Seine Schrift werde so zittrig.«

Die Eintragung im Gästebuch vom Hotel zum Wilden Mann war gar nicht zittrig! Item... Weiter...

»Und du hast den Onkel wiedererkannt, gleich wiedererkannt, als er dich in Paris aufgesucht hat?«

»Er... er... ist...«

»So red doch, Meitschi!«

»Er ist mir nicht recht bekannt vorgekommen. Der Onkel Matthias, den ich in der Erinnerung gehabt hab', der war größer. Und auch sein Gesicht war ein wenig anders...«

»Wo hat die Mutter die Briefe vom Onkel Matthias aufbewahrt?«

»Bei den Andenken vom Vater.«

Studer ließ Marie so plötzlich los, daß das Mädchen ein wenig schwankte. Aber dann stand es wieder fest auf den Füßen und blickte erstaunt den Wachtmeister an. Sein Gesicht hatte sich verändert, und die Veränderung hatte folgenden Grund: Es soll einmal jemand versuchen, mit lächelndem Munde zu pfeifen und sich dann die Grimasse im Spiegel zu beschauen, die bei einem derartigen Versuch herauskommt. Die Grimasse wirkte auch auf Marie. Sie begann zu lachen.

»Lach du nur, Meitschi! Im Amtshaus z'Bärn sagen sie alle, dr Köbu spinnt. Wir wollen ihnen zeigen, ob der Köbu spinnt! Wie ist es mit dem Capitaine? Seid ihr versprochen? Ja? Und er mag dich? Dumme Frag'«, antwortete sich Studer selber. »Wer soll dich nicht gern haben, Meitschi!«

Marie wurde nicht rot, sie spielte nicht verschämt mit ihrem Schürzenzipfel, sie brauchte auch nicht den Schleier. Sie sagte:

»Wenn Ihr mich gern mögt, Vetter Jakob, und der Louis mag mich, was brauch' ich da mehr? Die anderen?...« Sie zuckte die Achseln. Und Studer meinte trocken, das sei schön, daß Marie ihn noch vor dem Verlobten genannt habe... Es werde schon gut kommen. Nur keinen Kummer!...

Kummer habe sie keinen, sagte Marie. Wenigstens für sich nicht. Aber ob der Vetter Jakob nichts riskiere? Er solle bedenken, daß er allein in fremdem Lande sei, sie habe da etwas vernommen von einem Schatz, ob es nicht besser sei, das alles sein zu lassen. Schließlich, wenn sie den Louis heirate, dann lange dem sein Sold schon für sie beide... Und allzuviel Geld? Das schade nur. Das mache nur böse und schlecht!

Studer hörte zerstreut zu. Dann meinte er bissig: Wenn nur sie, die Marie, allein im Spiele wäre, nicht den kleinen Finger tät' er mehr rühren. Aber es stünden Staatsinteressen auf dem Spiel. Staatsinteressen! wiederholte er und fuhr dem Meitschi mit dem Zeigefinger vor der Nase hin und her.

Marie lief davon. Der Wachtmeister aber blieb an derselben Stelle stehen, seine Hände lagen gefaltet auf dem Rücken und er schüttelte den Kopf, schüttelte ihn lange und ausgiebig, wie ein Roß, das die Bremsen plagen...

Es war eine Schande. Und eine Schande war's, sich so übers Ohr hauen zu lassen! Eine Entschuldigung hatte man. Es war das erstemal, daß man mit einem solchen Gegner zu kämpfen hatte. Und glatt wäre man unterlegen – wenn nicht, wenn nicht im letzten Moment etwas Unwägbares, etwas, das zu den Imponderabilien gehörte –Imponderabilien! Das Lieblingswort eines Mannes, von dem man einmal viel gelernt hatte – ja, wenn nicht etwas Unwägbares eingetroffen wäre. Etwas ganz Einfaches: daß der Beherrscher des Postens Gurama sich in ein Mädchen verliebt hatte...

Noch lange wäre der Wachtmeister am gleichen Platz stehengeblieben, aber Lartigues Stimme weckte ihn.

»Was ist los, Inspektor? Machen Sie Morgengymnastik? Finden Sie, Ihr Hals werde zu dick? Wackeln Sie deswegen mit dem Kopf?«

Studer blickte auf – nein, er blickte nicht, er glotzte. Er hatte den gleichen stumpfen Blick wie schon einmal.

»Eine Frage, Capitaine«, sagte er. »Wie haben Sie – wenn ich nicht indiskret bin – Maries Bekanntschaft gemacht?«

»Wir haben uns in Paris kennengelernt, einmal, als ich Urlaub hatte. Kennen Sie Bullier?« Studer nickte. Er kannte den Ballsaal im Montparnasse-Quartier. »Dort haben wir zusammen getanzt. Und auch die nächsten Tage haben wir uns öfters getroffen, bis mein Urlaub zu Ende war...«

»Gut. Aber wie ist Marie nach Gurama gekommen?«

»Am 2. Januar«, sagte Capitaine Lartigue, »habe ich von Marie ein Telegramm erhalten...« Er zog eine Brieftasche aus der Tasche, entnahm ihr ein zusammengefaltetes Papier und reichte es dem Wachtmeister. Außer der Adresse standen nur drei Worte darauf:

»Brauche fünftausend Marie.«

»Suumeitschi!« murmelte Studer, und Lartigue erkundigte sich, was der Herr Inspektor gesagt habe.

»Ein gutes Mädchen«, übersetzte der Wachtmeister das Dialektwort.

»Ja«, meinte Lartigue trocken. »Übrigens hätte ich gern dem Gespräch zugehört, das Marie in Fez mit dem Direktor des Sanitätswesens für Marokko gehabt hat. Es stimmt ja, ich habe schon einige Male eine Krankenschwester verlangt... Aber der Direktor hat Generalsrang und ist als Weiberfeind bekannt...«

Studer lachte, lachte lange und laut, schlug sich klatschend auf die Schenkel, so daß ihn der Capitaine erstaunt von der Seite betrachtete. Mit einem Schlag verstummte das Lachen, Studer wandte sich um und sagte mit einer Stimme, die ihm der Capitaine nie zugetraut hätte – sie triefte von süßer Höflichkeit wie ein Ankenbrot, das man zu dick mit Hung bestrichen hatte.

»Sie hier, mon père? Wie geht es Ihnen? Haben Sie Ihr Sorgenkind schon gesehen?«

»Ah, Inspektor, wie freue ich mich!« Ganz wenig nur zitterte das Schneiderbärtchen. »Sie müssen verzeihen, wenn ich Ihnen damals in Bern durchgebrannt bin, aber ich habe meine Schulden bezahlt, niemand hat meinetwegen Schaden erlitten. Und ich wußte, daß man mich notwendig in Marokko brauchte... All meine verlorenen Schäflein, Inspektor, sie riefen nach mir. Konnte ich da meine Ohren verschließen?«

»Aber, mein lieber Vater! Wer hätte dies von Ihnen verlangt? Habe ich es Ihnen nicht deutlich zu verstehen gegeben, daß wir in der Schweiz immer bestrebt sind...«

Weiter kam Studer nicht. Pater Matthias unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Wie freue ich mich, Sie hier gefunden zu haben. So werden wir gemeinsam den Capitaine aufklären können über die Rolle, die in dieser Affäre ein unglücklicher Mensch gespielt hat, der sich vor der Strafe in die Legion geflüchtet hat. Aber nicht wahr, Capitaine Lartigue, Mörder muß auch die Legion ausliefern...«

Es war ein Triumph für den Berner Wachtmeister, den Mann, der ihm als Willkommensgruß einen Boxkampf angeboten hatte, unsicher und verlegen zu sehen.

»Einen Mörder? In meiner Kompagnie?« fragte er.

Pater Matthias' Augen standen voll Tränen.

»Leider«, sagte er. »Leider ist es so. Und ich bin sicher, unser Schweizer Inspektor hat die lange Reise nur darum gemacht, um das langwierige Auslieferungsverfahren ein wenig abzukürzen – den Mörder womöglich gleich mitzunehmen, sobald die Bewilligung vom Ministerium in Paris angekommen ist. Nicht wahr?«

Studers Gesicht drückte Trauer aus. Er nickte.

Capitaine Lartigue aber begann:

»Und ich dachte, Inspektor, Sie seien gekommen, um nach...«

Die übrigen Worte waren nicht zu verstehen. Ein derart heftiger Hustenanfall zerriß Wachtmeister Studers Brust, immer wieder begann er von neuem – nichts nützte es, daß freundliche Hände ihm den Rücken beklopften, stöhnend konnte er schließlich hervorwürgen:

»Ca... pi... taine... Sie... ha.... ben... wohl in Ihrer Apo... the... ke... ein Mi... mi... ttel...«

»Aber natürlich, Inspektor, kommen Sie mit!«

Pater Matthias blieb ziemlich erstaunt allein im Hofe stehen. Immer noch hustend warf Studer einen Blick zurück. Und da beneidete der Wachtmeister den Pater Matthias: der Weiße Vater besaß ein Bärtlein und einen Schnurrbart – zwei unentbehrliche Beruhigungsmittel bei eintretender Ratlosigkeit...

Im Krankenzimmer verschluckte Studer schnell die Pille, die ihm der Capitaine gegeben hatte. Dann sagte er, leise und schnell:

»Sagen Sie dem Pater nichts von der Fieberkurve!... Nichts von dem Schatz...« Studer blickte mißtrauisch zum kleinen Fenster hinaus, das mit einem feinmaschigen Drahtnetz überzogen war – er sah, daß Pater Matthias eilig näherkam, in zwei Sekunden schätzungsweise würde er den Raum betreten...

»Sie haben gestern von einem Gericht gesprochen, das Sie einberufen könnten. Guter Gedanke. Tun Sie es heut nachmittag, klagen Sie mich der Spionage an...« Draußen hielt ein Mann den Pater an und obwohl Studer den Mann nicht kannte, war er ihm dankbar und versprach ihm in Gedanken einen Liter Wein... »Hören Sie zu! Capitaine! Kommen Sie näher!« Und Studer flüsterte eifrig und aufgeregt in Lartigues Ohr. Der Capitaine zeigte zuerst Erstaunen, dann nickte er, nickte eifrig... Die Tür wurde aufgestoßen, Pater Matthias betrat den Raum.

Der Wachtmeister spielte seine Rolle ausgezeichnet. Er hielt den Atem an und preßte die Luft in seine Lungen, sein Kopf war rot. Keuchend schnappte er nach Luft.

»Ich weiß«, sagte Pater Matthias, »ein ausgezeichnetes Mittel gegen solch chronische Hustenanfälle. Ich erinnere mich, daß Sie schon einmal in Bern einen derart heftigen Anfall gehabt haben. Sie müssen etwas dagegen tun. Was haben Sie unserem Inspektor verschrieben, Capitaine?«

»Ich hab ihm ein Dowersches Pulver gegeben«, brummte der Capitaine und spielte den Mißmutigen. »Aber ich habe jetzt zu tun. Rapport, verstehen Sie? Um halb zwölf ist Mittagessen in der Offiziersmesse. Sie sind alle eingeladen...«

Lartigue führte zwei Finger an seine Polizeimütze und verließ den Raum. Kaum aber hatte er das Krankenzimmer verlassen, fühlte auch der Wachtmeister das Bedürfnis, ins Freie zu gelangen.

»Auf Wiedersehen, mon père«, sagte er. Er fühlte des Paters Blick auf seinem gerundeten Rücken, und das Gefühl war genau so unangenehm wie damals, als der Brigadier Beugnot ihn verfolgt hatte...


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