Die Fieberkurve
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Studer in der Fremdenlegion

Godofrey hatte nicht gelogen. Der Brigadier Beugnot, der den Auftrag erhalten hatte, den Berner Wachtmeister zu beaufsichtigen, war nicht der Schlaueste – oder, und das konnte auch als Erklärung für sein Verhalten gelten, er hielt die Schweizer im allgemeinen für dumm und den Inspektor Studer im besonderen für harmlos.

Vor dem Tor des Justizpalastes wartete dieser Brigadier Beugnot, kam mit in die Untergrundbahn und stieg aus an der Station Pigalle; er betrat mit Studer das Hotel und blieb hinter dem Wachtmeister stehen, während dieser seine Rechnung bezahlte. Der Brigadier folgte seinem Schützling auch auf den Ostbahnhof – dies kostete die französische Regierung eine Taxifahrt – und wartete dann auf dem Bahnsteig, bis der Basler Zug aus der Halle fuhr. Studer war guter Laune. Er winkte mit seinem breitrandigen Filzhut aus dem Fenster und mußte lachen, weil der Brigadier Beugnot, dem dieses Winken galt, automatisch das Winken erwiderte. Der französische Polizeibeamte schnitt dazu ein Gesicht, welches durch das Erstaunen, das es ausdrückte, dümmer schien, als es eigentlich vom Reglement vorgesehen war.

Es galt, vorsichtig zu sein, dachte Studer auf seinem Fensterplatz, während die aussätzigen Häuser der Vororte am Zug vorbeihumpelten. Vorsichtig! – Wie anders war er vor einer Woche gereist! Da saß ihm gegenüber ein Mädchen: graue Wildlederschuhe, seidene Strümpfe, Pelzjackett... Der Wachtmeister riß sich zusammen. Vorsicht! Worin hatte die Vorsicht zu bestehen? Er durfte nicht in die Heimat zurück – die Schweizer Paßkontrolle würde ihn ohne Anstände durchlassen. Aber wie sollte er die Schweiz verlassen? Die französische Kontrolle passieren mit einem falschen Ausweis? Riskant! Gefährlich!

Es empfahl sich, dem Beispiel einiger Mitspieler in diesem verkachelten Falle zu folgen – und zu verschwinden. Studer schmerzte es, daß er nicht einmal seine Frau benachrichtigen konnte. Aber diesmal durfte er keine Unvorsichtigkeiten begehen, und eine solche wäre es gewesen, wenn er der französischen Post einen Brief anvertraut hätte...

Er stieg in Belfort aus und übernachtete dort in einem Hotel mitten im Städtlein – nicht in der Nähe des Bahnhofes. Er kaufte einen neuen Koffer, einen steifen Hut, einen dunklen Mantel und ein Paar hohe gelbe Schnürschuhe mit starker Sohle. Dann ließ er sich bei einem Coiffeur den Schnurrbart abrasieren und die Haare, die an den Schläfen bedenklich weiß waren, schwarz färben. Die Polizeimarke wirkte Wunder. Der Coiffeur lächelte geschmeichelt und geheimnisvoll, der Hotelbesitzer nahm den Anmeldeschein schleunigst und unausgefüllt wieder mit. Studer hatte zwei Worte gesagt: »Politische Mission!« und den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. »Ich verstehe, verstehe gut!« hatte der Besitzer genau so geheimnisvoll erwidert.

Dann fuhr der Berner Wachtmeister, der plötzlich ein Inspektor der französischen Polizei geworden war, weiter nach Bourg. Dort stieg er um und nahm eine Nebenlinie nach Bellegarde. In Bellegarde wartete er auf den Nachtzug, der von Genf über Grenoble direkt nach Port-Bou an die spanische Grenze führt. Einige Stationen vor Port-Bou lag jenes Port-Vendres, das der Unbekannte den Berner Gangstern angegeben hatte.

Und in Bellegarde, während er auf den Schnellzug wartete, nahm Wachtmeister Studer Abschied von seinem treuesten Reisebegleiter: dem ramponierten Koffer aus Schweinsleder. Es war ein wortloser, aber inniger Abschied. Dinge haben oft mehr Herz als Menschen – der Koffer verzog alle Falten, die ein langer Gebrauch in sein Leder gegraben hatte. Aber er weinte nicht. Koffer weinen nicht. Koffer begnügen sich damit, kummer- und vorwurfsvoll dreinzublicken...

Port-Vendres... Auf der einen Seite des Hafens, der nur ein großes Bassin ist, das faulig riecht, steht ein riesiges Hotel, das meistens leer steht. Auch hier wirkte die Erkennungsmarke Wunder. Doch nicht zu vergleichen war diese Wirkung mit jener, welche die Marke auf das kleine Fräulein im Postbureau ausübte.

Studer trat an den Schalter, sagte mit jener Betonung, die er Madelin abgelauscht hatte: »Police!« – Hier müssen wir nachtragen, daß Studer das Französische ohne deutsche Färbung sprach – seine Mutter war in Nyon daheim gewesen..., und ließ die Marke in der hohlen Hand aufleuchten.

Eifrig und beflissen nickte das schüchterne Fräulein, sie erhob sich halb von ihrem Stuhl und blieb so stehen, mit gebeugten Knien und schiefem Oberkörper...

»Was kann... womit kann... ich dem Herrn Inspektor dienen?«

»Ich möchte die Sendungen sehen, die in den letzten Wochen postlagernd eingetroffen sind«, sagte Studer und war genau so verlegen wie das Fräulein. »Ich meine die Sendungen, die noch nicht abgeholt worden sind, mein liebes Kind.«

Das »liebe Kind« wurde rot, und das war eine Katastrophe. Denn die natürliche Röte ihrer Wangen wollte gar nicht zu der künstlichen ihrer Lippen passen.

»Die... die... Poste-restante-Briefe... Ge... ge... gern, Herr Inspektor!«

Fünf Briefe. »Vergißmeinnicht 28«, »Mimose 914«, »Einsames Veilchen im Frühlingswind«, »Rudolf Valentino 69« und – endlich! – »Port-Vendres 30-7«. Die Schrift!

»Ich brauche diesen Brief!« Studer versuchte umsonst seiner Stimme Festigkeit zu geben, sie zitterte, aber das kleine Fräulein merkte es nicht. »Soll ich Ihnen Decharge geben?«

»De... De... charge? Wenn Sie so freundlich wären... Eine Empfangsbestätigung, wenn ich bi... bi... tten dar He... Herr Inspektor!«

Der Wind kam vom Meer. Er brachte Feuchtigkeit und einen ganz leisen Geruch nach Seetang und Fischen. Studer atmete tief. Dann riß er die Enveloppe auf.

»Lieber Vetter Jakob!

Ich weiß, daß du den Brief erhalten wirst, denn du bist ein kluger Mann. Er ist wütend, daß der Überfall nicht gelungen ist, aber ich hab' lachen müssen. Die Panik ist vorbei – denn als ich dich anrief, hatte ich einen Augenblick den Kopf verloren. Jetzt hab' ich ihn wiedergefunden, das war nicht schwer, denn er ist groß genug – der Kopf nämlich. Ich bin sehr froh, daß du die große Reise machst, denn allein kann ich mit der ganzen Sache nicht fertig werden. Und Pater Matthias kann mir gar nicht helfen... Warum? Das wirst du erfahren! Du mußt unbedingt zuerst über Géryville fahren, und wenn ich fahren sage, so ist das ein Verlegenheitsausdruck, denn du wirst kein Gefährt finden. Aber ich gebe dir Rendez-vous in Gurama. Dort werde ich dich notwendig brauchen. Sei also zur Stelle! Aber nicht vor dem 25. Januar. Und mach dir keine Sorgen, wenn du mich dort nicht antriffst. Ich werde erscheinen, wenn es nötig sein wird. Inzwischen kannst du dich dort mit dem Beherrscher des Postens unterhalten. Er heißt Lartigue und stammt aus dem Jura. Vielleicht findet ihr einen Dritten zum ›Zugere‹, aber spiel nicht höher als zehn französische Centimes den Punkt. Du hast bis jetzt eine gute Nase gehabt, fahre in dieser nützlichen Beschäftigung fort und sei herzlich gegrüßt von deiner Adoptivnichte

Marie.«

»Suumeitschi!« murmelte Studer und blickte sich gleich danach erschreckt um, nein! Niemand konnte diesen Ausruf gehört haben. Der Quai war leer, Gott sei Dank. So las er den Brief noch einmal und versorgte ihn dann bedächtig in seiner Busentasche. Mochte er dort mit der Fieberkurve gute Nachbarschaft halten! Doch seine Zufriedenheit und seine Freude über den Brief erlitt sogleich einen Dämpfer. Dieser Dämpfer nahm die Gestalt eines Windstoßes an, der ihm den steifen Hut vom Kopfe und in das Schwimmbassin blies. Alles Fluchen half da nichts. So kaufte sich Studer ein Béret; dann verließ er das Geschäft und betrachtete sich noch einmal prüfend im Spiegel des Schaufensters: er sah wirklich ganz unschweizerisch aus mit seinem glatten, mageren Gesicht, den massigen Körper eingezwängt in den dunklen Überzieher, der auf Taille geschnitten war; und das Béret gab ihm etwas Abenteuerliches. Er freute sich über sein Aussehen, der Wachtmeister Studer, er freute sich, daß er in eine fremde Haut geschlüpft war... Aber er wußte nicht, daß diese leise Freude, die in ihm zitterte, auf lange Zeit seine letzte sein sollte. Auf drei Wochen nämlich... Aber drei Wochen können sich dehnen, als seien sie ebensoviel Jahre.

Von Port-Vendres geht zweimal die Woche ein Schiff nach Oran. Am nächsten Tage war eines fällig, und Studer war froh darüber, denn der Miniaturhafen ging ihm auf die Nerven – besonders sein fauliger Geruch nach Gerberlohe und spanischen Nüssen. Das Meer war schmutzig und seine Wellen glichen dicken, alten Frauen, die ein nicht ganz sauberes Kopftuch aus Spitzen auf die fettig-grauen Haare gelegt haben – und nun weht das Tuch, während die Weiber mühsam vorwärts rollen... Das Meer war also eine Enttäuschung, und die Enttäuschung verflog auch nicht auf dem Schiff. Im Löwengolf machte sich, wie meistens, ein Sturm bemerkbar, der teils mit Hagel, teils mit Schnee vermischt war. Studer wurde nicht seekrank. Aber er war doch unzufrieden: als französischer Polizeiinspektor durfte er keine Brissagos rauchen, Franzosen kennen diese geniale Erfindung nicht, sie rauchen Zigaretten, allenfalls Pfeife. Studer hatte sich eine Pfeife gekauft. Auf dem Schiff übte er sich darin, sie nicht ausgehen zu lassen. Es war schwer. Aber dann schmeckte sie ihm plötzlich – so gut, daß er eine seiner letzten Brissagos, die er verstohlen in der Kabine angezündet hatte, zur Luke hinauswarf. Der Ketzer schmeckte auf einmal nach Leim.

In Oran hatte er nichts zu suchen. So fuhr er weiter nach Bel-Abbès.

Und dort prallte er mit einer derart fremden Welt zusammen, daß ihm der Kopf brummte.

Die Ankunft schon auf dem kleinen Bahnhof! Ein Dutzend Leute in grünen Capottes, die in der Taille von grauweißen Flanellbinden zusammengehalten wurden, standen da, und die Bajonette an ihren Gewehren schimmerten schwärzlich. Aus einem Waggon hinter der Lokomotive quollen viel unbewaffnete Uniformierte, die sich in Viererreihen aufstellen mußten – dann wurden sie von den Bajonettträgern eingerahmt und trabten ab. Studer folgte ihnen. Eine lange Straße zwischen Feldern, auf denen verkrüppelte Holzstrünke wuchsen. Es waren Reben, aber hier zog man sie anders als im Waadtland. Am Himmel stand ein unwahrscheinlich weißer Mond, der vergebens versuchte, die Wolken fortzuwischen, die immer wieder an seiner platten Nase vorbeistrichen.

Ein Stadttor, aus roten Ziegeln erbaut... Eine breite Straße... Ein Gitter und vor dem Gitter ein Wachtposten, auch er in einer resedagrünen Capotte, der den Eingang bewachte... Und hinter dem Gitter der Kasernenhof, umgeben von trostlosen Gebäuden; sie erinnerten mit ihrem Aufsatz an die Häuser, die in den Vororten von Paris am Zuge vorbeigehumpelt waren.

Studer trat auf den Wachtposten zu und verlangte den Colonel zu sprechen. Der Posten hörte sich Studers Wunsch gelassen an und deutete dann mit einem Kopfruck nach hinten. Studer wurde ungeduldig. Wo er sich denn melden solle, fragte er barsch.

»Postenchef«, sagte der Mann und ließ sein Gewehr knallend von der Schulter fallen. Studer sprang erschreckt einen Schritt zurück. Aber der Posten hatte es mit der linken Hand aufgefangen; diese linke Hand lag plötzlich waagrecht – und jetzt erst verstand der Wachtmeister, daß der Posten das Gewehr präsentierte. Ein Offizier ging vorüber, von seiner Frau spazierengeführt, und grüßte nachlässig.

»Was?« fragte Studer, als das Gewehr wieder schief auf der Schulter des Resedagrünen lag.

»Sie müssen beim Postenchef melden!« wiederholte der Legionär. Die Worte waren hart wie Kieselsteine. Aber die Betonung? Die Farbe der Sprache? Wahr- und wahrhaftig!... Des Resedagrünen Sprache hatte berndeutschen Klang. Studer sah den Mann an. »Steh« ich in finstrer Mitternacht!« ging es ihm durch den Sinn. Aber die heimatlichen Laute machten das Ganze nur gespenstischer. Und es ging ein kalter Wind, der nach Erde und Sand schmeckte...

Der Postenchef war Russe. Ein Sergeant und sehr wohlerzogen. Er gab sich Mühe, seine Abneigung gegen die Polizei nicht allzu deutlich zu zeigen. Aber seine Blicke waren beredt... »Wenn ich dich an einer dunklen Straßenecke erwisch'!« schienen sie zu sagen. Fahnder waren nicht beliebt in der Legion.

Colonel Boulet-Ducarreau sei in seiner Wohnung. Man rate dem Herrn Inspektor Fouché jedoch, lieber morgen früh wiederzukommen...

Studer entfernte sich seufzend. Noch ein Tag! Aber er hatte ja Zeit, Zeit genug. Wenn er nur am 25. Jänner in Gurama war! Heute schrieb man den elften. Er aß in einem hellerleuchteten Restaurant zu Nacht, nicht schlechter als in Paris. Er trank einen süffigen Weißwein, der aber hinterlistig war. Einmal – der Wachtmeister führte gerade die Gabel zum Munde und erschrak dermaßen, daß er sich in die Lippen stach – legte sich eine Hand um seinen Fußknöchel... War er entlarvt? Wollte man ihn ketten? Zitternd hob er das Tischtuch. Ein winziger Araberjunge grinste ihn mit schneeweißen Zahnreihen an – ein Schuhputzer!

Colonel Boulet-Ducarreau ließ sich am besten mit einem Edamerkäse vergleichen, der im Gleichgewicht auf einem riesigen blauen Stoffballon liegt. Der Edamerkäse war der Kopf, der Stoffball der Rumpf ohne die Beine, diese verbarg der Tisch.

»In Straßburg engagiert?« schnaufte er. »Despine? Ja, ja, ich weiß, ich weiß. Hat die Prime touchiert und ist dann desertiert. Wann? Warten Sie. Heut haben wir Samstag, nicht wahr? Am Donnerstag wird die Prime ausbezahlt. 250 Fr. Am Abend war Ihr Despine verschwunden. Wir haben ihn bis jetzt nicht wiedergefunden, suchen Sie ihn selbst. Auf alle Fälle hat er sich nicht in Oran eingeschifft. Vielleicht weiß mein Sekretär Näheres... Vanagass!« rief er quäkend.

Vanagass war Sergeant und hatte O-Beine wie der Direktor des Hotels zum Wilden Mann.

»Gehen Sie mit dem Inspektor Fouché, er ist uns vom Kriegsminister empfohlen und sucht den Despine... Sie haben mir jedoch gesagt, daß Despine desertiert ist?«

»Desertiert! Zu Befehl, mein Colonel!«

»Gewöhnen Sie sich ein für allemal dieses blöde ›zu Befehl‹ ab! Despine ist nicht ›zu Befehl‹ desertiert! Wenn ich frage: ›Ist Despine desertiert?‹ so antworten Sie: ›Ja‹... Zu Befehl! Blödsinn!« Und der Colonel schnaufte erbittert.

»Ab! Abtreten! Beide abtreten! Ich hab' zu tun! Wenn ich wegen jedem Deserteur eine Viertelstunde verlieren sollte, wo käm' ich da hin? Ich bin ein beschäftigter Mann, Inspektor, teilen Sie dies dem Herrn Kriegsminister mit, wenn Sie ihn wieder aufsuchen... Vielleicht kennen Sie ihn gar nicht wieder, den Herrn Kriegsminister!« Studers Rücken wurde kalt. Hatte der Colonel ihn durchschaut? Ach nein! Er hatte nur einen Witz machen wollen, der dicke Boulet-Ducarreau, Kugel-von-der-Ecken konnte man den Namen übersetzen, denn er beendete seinen Satz – »Frankreich wechselt nämlich seine Minister wie ich meine Rasierklingen. Adieu!«

Vanagass schien die Abneigung der Legion gegen Polizeipersonen nicht zu teilen. Es stellte sich heraus, daß er eine Art Kollege war, Polizeidirektor von Kiew unter dem Zaren – wenigstens erzählte er dies, während er mit Studer über den zugigen Kasernenhof ging. Er war von einer Höflichkeit, die entweder auf gute Kinderstube schließen ließ oder den Hochstapler verriet... Studer wurde nicht klug aus dem Mann. Er schien etwas über den gewissen Despine zu wissen, aber nicht mit seiner Weisheit herausrücken zu wollen. Endlich, nach dem vierten Glas Anisette, so nannte sich das Getränk, aber es war eigentlich unverfälschter Absinth, taute Sergeant Vanagass auf.

Despine sei ihm aufgefallen, als er am Mittwoch mit einem Straßburger Détachement eingetroffen sei. – Nicht wahr, wenn man zwölf Jahre im Betrieb gewesen ist, so hat man Gelegenheit gehabt, physiognomische Studien zu betreiben! Despine? Er habe aus der farblosen Masse seiner Kameraden hervorgeleuchtet. Geleuchtet! Jawohl!... Wieso? Ganz einfach: er habe ausgesehen wie das verkörperte schlechte Gewissen. Ein Mann, der sicher etwas Schweres, etwas ganz Schweres ausgefressen hatte. Er, Vanagass, wette unbedingt auf Mord: scheuer Blick, zitternde Hände, Zusammenzucken, wenn ihn jemand ansprach. Eine schwere Nummer! Kein Wunder, daß er desertiert sei. Die Legion liefere ja nicht aus, wenigstens wenn es sich um kleinere Sachen handle... Aber Mord? Das sei etwas anderes. Und es handle sich doch um einen Mord? fragte Vanagass nebenbei, in der Hoffnung, sein Begleiter werde sich verschnappen. Aber Studer war auf der Hut. Dennoch konnte er sich einen kleinen Triumph nicht verkneifen.

»Doppelmord!« sagte er mit tiefer Stimme. Und Sergeant Vanagass, ehemaliger Polizeidirektor von Odessa, wenn's stimmte!, spitzte den Mund und pfiff leise und langgezogen...

»Tschortowajamatj!« fluchte er, und Studer fragte: »Wie bitte?«

»Nichts, nichts.« Sergeant Vanagass ließ es sich nicht nehmen, auch eine Runde zu zahlen, eigentlich nur, um die Hundertfrankennote zu wechseln, die Studer ihm unter dem Tisch zugeschoben hatte. Dann stand er auf, machte zwei Schritte zur Tür, schlug sich demonstrativ mit der flachen Hand auf die Stirn – und kehrte um. Ganz nahe rückte er an Studer heran, gebrauchte die Hand noch, als Schirm vor dem Mund, und flüsterte: »Ich höre viel, Inspektor. Sie hätten keinen Orientierteren finden können als mich. Ist in Paris von dem Verschwinden eines Korporals Collani die Rede gewesen? Collani, ja, er stand mit dem 2. Bataillon in Géryville. Soll Hellseher gewesen sein, der Mann. Und ist im September verschwunden, entführt worden, besser gesagt. Von einem Fremden, im Auto.« Ganz abgehackt sprach Vanagass. Das Thema schien ihn arg zu beschäftigen. »Nun, wir haben das genaue Signalement des Fremden erhalten. Der Wirt des Hotels in Géryville hat es uns gegeben, dann ein Mulatte, bei dem der Collani verkehrt hat. Und der Besitzer einer Garage in Oran hat es bestätigt, das Signalement. Leider sind wir überall zu spät gekommen – das heißt, auch das ist nicht richtig. Das Auto ist in Tunis aufgegeben worden und richtig an den Garagenbesitzer zurückgelangt. Von dem Fremden aber und von dem Korporal Collani – keine Spur. Was ich sagen wollte... noch einen Wermut? Nein? Ohne Kompliment? Patron! Zwei Cinzano!... Was ich sagen wollte... Gesundheit, Inspektor! Ja... Was ich...«

»Sagen wollte!« unterbrach Studer. »Sagen sie es endlich, glauben Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?« Der Wachtmeister sprach scharf und übertrieb seinen Zorn.

»Zu Befehl!« sagte Sergeant Vanagass, dessen Augen zu einem Schlitz zusammengeschrumpft waren. »Zu Befehl! Daite mne papirossu! Geben Sie mir eine Zigarette!« Der Sekretär des Colonel Boulet-Ducarreau war zweifellos betrunken. Aber nachdem ihm Studer den Tabaksbeutel hingeschoben hatte, drehte sich der Sergeant eilig eine Zigarette. Und dann sprach er in einem Zug:

»Das Signalement des Fremden von Géryville stimmt mit dem Signalement des Despine überein. Gehen Sie nach Géryville, Inspektor! Zu Befehl, ich habe die Ehre, auf Wiedersehen!« und schritt zur Tür hinaus, wie ein Seiltänzer, die Unterarme waagrecht vorgestreckt, die Handflächen nach oben, als trüge er eine unsichtbare Balancierstange...

»Das ist also die Fremdenlegion!« murmelte Studer. Dann aß er zu Mittag, fuhr am Nachmittag nach Oran zurück, übernachtete dort und nahm am nächsten Morgen den Zug, der Oran mit Colom-Béchar verbindet. Bouk-Toub, die Eisenbahnstation, von der aus Géryville am leichtesten zu erreichen ist, liegt an dieser Linie. Ein Auto hätte ein Vermögen gekostet. Autos durften sich nur Privatdetektive in Romanen leisten. Ein Berner Fahnderwachtmeister mußte rechnen...

Das Dorf Bouk-Toub bestand aus genau fünfundzwanzig Häusern, und Studer nahm sich die Mühe, sie zu zählen, als er nach einem Transportmittel fahndete, das ihn nach Géryville bringen sollte. Eine öde Gegend. Es war nicht recht ersichtlich, warum sich fünfundzwanzig Feuer in dieser Mondlandschaft entzündet hatten.

Vor einem Pferd hatte Studer eingefleischtes Mißtrauen, noch mehr vor dem merkwürdigen Sattel, der ihm angeboten wurde: ein Brett vorne, ein Brett hinten, Steigbügel an einem kurzen Riemen, Steigbügel, breit und lang wie seine Finken am grünen Kachelofen in der Wohnung auf dem Kirchenfeld. Das Kirchenfeld war weit, und weit das Café mit dem grünen Billardtisch... Was tat wohl das Hedy? Lachte es? Weinte es?... Und der Notar Münch, sein Partner im Billardspiel?...

Endlich fand Wachtmeister Studer ein Maultier. Aber auch dann brauchte es endlose Verhandlungen, bei denen weder die Polizeimarke noch die Empfehlung des Kriegsministers etwas nützte, bis endlich Inspektor Joseph Fouché das Tier besteigen durfte. Auch ein Sattel wurde aufgetrieben und ein Paar lederne Gamaschen, die so uralt waren, daß sich der Kauf von vier Lederriemen als notwendig erwies; denn die Hüllen, die Studers Waden schützen sollten, waren morsch...

Das Maultier war ein Spaßvogel. Wenn es die Lippen aufstülpte, sah es aus, als habe es soeben einen ausgezeichneten Witz erzählt und warte nur auf das Lachen der andern, um selbst einzustimmen. Seine Lippen waren grau, mit einem talergroßen Fleck und weich wie feinste Seidenmousseline. Studer schenkte dem Tier sogleich sein Vertrauen, und um es günstig zu stimmen, steckte er ihm drei Stück Zucker ins Maul. Der Esel grinste...

»Nach sechzig Kilometern«, sagte der Besitzer, »werden Sie eine Farm erreichen. Sie liegt gerade halbwegs. Dort übernachten Sie. Dann sind Sie am nächsten Abend in Géryville.«

So ließ Studer am nächsten Morgen die fünfundzwanzig Häuser Bouk-Toubs hinter sich. Im Anfang ging es ganz gut. Das Maultier benahm sich gesittet. Es ging seinen klappernden Gang, schnaufte von Zeit zu Zeit, schüttelte den Kopf, als müsse es windige Gedanken verscheuchen. Aber nach vierzig Kilometern war Studer wundgeritten. Er hielt tapfer aus bis zum sechzigsten Kilometer, fand auch die Farm, die in einer kleinen Mulde lag. Abends pflegte er seinen Körper mit Talkpuder und seine Seele mit Rotwein. Der Rotwein war dick und erzeugte Sodbrennen – das Schafsragoût jedoch, das man ihm vorsetzte, brannte genau so auf der Zunge wie das Ragoût im chinesischen Restaurant in Paris... Die Abenddämmerung war flaschengrün, dann kam die Nacht – und fremd war der Himmel: durchsichtig war seine Schwärze und später, viel später erst, blinzelten die Sterne. Studer lag in der Küche auf einem Lager aus Alfagras, Schafe bähten, und das feuchte Weinen eines Lammes klang wie Kinderklage... »Das junge Jakobli läßt den alten Jakob grüßen...« Strickte das Hedy immer noch an den weißen Babyhosen? Vor dem Einschlafen rauchte es wohl eine Zigarette und fragte sich, was wohl der alte Jakob, der alte, spinnende Jakob tat...

Der Trott eines Maulesels kann einschläfernd wirken. Aber wenn es kalt ist und immer kälter wird, je näher man dem Hochplateau kommt, dann verdunstet die Schläfrigkeit wie Tau im Heuet... Und die Gedanken beginnen zu hüpfen – das ist unangenehm, denn es erzeugt einen schwindelerregenden Wirbel... Das Band der Straße ist immer gleichförmig gelb, an den Rändern raschelt das trockene Alfagras, die schwarzen Wolken am Himmel erinnern an Tod und Trauer... Ist es ein Wunder, wenn man der alten Frauen gedenkt in ihren Lehnstühlen, der verstorbenen alten Frauen?... Und weiter reitet man durch den fremden Tag...

Der Pater... Der Hellseherkorporal... Der Geologe... Der Sekretär – Der Pater – der Geologe. Zwei Brüder.

Was hinderte den Koller, den Börsenmakler, der als Despine in die Fremdenlegion eingetreten war, ein Bruder dieser beiden zu sein? Drei Brüder: Pater Matthias, Cleman-Koller, Victor Alois, Koller-Despine, Jakob... Zwei Schwestern: Sophie und Josepha, beide Kartenschlägerinnen... Kartenschlägerinnen.... Halt! Es gab da noch einen Hellseherkorporal namens Collani, der spiritistische Séancen veranstaltete. Aber es gab auch noch einen Börsenmakler, der sich mit dem gleichen Unsinn beschäftigte! Wie hatte der Bäcker in der Rue Daguerre gesagt? Der Bäcker, dessen Haare rot wie Pfälzerrüben waren? »Er beschäftigt sich mit den letzten Dingen!« Herr Koller hatte ein Stellenvermittlungsbureau für Abgeschiedene eröffnet. Sie klopften in den Tischen! Nochmals halt! Nicht spotten! Es blieb immerhin die Tatsache, daß dieser Fall ein Fall mit vielen Geschwistern war: die Brüder Mannesmann, die Brüder Koller, die Schwestern Hornuss. Wo zum Tüüfu sollte man den Hellseherkorporal Collani unterbringen? Ein vierter Bruder Koller? Stimmte das, dann ging die Gleichung auf...

Chabis! Was meinte Dr. Malapelle vom Gerichtsmedizinischen? »Fantasmagoria!« Und wie sagte der Murmann im Amtshaus z'Bärn, und mit ihm alle Kollegen, vom Hauptmann bis herab zum Gemeinen? »Dr Köbu spinnt!«

Und dem Polizeidirektor sollte man ein Paar marokkanische Sennenhunde mitbringen, mit Pedigree, wohlverstanden! Der Herr Direktor würde anders luege, wenn er wüßte, daß sein Wachtmeister Studer plötzlich zum Inspektor Fouché avanciert war. Aber schließlich paßte dies auch zu dem Fall. Die Leute, die darin vorkamen, hießen immer anders als man meinte. Cleman hieß Koller und Koller hieß Despine, wenn er sich nicht den Namen eines Heiligen zulegte und sich Pater Matthias nannte... Was würde der Herr Polizeidirektor für Augen machen, wenn man ihm zwei weibliche oder zwei männliche Sennenhunde mitbrachte?... Auch das würde zu dem Fall passen! Geschwister! Geschwister! Hehehehe...

Es war schwierig zu lachen bei dieser Kälte, es zerriß einem die Lippen, die ohnehin schon gesprungen waren. Nach alter Gewohnheit griff Studer an die Stelle, an die er gewohnt war, die weichen Haare seines Schnurrbartes zu finden... Die Stelle war kahl...

»Ööööööh!« rief Studer und das Maultier stand. Der Wachtmeister stieg ab, es war Mittag, er gedachte etwas zu essen. So setzte er sich auf einen Stein am Wegrand, und während er zähes Schaffleisch verschlang, blickte er um sich.

Ebenen, Ebenen, Ebenen und dann, ganz in der Ferne, Berge, weiße Schneeberge... Sie erinnerten gar nicht an die Schweiz. Dort gab es auch am Fuße der Schneeberge Hotels mit Zentralheizung und warmem Wasser, sogar Skihütten gab es dort, heizbare Skihütten! Hier gab es nichts. Weit und breit kein Haus, kein Baum... Am Ende der Ebenen glänzten die Salzseen, giftig wie Chemikalien in Glasschalen.

Geschwisterpaare... Es gab doch auch Sterne, die paarweise am Himmel standen. Dann war Marie ein Komet. Stimmte auch nicht! Marie war kein Komet. Kometen sind Vaganten in der Sternenwelt. Und Marie war keine Landstörzerin, keine Zigeunerin... Sicher war sie mit dem Koller verheiratet gewesen, mit dem Börsenmakler, der sich in afrikanischen Minenpapieren die Auszehrung geholt hatte...

»Los einisch, Fridu!« wandte sich Studer an das Maultier – er hatte beschlossen, es Friedel zu nennen, Fridu, wie sie daheim sagten »los einisch!« Aber das Maultier wollte nicht lose, es fraß weiter und riß von Zeit zu Zeit an den Zügeln, in deren Schlaufe Studers Handgelenk hing. Da zog der Wachtmeister ein paar Stück Zucker aus der Tasche: »Sä!« sagte er. Das Maultier kam näher, reckte den Hals, blies Studer seinen warmen Atem über die Hände, das war wohltuend, nahm mit viel Anstand den Zucker mit den weichen Lippen, kaute andächtig, rollte sittsam die Augen und stieß dann einen Laut aus, der dem Wachtmeister in des Ausdrucks wahrster Bedeutung durch die Gebeine hindurch bis ins Knochenmark fuhr... Ein Zwitterding war dieser Laut, halb Eselsgeschrei, halb Pferdegewicher – aber das arme Tier konnte nichts dafür... Es sang, wie es konnte... Studer stand auf... Die Glieder schmerzten ihn, er sehnte sich nach seinem Bureau, in dem es nach Bodenöl und Staub roch, in dem der Dampf in den Röhren knackte – in dem es warm war, warm...

»Los einisch, Fridu«, begann Studer von neuem. »Die Marie... Äbe... Nei, nid Gras fresse, das isch ug'sund, i gyb dr denn es Stückli Brot! Sssä! Weischt, d'Marie... Wenn, äbe, wenn... denn seyt d'Marie: Märci, Vetter Jakob! U denn isch alls guett... ja – du bisch en Guete, Fridu! Chumm jetz...«

Noch eine Pfeife, das Béret über die Ohren gezogen, dann aufgesessen. Hinten am Sattel war ein gerollter Schlafsack aufgeschnallt. Darin steckten: ein Pyjama, zwei Hemden, zwei Paar Socken, Toilettenzeug... Man war mit neunundfünfzig Jahren bereit, es den Legionären gleichzutun...

Gott sei Dank setzte der Schneesturm erst ein, als Géryville schon in Sicht war. Das Maultier verstand sein Handwerk, denn der Galopp, in den es überging, war so sanft wie das Fahren auf einer Achterbahn. Dann blieb es vor einem Hause stehen, das offenbar das Hotel von Géryville war; Studer stieg ab, er sah einem verschneiten Weihnachtsmann ähnlich, der sich aus Versehen rasiert hat. Und müde war er! Beim Nachtessen schlief er fast ein, wachte halb auf, nachdem er ein einziges Glas Wein getrunken hatte. Aber dann begann es in seinen Ohren zu brausen. Der Besitzer des Hotels schien an dergleichen Gäste gewöhnt zu sein; denn er führte den schweren Mann in ein Zimmer im oberen Stockwerk, zog ihm den nassen Mantel aus, deckte ihn zu... Am nächsten Morgen, als Studer angekleidet erwachte, fand er, der Besitzer habe sehr menschlich gehandelt. Die Wanzen hatten dem Wachtmeister nur die Hände verstechen können und ganz wenig die Stirne...


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