Die Fieberkurve
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Die Geschichte vom ersten Daumenabdruck

Freiburg... Sie kennen Freiburg, Wachtmeister?... Ein hübsches altes Städtchen. Dort wurde am 1.Juli 1903 ein Mädchen vergiftet aufgefunden. Man dachte zuerst an Selbstmord. Auf dem Nachttischli, neben dem Bett, stand ein Glas – es enthielt Blausäure, genauer: KCN, Cyankalium.

Wo hatte sich das Mädchen das Gift verschafft? Rätselhaft... Um acht Uhr morgens fanden die Eltern die Tote in ihrem Bett; darauf riefen sie die Polizei. Damals amtete in Freiburg ein Kommissär, dem einiges von den neuen Methoden der Kriminalistik zu Ohren gekommen war. Er bemerkte auf dem Glase – es war ein glattwandiges Glas, wie man es gewöhnlich zum Zähneputzen gebraucht – einen deutlichen Fingerabdruck. Darum verpackte er das Glas in Seidenpapier und, da es damals in der Schweiz nur einen Mann gab, der auf dem ganz neuen Gebiete des Fingerabdruckes Bescheid wußte, telephonierte er mir...

Ich hatte gerade Zeit – im Juli gibt es für einen Fürsprech nicht viel zu tun. So fuhr ich nach Freiburg, nahm meinen Photographenapparat mit, pulverisiertes Bleikarbonat und pulverisiertes Graphit.

Ich will Sie nicht langweilen. Ich brachte den Fingerabdruck sauber auf die Platte, entwickelte sie, nahm die Fingerabdrücke der Toten, nahm die Fingerabdrücke der Eltern, des Polizeikommissärs – und verglich...

Es war eine mühsame Arbeit, dieses Vergleichen der Fingerabdrücke. Bald aber war ich sicher, daß irgendein Fremder in das Zimmer eingedrungen war und das Glas mit dem Cyankali auf das Nachttischli des Mädchens gestellt hatte... Und der Fremde war der Mörder...«

Herr Rosenzweig, der trotz seines Namens gar nicht jüdisch aussah, nahm ein Wattebäuschlein, um es in seinem Ohr zu versorgen...

»Die Zähne...«, sagte er entschuldigend. »Die Zähne schmerzen mich. Es ist das Alter, was wollen Sie, Wachtmeister!«

Sein Berndeutsch war gar nicht urchig. Seine Sprache war jenes Bundesschweizerdeutsch, das heutzutage jeder Gebildete in der Schweiz spricht...

»Ja... Ein Fremder hatte also das Glas mit dem Cyankalium auf den Nachttisch des Mädchens gestellt. Als nach der Obduktion auch noch bekannt wurde, das Mädchen habe ein Kind erwartet, schien es auf der Hand zu liegen, daß die Tochter einem Mörder zum Opfer gefallen war – einem sehr geschickten Mörder, denn als einzige Spur von ihm war ein Daumenabdruck auf einem Wasserglas zurückgeblieben...

Sie müssen sich das recht lebhaft vorstellen, Wachtmeister; damals waren die Verbrecher nicht so geschult wie heute; sie wußten nicht, daß sie der Abdruck eines Fingers verraten könne. Sie arbeiteten noch nicht mit Chirurgenhandschuhen. Und es war Zufall, purer Zufall, daß der damalige Freiburger Polizeikommissär an mich gedacht und mich gerufen hatte. Und Zufall, daß ich gerade Zeit hatte...

So bin ich zu dieser Photographie gekommen, und ich habe sie oft angeschaut, – ich habe sie vergrößert, aber die Vergrößerungen sind mir mißraten. Die Photographie verglich ich mit jedem neuen Fingerabdruck, den ich meiner Sammlung einverleibte. Denn immer hoffte und hoffte ich, daß ich einmal auf den Besitzer jenes Daumens stoßen würde.

Denn dies muß ich meiner Geschichte hinzufügen, die Untersuchung, die damals eingeleitet wurde, verlief im Sand. Das Mädchen genoß viel Freiheit – nach damaligen Begriffen. Zweimal in der Woche fuhr es nach Bern – es nahm hier Klavierstunden. Manchmal blieb es auch über Nacht in unserer Stadt, bei einer Freundin hieß es.

Der Kommissär von Freiburg setzte sich mit der Berner Polizei in Verbindung. Es gelang festzustellen, daß die Tochter ein paarmal im Hotel ›zum Wilden Mann‹ übernachtet, daß ein junger Mann sie jedesmal begleitet hatte... Das heißt: das Mädchen nahm stets ein Einzelzimmer, aber am Morgen trafen sich die beiden an der Frühstückstafel und der junge Mann wohnte ebenfalls im Hotel...

Nur – der junge Mann blieb verschwunden. Und alle Nachforschungen verliefen resultatlos – wie es immer so schön in den Zeitungen heißt. Der Portier vermochte den jungen Mann zu beschreiben – aber die Beschreibung war so oberflächlich, daß man nichts damit anfangen konnte...

Ein Student?... Ein Student, der in Bern studierte? Ein Chemiker? Ein Mediziner?

Rätselhaft blieb einzig, warum er nach Freiburg gefahren war – er hätte doch so gut die Pastille Cyankalium dem Mädchen geben und ihm versichern können, es sei ein ausgezeichnetes Mittel gegen Kopfweh! Doch nein – er war nach Freiburg gefahren, er hatte die Tochter in ihrem Zimmer aufgesucht, das Gift im Wasser aufgelöst und die Ahnungslose trinken lassen... Das war nicht schwer. Ulrike – ja, Ulrike Neumann hieß das Mädchen – also Ulrike bewohnte eine Dachkammer, das Tor blieb bis um zehn Uhr offen, drei Familien bewohnten das Haus... Wer wollte da alle Ein- und Ausgänge kontrollieren?...

Und heute, Wachtmeister, kommen Sie mit dem vielgesuchten Fingerabdruck zu mir... Wenigstens glaube ich, daß es sich um den gleichen handelt. Natürlich, beschwören könnte ich nichts. Sie sehen, wie vergilbt, trotz aller Vorsicht, die Photographie ist. Aber die Narbe... die Narbe... Sie sehen doch die Narbe? Der Schnitt, der die Haut des Daumens teilt, der die Spiralen zerschneidet? – Wo haben Sie den Fingerabdruck gefunden?«

Studer räusperte sich. Er war nicht gewohnt, so lange zu schweigen. Und dann erzählte er die Geschichte vom Tode der beiden Frauen, vom Auffinden der Tasse im Schüttstein, daß jemand sie geleert und ausgespült hatte, während er sich in der Wohnung umgesehen habe...

»Es sieht ihm ähnlich«, sagte Herr Rosenzweig. »Die gleiche Technik, möchte ich fast sagen, nach zwanzig Jahren... Und Sie haben keinen Fingerabdruck des Paters?« Kopfschütteln... »Schade.«

Schweigen. Dann sagte Herr Rosenzweig abschließend und stand auf: »Lassen Sie mir die Tasse da, Wachtmeister; ich werde den Abdruck vergrößern...« Er blicke auf die Uhr. »Wenn Sie wollen, können Sie um vier Uhr einen Abzug haben...«

Auch Studer erhob sich und griff mechanisch in seine Busentasche. Mechanisch: denn er dachte daran, eine Brissago anzuzünden, sobald er das Heiligtum der Fingerabdrücke verlassen haben würde... Er griff also in die Busentasche – und fühlte etwas rascheln unter seinen Fingern. Er zog das Papier hervor und vergaß dabei gänzlich das längliche Lederetui; denn was er hervorzog, war die Fieberkurve...

Die Fieberkurve... Er faltete sie auseinander, betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und war plötzlich weit weg...

– Der weißgekalkte Raum, in dem es noch nach Leuchtgas riecht... Durch das Fenster sieht man spitze Dächer, Reif liegt auf ihnen und über den gegenüberliegenden First schiebt sich eine bleiche Sonne...

Am Fenster aber steht Marie, sie trägt ein teures Pelzjackett, ihr Atem läßt auf dem Glase einen trüben Fleck entstehen, Tropfen bilden sich...

»Was habt Ihr da Schönes, Wachtmeister?«

»Eine Fieberkurve...« Und Studer erzählte, was es mit dem Dokument für eine Bewandtnis hatte...

»Lassen Sie mir das Papier da«, meinte Herr Rosenzweig. »Ich werde es mit Joddämpfen behandeln... Vielleicht läßt sich ein Fingerabdruck darauf entwickeln... Auf alle Fälle werde ich Ihnen mitteilen können, von wo es abgeschickt worden ist. Sie wissen, daß ein durch die Enveloppe durchgedrückter Poststempel noch nach Jahren nachweisbar ist...«

Studer verabschiedete sich dankend. Er versprach, gegen vier Uhr wiederzukommen...

»Unnötig«, sagte Herr Rosenzweig. »Ganz unnötig. Ich komme in die Stadt, wir können uns, wenn Sie wollen, irgendwo treffen – zu einer Partie Billard? Ja?«

»Ich weiß nicht«, sagte Studer, »ob mir die Zeit langen wird... Märci einewäg...«

Pater Matthias saß im ledernen Klubsessel und las in einem kleinen, schwarzgebundenen Büchlein. Er trug eine verbogene Stahlbrille auf der Nase und seine Lippen bewegten sich lautlos.

Studer grüßte kurz und verlangte dann die Daumen des Paters zu sehen.

Sie waren glatt. Keine Narbe zerteilte ihre Spiralen...

Also?... Also war in den wenigen Minuten, während deren Studer die Küche verlassen hatte, außer dem Pater ein anderer eingedrungen und hatte die Tasse ausgespült... Das schien fast unmöglich. Einleuchtender war die andere Theorie: der Daumenabdruck, den Herr Altfürsprech Rosenzweig auf der Tasse entdeckt hatte, war am gestrigen Abend vom Mörder zurückgelassen worden. Und Pater Matthias hatte die Tasse aus einem vorläufig noch undurchsichtigen Grunde ausgespült und damit dem Mörder geholfen... Warum?... Alles schien darauf hinzudeuten, daß Pater Matthias den Mörder kannte, ihn jedoch decken wollte... Und plötzlich – ein Sonnenstrahl brach durchs Fenster – blieb Studer stehen, geblendet, mitten in der Küche.

Koller!... Den Namen kannte er doch!... Den Namen hatte er schon gehört!... Und zwar in Verbindung mit einem Vornamen, der wie der seinige lautete... Gewiß: »Das junge Jakobli läßt den alten Jakob grüßen...« Aber...

Der Sekretär! Der ehemalige Sekretär des verstorbenen Geologen, der Sekretär, der Marie Cleman nach Paris mitgenommen, ihr ein Pelzjackett und seidene Strümpfe gekauft hatte, der Sekretär, der vor drei Monaten verschwunden war und mit dessen Verschwinden sich Kommissär Madelin von der französischen Police judiciaire beschäftigte! Dieser Mann hieß Koller!...

Nun konnte man ja zugeben, daß der Name Koller ein weitverbreiteter Name war... Immerhin...

Wachtmeister Studer stand inmitten der Küche, in welcher die geschiedene Sophie Hornuss gestorben war und sein Blick war so abwesend, daß sein Blick leer war wie der eines wiederkäuenden Ochsen. – Und falls es einem Leser einfallen sollte, diesen Vergleich despektierlich zu finden, so sei er daran erinnert, daß Homer die Augen der Göttin Hera, der Gemahlin des blitzeschleudernden Zeus, mit den Augen einer Kuh verglichen und diesen Vergleich sicher nicht beleidigend gemeint hat...

Und wieder wurde das Schweigen in der kleinen Küche drückend, bis Studer seine Uhr aus dem Gilettäschli zog und feststellte, daß es halb eins sei. Was gedenke der Herr Koller zutun? »Herr Koller!« sagte der Wachtmeister.

»Darf ich Sie begleiten, Inspektor?« fragte Pater Matthias schüchtern. Er schien vor dem Alleinsein Angst zu haben.

»Mynetwäge!«

Das Zwiespältige! Es ließ sich nicht erklären, es gehörte einfach zu der Person des Weißen Vaters... Und um der Erklärung dieses Zwiespältigen etwas näher zu kommen, nahm der Wachtmeister auch die Unannehmlichkeit mit in Kauf, an der Seite des Bekutteten durch die Stadt zu wandeln.

»Chömmet!« sagte er. »Wir können zusammen irgendwo essen. Aber zuerst muß ich in meine Wohnung. Vielleicht ist Bericht da von meiner Frau. Sie wissen ja,«, und plötzlich hörte er auf, seinen Begleiter zu »ihrzen«, »daß ich Großvater bin...«

Sie waren auf der Straße angelangt und wandelten langsam unter den Lauben.

»Großvater!« sagte Pater Matthias mit so erstickter Stimme, daß Studer Angst hatte, das Männlein werde wieder anfangen zu weinen. Darum lenkte er ab:

»Ja, es ist ein merkwürdiges Gefühl... Als ob man die Tochter verloren habe... Sie hat einen Landjäger im Thurgau geheiratet – meine Frau hat mir nach Paris telegraphiert, daß alles gut abgelaufen sei... Aber das hab ich Ihnen schon erzählt.«

»Gratuliere... Gratuliere noch einmal aufrichtig!...«

»Wozu gratulieren Sie mir?« sagte Studer ärgerlich. »Ich hab' doch mit der ganzen Sache nichts zu schaffen. Die Tochter hat ihr Kind, ich bin Großvater!... Gratulieren!« Er hob seine mächtigen Achseln. Das waren auch so ausländische Komplimente!

So ärgerlich war der Wachtmeister, daß er brüsk stehenblieb und fragte: »Hören Sie einmal zu, Herr Koller! Sind Sie verwandt mit dem ehemaligen Sekretär Ihres Bruders, der vor ein paar Monaten verschwunden ist und den die Pariser Polizei sucht...?«

»Ich... wie meinen Sie... verwandt? Mit wem verwandt?«

»Mit einem gewissen Jakob Koller, der seinerzeit Ihren Stiefbruder Cleman nach Marokko begleitet hat. Nachher hat er in Paris ein eigenes Geschäft aufgemacht, zu dem er die Marie gebraucht hat – als Sekretärin... Sekretärin!...«

Schweigen. Es schien, als habe der Wachtmeister auf seine Frage keine andere Antwort erwartet als Schweigen. Pater Matthias nahm lange Schritte, weitausholende; er drückte das Kinn auf die Brust und steckte die Hände tief in die Kuttenärmel, wie in einen Muff.

Die Sonne schien winterlich. Auf den Trottoirs lag ein wenig Reif als dünner, glitzernder Staub. Die beiden ungleichen Gefährten gingen über die Kirchenfeldbrücke, da blieb der Pater stehen, lehnte sich über das Geländer und blickte lange auf die Aare; ihr Wasser war hell, fast farblos. Die Bise wehte...

»Es ist alles so anders hier«, sagte Pater Matthias. »Auch schön, gewiß; aber ich habe Sehnsucht nach den roten Bergen und den weiten Ebenen.« Er sprach sehr ruhig. Studer stützte die Unterarme aufs Geländer und blickte in die Tiefe. Da wandte sich der Pater um. Studer hörte ein Auto vorbeifahren und – kaum hatte sich das summende Geräusch ein wenig entfernt – einen unterdrückten Ausruf seines Begleiters:

»Inspektor! Schauen Sie!...«

Studer drehte den Kopf. Aber er sah nur noch die Rückwand eines Autos und die Nummer, die er mechanisch ablas: BS 3437... Ein Basler Auto...

»Was ist los?« fragte er.

»Wenn ich nicht wüßte, daß es unmöglich ist...«, sagte der Pater und rieb sich die Augen.

»Was ist unmöglich?«

»Ich glaube, Collani saß in dem Auto zusammen mit meiner Nichte Marie...«

»Marie?... Marie Cleman?... Chabis!« Studer wurde ärgerlich. Wollte ihn der Schneider Meckmeck zum besten halten? Marie zusammen mit dem Hellseherkorporal? In einem Basler Auto?..

»Und er trug einen blauen Regenmantel...«, sagte der Pater, mehr für sich.

Studer schwieg. Was hätte es auch für Wert gehabt, Fragen zu stellen? Es war ihm, als werde er in einen Wirbel hineingezogen: man wußte nicht mehr, was Lüge, was Wahrheit war. Halb unheimlich schien ihm der Mann in der weißen Kutte, und halb lächerlich. Eigentlich hätte man den Pater ins Kreuzverhör nehmen sollen: ›Warum habt Ihr die Tasse mit dem Somnifen-Kaffeesatz ausgespült? Warum seid Ihr in die Schweiz gekommen? Wann habt Ihr Marie in Basel verlassen?‹... Man sollte sich vergewissern, vor allem, ob der Mann wirklich ein Priester war... Mußten katholische Priester nicht jeden Morgen die Messe lesen? Studer erinnerte sich an diese Tatsache, die ihm Marie erzählt hatte...

»Wann sind Sie eigentlich in Bern angekommen?« fragte Studer. Er hatte die Frage schon einmal gestellt, er stellte sie wieder – und eigentlich hoffte er nicht, eine Antwort zu erhalten... Er behielt recht. Der Pater sagte: »Ich habe mit meiner Nichte zu Nacht gegessen. Dann bin ich gefahren...«

»Mit dem Zug?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mit einem Taxi gefahren bin.«

»Und wo sind Sie abgestiegen? Wo haben Sie Ihr Gepäck gelassen?«

»Im Hotel zum Wilden Mann...«

»Wo?« Studer schrie es fast. Er war mitten auf dem Trottoir stehengeblieben.

»Im Wilden Mann...«, sagte Pater Matthias und in seine Augen trat eine ratlose Qual, wie früher schon, eine Qual, die sich nur allzuleicht in Tränen auflösen konnte.

»Im Wilden Mann!« wiederholte Studer und setzte sich wieder in Gang. »Im Wilden Mann!«

»Warum wundert Sie das, Inspektor?« fragte der Pater schüchtern. Merkwürdig heiser war seine Stimme. »Man hat mir das Hotel warm empfohlen. Hat es keinen guten Ruf?«

»Man hat es Ihnen empfohlen? Wer man

»Ich weiß es nicht mehr... ein Reisender auf dem Schiff, glaub ich...«

»Sie haben das Hotel früher nicht gekannt?«

»Früher? Warum früher? Ich bin schon seit mehr als zwanzig Jahren in Marokko...«

»Zwanzig Jahre? Und vorher?«

»Früher war ich im Ordenshaus. Es liegt in der Nähe von Oran, in Algerien. Ich bin mit achtzehn Jahren dort eingetreten...«

»Sie haben nie von einem Mädchen gehört, das Ulrike Neumann hieß? Hä? Und das im Hotel zum Wilden Mann abstieg?«

Studer hatte gerade noch Zeit, den Pater aufzufangen, – mein Gott, wie mager war das Männlein! – dann stand er da, hielt die spärliche Gestalt in den Armen und blickte in ein Gesicht, das eine grünliche Farbe angenommen hatte, während sich die Haare des Schneiderbartes in des Wortes wahrster Bedeutung sträubten...

»Sssä, sssä!« sagte Wachtmeister Studer, es waren Lockrufe, die er in seiner Kindheit beim Gustihüten gebraucht hatte. »Ssä ssä!« wiederholte er noch einmal. »Nimm di z'sämme! Bischt chrank?« Und fügte reumütig hinzu, er habe sich dumm benommen und der Pater möge ihm verzeihen, aber er habe nicht gedacht...

»Schon gut«, sagte der Weiße Vater, und es war günstig, daß er zur Aussprache dieser beiden Worte die Lippen nicht brauchte – denn diese waren starr und weiß.

Rufe wurden laut: »Isch er chrank?« – »Was git's?« – »Eh, de arm alt Ma...« – »Sicher isch er schier verfrore mit syne blutte Scheiche...« – »Du Lappi, de isch es g'wohnt...«

Studer wurde böse und forderte die hilfsbereiten Schwätzer auf, sich zum Teufel zu scheren. Er sei Manns genug, mit dem Alten fertig zu werden. Überhaupt wohne er in der Nähe und...

»Gehen wir weiter«, sagte Pater Matthias laut und deutlich. »Und verzeihen Sie die Umstände, Inspektor. Wenn Sie mich ein wenig stützen, wird es schon gehen. Und bei Ihnen daheim werd' ich mich ein wenig wärmen können. Nicht wahr?«

In diesem Augenblick hätte Studer für das Männlein alles getan. Sogar den Ofen angeheizt im Wohnzimmer – den Donner, der nie recht ziehen wollte... Immerhin, wer hätte glauben können, daß der Name der Ulrike Neumann den Pater so erschüttern würde – ein Name, den der Wachtmeister heute früh zum ersten Male gehört hatte... War der Mann Priester geworden, um den Mord an dem jungen Mädchen zu... zu... sühnen, ja: sühnen!... So sagte man wohl...

Aber der Daumen auf Herrn Rosenzweigs Photographie hatte eine Narbe gehabt... und des Paters Daumen waren glatt...

Cleman – Koller... Koller – Cleman... Ein Sohn aus erster Ehe? Wie hatte der Wachtmeister in Basel gesagt? »G'späßige Familienverhältnisse!« Ganz richtig! Die Verhältnisse in der Familie Koller – oder hieß sie Cleman, die Familie? – waren mehr als nur g'späßig! Sie waren sonderbar, merkwürdig, verzwickt, unklar...

Und die Bise pfiff über die Brücke! Es besserte auch kaum, als die beiden in die Thunstraße einbogen. Studer stützte seinen Begleiter. Nicht nur nebeneinander spazierten sie durch die Stadt Bern – nein, Arm in Arm! Aber der Wachtmeister hatte keine Zeit, sich zu genieren vor den Bekannten, die ihn vielleicht sahen.

Vor seiner Wohnungstür angelangt, schnupperte Studer in der Luft. Es roch nach gebratenen Zwiebeln! Das Hedy war zurückgekehrt!... Der Wachtmeister stellte diese Tatsache mit ungeheurer Befriedigung fest. Nun war alles gut – und sicher war auch der grüne Sternsdonner im Wohnzimmer geheizt!...

Frau Studer stand schon bereit, als der Wachtmeister die Türe aufstieß. Sie war nicht weiter erstaunt über den Besuch, den ihr Mann da angeschleppt brachte, sondern harrte geduldig einer Erklärung. Ihre Hände lagen, zwanglos gefaltet, auf ihrer weißen, gestärkten Schürze. Als sie aber sah, daß der merkwürdige kleine Mann, der mit einer weißen Kutte angetan war – und unten ragten die nackten Füße hervor – sich fest auf den Wachtmeister stützte, um nicht umzufallen, kam sie eilig herbei und fragte, beruhigend und mütterlich:

»Ist er krank? Kann ich helfen?«

Sie wartete eine Bestätigung gar nicht ab, sondern packte den Pater resolut unter den Armen, führte ihn ins Wohnzimmer, legte ihn aufs Ruhebett. Dann waren plötzlich Decken da, ein frischüberzogenes Kissen, eine Wärmflasche und neben dem Ruhebett dampfte auf einem Küchenstuhl eine Tasse Lindenblusttee. Auf dem Boden standen nebeneinander die beiden Sandalen, ihre Riemen waren dünn und abgewetzt, die Sohlen wölbten sich vorne nach aufwärts. Frau Studer hatte die Hände wieder leicht über der Schürze gefaltet und meinte kopfschüttelnd:

»Wie weit die haben wandern müssen! Gell, Vatti, man sieht's ihnen an!«

Studer brummte etwas... Er haßte es, wenn seine Frau ihn vor fremden Leuten »Vatti« nannte – übrigens machte sie die Sache sogleich wieder gut, denn sie sagte:

»Weischt, Köbu, ich hab' dir gestern abend zweimal angeläutet und dann noch einmal heut morgen aufs Amtshaus.« Aber sie habe ihn nirgends verwütschen können...

Er habe eben viel Arbeit gehabt, sagte Studer und fand endlich Zeit, seine Frau auf die Stirn zu küssen. Diese Stirn war hoch und glatt, faltenlos, ein Scheitel teilte die Haare, sie bildeten im Nacken einen Knoten und waren braun und glänzend, wie frisch aus der Schale gesprungene Kastanien. Niemand, dachte Studer, würde dem Hedy die Großmutter ansehen...

Die Scheschia, der rote verpfuschte Blumentopf, lag neben dem Kranken. Frau Studer hob sie zerstreut auf, stülpte sie über den Zeigefinger der Rechten und gab ihr mit der Linken kleine Stöße, bis sie zum Kreisen kam. Als sie aufblickte, sah sie auf dem Gesichte des Paters ein schüchternes Lächeln. Da mußte auch Studer lachen.

»Sehen Sie, Inspektor«, sagte Pater Matthias, »es ist wirklich das einzige Spiel, zu dem eine solche Kappe taugt, und die magere Lady ist ganz zu Unrecht nervös geworden... Verzeihen Sie, Inspektor, verzeihen Sie die Umstände, Madame, ein Fieberanfall, der mich auf offener Straße gepackt hat... Der Klimawechsel, wahrscheinlich – die Kälte...«, und das kleine Gesicht mit den fiebrig glänzenden Augen darin schien diese Version des Vorfalls zu bestätigen.

»Fieber!« brummte Studer, als seine Frau das Zimmer verlassen hatte. »Fieber ist eine gute Ausrede... Warum löst ein Name...«

»Bitte, Inspektor, schweigen Sie jetzt!« sagte da Pater Matthias, und er sprach energisch, wie einer, der weiß, was er will. »Es ist unchristlich, einen Kranken zu plagen – und vielleicht habe ich Ihr Vertrauen doch noch nicht ganz verscherzt – vielleicht glauben Sie mir noch, daß ich Ihnen kein Theater vorspiele...«

»Hm!« brummte Studer, noch nicht völlig versöhnt, noch nicht ganz überzeugt. Aber nicht umsonst wandte man sich an seine menschlichen Gefühle...

»Wir haben...«, sagte er leise, »in der Schweiz noch nicht die Methoden unserer Nachbarstaaten eingeführt. Schließlich... Wollen Sie ins Spital, Herr Koll... eh... Pater Matthias?«

»Nein, nein, das geht vorüber. Warten Sie, ich muß irgendwo noch pulverisierte Chinarinde haben... Hab' ich sie im Hotel gelassen? Nein... Da ist sie...« Er zog eine runde Blechbüchse – wie sie sonst für Hustenbonbons gebräuchlich ist – aus irgendeiner andern tiefen Tasche, schüttete etwas von dem braunen Pulver in den Tee, rührte um und trank die Mischung... Plötzlich stellte er die Tasse mit lautem Geklirr wieder ab und starrte auf ein kleines Nähtischchen, das beim Fenster stand. Angst war in seinen Augen zu lesen...

Aus der Küche kam Frau Studers Stimme: es sei ein Brief gekommen, er liege auf dem Tischli beim Fenster...

Pater Matthias folgte aufmerksam jeder Bewegung des Wachtmeisters. Studer nahm den Brief, sah ihn an: eine unbekannte Frauenschrift. Poststempel: Transit. Auf dem Bahnhof abgegeben, oder direkt in den Zug geworfen...

Studer riß die Enveloppe auf.

Ein einfaches Blatt:

»Lieber Vetter Jakob!

Beiliegend schicke ich Ihnen meinen Fund. Ich glaube, er wird Sie interessieren. Sie haben das Telephonbuch nicht sorgfältig genug durchsucht. Wie Sie sehen werden, kommt das leere Kuvert, das ich Ihnen schicke, aus Algerien. Aufgegeben wurde der Brief am 20. Juli vorigen Jahres in Géryville. Am 20. Juli! Am Todestage meines Vaters! – wenn auch die Fieberkurve anderer Meinung ist. Ich habe den Tod meiner Tante in Bern schon erfahren – Wie? Das darf ich Ihnen nicht verraten. Ich habe Angst. Darum will ich eine Zeitlang verschwinden. Suchen Sie mich nicht, lieber Vetter Jakob, es würde nichts nützen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich Ihnen erzählen durfte. Sie müssen die Sache jetzt aufklären. Denn ich bin sicher, daß auch Sie nicht an die beiden Selbstmorde glauben. Sie werden meinen Onkel Matthias noch sehen, das weiß ich; grüßen Sie ihn von mir. Wenn es Sie interessieren kann, so hat er gestern mit mir im Bahnhofbuffet zweiter Klasse zu Nacht gegessen und ist gegen zwölf Uhr mit einem Taxi nach Bern gefahren. Ich wünsche Ihnen viel Glück.

Ihre Marie Cleman.«

Die Enveloppe, die dem Briefe beilag, war ziemlich zerknittert. Sie war adressiert an »Madame Veuve Cleman-Hornuss, Spalenberg 12, Bâle«. Auf der Rückseite der Absender.– »Caporal Collani, 1er Régiment Etranger, 2me Bataillon, Géryville, Algérie.« Und der Poststempel trug wirklich das Datum des 20. Juli...

Als Studer aufblickte, begegnete er den ängstlichen Augen des Weißen Vaters. Und ängstlich war auch die Stimme, mit welcher der Priester fragte:

»Schreibt Ihnen meine Nichte?«

Studer nickte nur stumm. Er saß am Fenster, in seiner Lieblingsstellung, die Ellbogen auf die gespreizten Schenkel gestützt, die Hände gefaltet. Und er dachte: ›Wenn dies wirklich der »Große Fall« ist, von dem ich jahrelang geträumt habe, so ist er unerlaubt verkachelt... Was verkachelt!... Verhext ist er! Aber wir werden ihn schon deichseln, und wenn wir nach Algerien fahren müssen oder nach Marokko...‹ Zu welchem stummen Selbstgespräch einzig zu bemerken wäre, daß Studer es mit den Königen und andern gekrönten Häuptern hielt... Er dachte nie »ich«, sondern »wir«...

Frau Studer kam mit der Suppenschüssel.

»Tuets-ech nid störe, Herr Mönch, wenn mr z'Mittag essed?«

Pater Matthias lächelte und Studer belehrte seine Frau, daß dies kein Mönch, sondern ein Pater sei... Frau Studer entschuldigte sich. Dann setzte sie sich ihrem Manne gegenüber und begann die Suppe zu schöpfen; gerade als der Wachtmeister den ersten Löffel zum Munde führte, hörte er vom Ruhebett her ein leises Gemurmel. Erstaunt blickte er auf... Pater Matthias hatte die Hände auf der Decke gefaltet und murmelte ein lateinisches Gebet...

»Benedicite...«

Darob wurden die beiden alten Menschen am Tisch so verlegen, daß sie ungeschickt die Hände vor ihren Tellern falteten...


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