Die Fieberkurve
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Der Hellseherkorporal nimmt Gestalt an

Es war merkwürdig, aber doch eine Tatsache: alle höheren Offiziere der Fremdenlegion schienen sich einer behäbigen Körperfülle zu erfreuen. Kommandant Borotra, der das 2. Bataillon des 1. Regimentes befehligte und vier goldene Borten rund um sein Képi trug, hatte mit dem Tennis-Champion nur den Namen gemeinsam. Er war ein gemütlicher Fettwanst mit spärlichen, blonden Härchen über der Oberlippe.

»Collani?« fragte er. »Sie suchen nach Collani? Wie kommt es, daß sich ein Polizist aus Lyon für meinen Korporal interessiert? Meinen Hellseherkorporal?«

Studer schnitt ein geheimnisvolles Gesicht, deutete auf die gefälschte Unterschrift des Kriegsministers. Borotra wurde rot. Die Unterschrift besaß magische Eigenschaften... »Gehen Sie zu unserem Arzt«, sagte der dicke Kommandant. »Dr. Cantacuzène wird Ihnen Auskunft geben können. Und dann hoffe ich, werden Sie uns die Freude machen und Ihr Mittagessen bei uns in der Offiziersmesse einnehmen. Wir sind natürlich...« Räuspern »... soweit es in unserer Kraft steht, immer gerne bereit, dem Herrn...«, längeres Räuspern, »... Kriegsminister zu Diensten zu sein, hoffen aber, daß Sie nicht versäumen werden, seiner Exzellenz in Ihrem Rapport...« Räuspern, Räuspern, das nicht aufhören wollte.

»Darüber wollen wir kein Wort verlieren«, sagte Studer trocken und kam sich vor wie ein Marschall des großen Kaisers, der einem Präfekten das Kreuz der Ehrenlegion verspricht. War Joseph Fouché nicht Herzog von Otranto gewesen? Studer konnte auch herzoglich tun. Manchmal ist die Demokratie die beste Schule für aristokratisches Benehmen.

Dr. Cantacuzène sah aus wie ein durchtriebener Feuilleton-Redaktor, dem es schwerfallen würde, seine arische Abstammung glaubhaft zu machen. Er trug einen Zwicker mit dicken Gläsern, der ihm ständig vom Nasensattel rutschte und den er, wie ein Jongleur, bald am Bügel über einem Finger, bald auf dem Handrücken, sogar einmal auf der Stiefelspitze auffing.

»Hysteriker«, sagte Dr. Cantacuzène, der griechischer Abstammung war, was er zuerst betonte. »Ihr Collani war ein typischer Fall männlicher Hysterie. Was nicht ausschließt, daß vielleicht doch okkulte Fähigkeiten in ihm schlummerten. Die Experimente, die ich mit ihm angestellt habe, lassen sich fast alle auf natürliche Art erklären, immerhin...«, er hob im richtigen Moment das linke Knie, um dem Zwicker dort einen Augenblick Ruhe zu gönnen, »... und auf alle Fälle hatte der Mann eine schwer belastete Vergangenheit. Und in dieser Vergangenheit gab es sicher einen Vorfall, der Collani schwer bedrückte. Mit mir hat er nie über dieses Thema gesprochen. Aber er hat sich eine Zeitlang sehr an einen gewissen Pater angeschlossen. Ich, für mein Teil, habe es abgelehnt, mich in Beichtstuhlgeheimnisse zu mischen...« Der Zwicker fiel auf den Teppich.

»Er rauchte Kif«, fuhr der Arzt fort, »und das war ungesund für ihn, denn er war nicht kräftig. Sie wissen, was Kif ist? Haschisch. Cannabis indica... Collani ist, wenigstens spricht vieles dafür, von einem Fremden entführt worden. Ich, für mein Teil, glaube, daß der Mann eine kleine Spritzfahrt unternommen und irgendwo zuviel geraucht hat. Ein kleiner Collaps würde sein Verschwinden erklären...«

Nein, sein Verschwinden ließ sich nicht so erklären, denn am Mittagstisch in der Offiziersmesse verkündete Kommandant Borotra freudig, Collani sei wohlbehalten in Gurama bei der berittenen Kompagnie des 3. Regimentes eingetroffen. Er habe diesen Morgen vom Befehlshaber des dortigen Postens, dem Capitaine Lartigue, Bericht erhalten. Collani behaupte, er wisse nicht, wo er die letzten Monate zugebracht habe und Lartigue glaube ihm dies. Er werde veranlassen, daß ein Arzt den Hellseherkorporal untersuche – und dann werde ihm die Entlassung winken. Auf Pension habe der Mann ohnehin Anspruch.

»Existiert kein Bild von diesem Collani?«

»Ich glaube nicht, Inspektor Fouché«, sagte Borotra. »Aber wir können ein gutes Signalement von ihm geben. Nicht wahr, meine Herren?«

Drei Capitaines, zwei Leutnants und sechs Unterleutnants sagten im Chor:

»Ja, mein Kommandant!«

Und dann ging es zu wie bei einem Gesellschaftsspiel, in dem jeder Mitspieler ein Wort zu sagen hat – reihum.

»Klein.« – »Mager.« – »Brustumfang 65.« – »Graue Haare.« – »Glattrasiert.« – »Abstehende Ohren.« – »Flach.« – »Rand fehlte.« – »Dünne Beine.« – »Haut olivenfarben.« – »Augen blau.«

»Danke«, sagte Studer. »Das genügt. Wenn ich recht verstanden habe, so sind die Ohren abstehend, flach, ohne Rand?... Ja?... Danke nochmals. Und wie groß war Collani?«

Ein kleiner Leutnant hob die Hand, wie in der Schule.

»Mein Leutnant?«

»1 Meter 61...«

Im Winter schien nicht viel los zu sein in Géryville. Die Offiziere blieben bis halb vier Uhr sitzen. Sie ließen Studer nicht gehen. Er wurde als Fremdling gefeiert und mußte mittrinken. Er dankte Gott, daß keiner der Offiziere aus Lyon stammte. Aber schließlich, der Berner Fahnderwachtmeister, der unerlaubterweise den Namen eines französischen Polizeiministers des 1. Kaiserreiches führte, hätte sich vielleicht doch aus der Klemme gezogen...

Endlich konnte Studer sich empfehlen. Er wollte den Mulatten Achmed besuchen, bei dem der Hellseherkorporal nach der Erzählung des Arztes allabendlich Kif geraucht hatte.

Achmed, der Mulatte, war ein Riese, der sich ohne Scheu auf jedem Jahrmarkt für Geld hätte zeigen können. Seine Hautfarbe erinnerte an eine mit aller Sorgfalt zubereitete Jubiläumsschokolade schweizerischen Ursprungs...

Er rauchte aus einer Pfeife, deren roter Tonkopf nur fingerhutgroß war, ein Kraut, dessen Rauch an den Geruch von Asthmazigaretten erinnerte. Er empfing Studer sitzend; wie ein morgenländischer König saß er auf einem Teppich, mit gekreuzten Beinen. Man vergaß das leere ärmliche Gemach und das grelle Licht, das eine Azetylenlampe im Raume verspritzte.

Kein Mißtrauen dem fremden Besucher gegenüber... Eine stille, verhaltene Heiterkeit...

Der Korporal Collani? Ein guter Freund. Sehr still, sehr schweigsam. Hatte sich an niemanden angeschlossen, darum kam er immer am Abend zu ihm, Achmed. Rauchte zwei Pfeifen Kif. »Nein, Inspektor, von diesem Quantum gibt es noch keinen Rausch! Was denken Sie!« Achmed sprach ein gewöhnliches Französisch und Studer hätte den Mann gern gefragt, wo er sich seine Bildung angeeignet habe. »Man schläft gut nach zwei Pfeifen«, erklärte Achmed. »Und der Korporal litt an Schlaflosigkeit. Er seufzte oft – nicht wie einer, den etwas bedrückt, sondern wie ein Mensch, der eine kostbare Perle verloren hat und sie überall sucht... Diesen Sommer war es besonders arg. Einmal hat er geweint, richtig geweint, wie ein kleines Kind, dem seine liebste Glaskugel gestohlen worden ist...«

Ein Mulatte! Ein einfacher Mensch und ein armer dazu! Aber welch Verständnis und wie gut sprach er von den Regungen der Seele!

»Ich hab' ihn zu trösten versucht«, fuhr Achmed fort, »hab' ihn gebeten, sich mir anzuvertrauen... Umsonst. Er wiederholte immer wieder: ›Wenn ich den Brief öffne, diesen Brief da!...‹ und zeigte ihn mir, ›dann überfällt mich die Vergangenheit – und er kommt mich holen!‹ – ›Wer kommt dich holen, Korporal?‹ wollte ich wissen. – ›Der Teufel, Achmed! Der alte Teufel! Ich hab' ihn getötet, den Teufel, aber der Teufel ist unsterblich, nie können wir wissen, wann er wieder aufwacht!...‹ Und so hat er den Brief fortgeschickt, am 20. Juli vorigen Jahres. ›Ich hatte noch eine Kopie dieses Briefes‹, erzählte er mir am nächsten Tage. ›Aber ich weiß nicht, wo diese Kopie ist. Ich habe meine Sachen durchsucht, aber sie ist nirgends zu finden... Es ist auch besser so!‹ Zwei Monate später, am 28. September, ist ein Fremder zu mir gekommen und hat nach dem Korporal Collani gefragt. Er hat gewartet – aber an diesem Abend ist der Korporal spät gekommen. Er hat den Fremden nicht beachtet, sondern nur zu mir gesagt: ›Jetzt weiß ich, wo die Kopie ist. Ich hatte sie in das Futter einer alten Wollweste eingenäht. Ganz deutlich sah ich's gerade.‹ – ›Wo warst du bist jetzt, Korporal?‹ fragte ich. – ›Beim Priester‹, antwortete er. Und dann erblickte er den Fremden...« Achmed schwieg. Er blickte mit seinen braunen Augen, so dunkel waren sie, daß sie fast schwarz wirkten, treuherzig zu Studer auf, der neben der pfeifenden Azetylenlampe an der Wand lehnte...

Es gab also eine Kopie der Fieberkurve!... Wo war diese Kopie zu suchen? Und wenn sie in den Händen der »Widersacher«, um den rätselhaften Leuten, mit denen man es zu tun hatte, einen Namen zu geben, wenn sie also in den Händen der Widersacher war – wo mußte man sie suchen? Und wenn die Widersacher die Kurve hatten, warum hatten sie dann zwei Berner Gangster auf den Wachtmeister gehetzt, um ihm das Dokument zu stehlen?

Plötzlich war es Studer, als schnappe in seinem Kopfe etwas ein – es war ein merkwürdiges Gefühl. Ein Zahnrad dreht sich neben einem anderen, das still steht. Ein Hebel wird umgestellt – die Zähne des rotierenden Rades greifen in die Zähne des ruhenden – nun drehen beide sich... Dieses Einschnappen vollzog sich, weil der Berner Wachtmeister plötzlich die beiden Karten sah, die in Bern sowohl als auch in Basel in der obersten Reihe des ausgelegten Spieles lagen: der Schaufelbauer! der Pique-Bube! Schaufeln – die Unglücksfarbe. Der Schaufelbauer – der Tod. Merkwürdig, dachte Studer, wie unser Gedächtnis manchmal funktioniert: wir speichern Bilder auf und vergessen sie wieder – und plötzlich taucht solch ein vergessenes Bild aus der Versenkung auf, ist entwickelt, kopiert – ganz scharf...

Mit gekreuzten Beinen saß Achmed in seiner Ecke und stieß Rauchwolken aus. Und so vertieft war Wachtmeister Studer in seine Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie er selbst sich zu Boden gleiten ließ, – aber es gelang ihm nicht, kunstgerecht auf seine eigenen Absätze zu hocken. Er streckte die Hand aus – denn er war zu sehr mit seinen Überlegungen beschäftigt, um selbst eine Pfeife zu stopfen – er streckte die Hand aus und dann zog er träumend an einem Mundstück, atmete den Rauch tief in die Lungen ein und stieß ihn wieder von sich. »Noch eine«, murmelte er.

»Bruder«, belehrte ihn Achmed, »du mußt sagen: Amr sbsi – das heißt: füll mir die Pfeife...«

Und gehorsam wiederholte Studer: »Amr sbsi!«

Der Rauch kratzte ein wenig im Schlund, aber im Kopfe begann es farbig auszusehen.

»Amr sbsi...« Achmed lächelte. Er hatte breite Zähne. Weiß war das Licht der Azetylenlampe im gekalkten Zimmer. Aber wenn man durch die Wimpern blinzelte, dann tanzten alle Regenbogenfarben Gavotte.

»Mlech?« fragte Achmed. Studer nickte. Es kam ihm vor, als spreche er ausgezeichnet Arabisch, »Mlech« – das hieß natürlich: »Gut.« Eifrig nickte der Wachtmeister und wiederholte: »Mlech, mlech!«

Einen Augenblick wurde er wieder nüchtern und versuchte sich auf das Datum des heutigen Tages zu besinnen. Er wollte diese Frage auf arabisch stellen, aber da war ihm der heimatliche Dialekt im Wege; doch auch dieser wollte nicht über seine Lippen. Es wurde ein brummendes Gestammel aus der Frage, obwohl Studer überzeugt war, sie sehr klar gestellt zu haben.

Achmeds Gesicht drückte lächelndes Erstaunen aus. Und dann machte Achmed drei Gesten, die Studers westeuropäische Einstellung zur Zeit in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Vorstrecken der flachen Hände, ein Heben der Arme und die Hände fielen zurück auf die Knie, dann hob sich die Rechte mit aufgerecktem Zeigefinger, während die übrigen Finger sich zur Faust schlossen; der aufgereckte Zeigefinger aber legte sich auf den Mund und nachher deutete er gen Himmel...

Und so ausdrucksvoll waren diese Bewegungen, daß Studer sie mühelos übersetzte:

»Mensch! Bruder! Wie willst du die Zeit halten in deinen offenen Händen, verzweifeln mußt du, wenn du an die Ewigkeit denkst... Er aber, der dort oben thront, der Ewig-Schweigende, was kümmert Er sich um die Zeit, Er, dem die Ewigkeit gehört?«

Der Wachtmeister dachte dunkel, nun, da er diese Bewegungen gesehen und verstanden hatte, würde er unfähig sein, jemals wieder seine Tätigkeit an der Berner Fahndungspolizei aufzunehmen. Er sah sich am Morgen aufstehen, sich rasieren... In der Wohnung duftete es nach Kaffee. Schon halb acht. Um acht mußte er im Amtshaus sein, auf seinem Bureau... Aber was ist das? Zwei Hände breiten sich flach aus, ein Zeigefinger reckt sich gen Himmel... Ins Bureau? Wozu? Das Amtshaus, der Dienst, die Segnungen der westlichen Kultur: Betriebsamkeit, Arbeit nach der Uhr, Dienstzeit, der Lohn am Monatsende, wo waren sie geblieben? Wozu dies alles? Um Allahs willen, wozu?... Man versank im Meere der Ewigkeit, man starb. Was nützte alles Tun? Warum nahm man sich so wichtig, reiste mit falschen Pässen, suchte nach verschwundenen Leuten, wollte einen Schatz heben? Nur ein winziger Tropfen war man doch im Nebelschwaden der Menschheit – und verdunstete...

Immer noch saß der Mulatte dem Wachtmeister gegenüber, und sein Gesicht sah aus wie das ewig junge Antlitz eines fremden Gottes...

»Amr sbsi!... Füll mir die Pfeife!«

Die Pfeife, die winzige, fingerhutgroße Tonpfeife wurde gefüllt, und neben dem Wachtmeister stand plötzlich eine Tasse, der edle Wohlgerüche entströmten. Aber Studer war nicht mehr fähig, festzustellen, daß dieser himmlische Trank ganz einfacher Tee war, in dem ein paar Minzenblätter schwammen. Er trank, trank...

Woher kam die Musik? Ein toller Tanz stampfte vor seinen Ohren, und er sah Frauen, die ihre Fußspitzen weit über ihren Kopf schleuderten. Dann roch es nach Rosen, nach vielen gelben Rosen, der Wachtmeister legte sich ins feuchte Moos, rings um ihn breitete ein Garten sich aus – der duftete nach Erde und Gewitterregen. Noch einmal wurde ihm die Pfeife in die Hand gedrückt; nun drehten sich Sterne vor seinen Augen und beschrieben riesige Kreise... Und die Musik? Die Musik, die ertönte?

Sie klang, als werde der Bernermarsch von himmlischen Heerscharen gespielt...

... Später sollte Studer noch oft, etwa beim Billardspielen dem Notar Münch, die Wonnen des Haschischrausches schildern; aber meist gingen ihm nach einiger Zeit die Eigenschaftswörter aus und er endete dann mit dem stärksten Superlativ, der ihm zur Verfügung stand:

»Suber!« sagte er. »Cheibe suber isch es gsy!«...

Achmed, der Mulatte, lächelte. Er breitete zwei Pferdedecken auf dem Boden aus, nahm Studer auf die Arme – die achtundneunzig Kilo des Wachtmeisters störten ihn wenig – bettete ihn sorgfältig auf die warme Unterlage und deckte ihn zu. So schlief denn der Berner Fahnder in einem ärmlichen Raum, weit weg von der Bundeshauptstadt, in einem verlorenen Kaff, das vielleicht gar nicht auf der Karte zu finden war, den schönsten Schlaf seines Lebens, den buntesten auch, der angefüllt war bis zum Rand mit Tönen und Düften...

Aber er mußte dieses Geschenk mit einem Katzenjammer bezahlen, der ihn am Tage seines Rückrittes nach Bouk-Toub viel Dankbarkeit empfinden ließ für das Verständnis seines Maultieres Friedel. Dieses setzte seine winzigen Hufe mit aller gebotenen Vorsicht auf den gefrorenen Boden, so, als wisse es um die schauerliche Migräne, die seinen Reiter plagte... Man mußte es eben bezahlen, wenn einem die Engel »Träm, träm, träm deridi...« vorspielten...

Da redet man so viel von der Wüste, von ihrer Unendlichkeit, von dem Schauer, der von ihr ausgeht... Studer wurde in Colom-Béchar schwer enttäuscht. Viel gelber Sand, jawohl, aber in dem Sand wuchsen merkwürdige Pflanzen: Blechbüchsen, die Sardinen, Thon, Corned-Beef enthalten hatten und mit ihren gezackten Deckeln an unwahrscheinliche Kakteen erinnerten. Der Horizont war verhangen, die Dattelpalmen gemahnten mit ihrer giftiggrünen Farbe an schlecht kolorierte Postkarten – und außerdem war es kalt, ganz unverschämt kalt. Studer fühlte sich betrogen... Natürlich war sein Zimmer ungeheizt, man stellte ihm ein offenes Kohlenbecken hinein, was gegen alle Verordnungen der Sanitätsdirektion verstieß. Denn glühende Kohlen sondern bekanntlich Kohlenoxyd ab und das ist ein giftiges Gas.

Zum Glück erteilte der Platzkommandant von Colom-Béchar dem Herrn Inspektor Fouché die Erlaubnis zur Weiterreise – am nächsten Tag. Richtiger in der übernächsten Nacht. Fünf Saurer-Camions fuhren über Bou-Denib, Gurama nach Midelt. Und dann fragte der Wachtmeister den Platzkommandanten, es war ein Kommandant und genau so dick wie Borotra, in Géryville, ob ein gewisser Korporal Collani sich auf der Durchreise hier gemeldet habe.

»Denken Sie, Inspektor«, sagte der Offizier, »der Korporal hat sich wirklich hier gemeldet. Er hat diese Frechheit besessen. Wenn man bedenkt, daß er sich drei Monate, ohne Urlaub, von der Truppe entfernt hat, wäre es eigentlich meine Pflicht gewesen, den Deserteur einzusperren. Aber der Mann war so krank, er bat mich so dringend, ihn nach Gurama weiterfahren zu lassen, daß ich schließlich einwilligte.«

»War er in Uniform?«

»Ja. Aber nach seiner Abreise hat mir ein Araber erzählt, er habe sich bei ihm umgezogen. Ich wollte die Zivilkleidung sehen, aber die war schon längst weiterverkauft worden...«

»Wie sah der Korporal aus?«

»Klein, kleiner als Sie, Inspektor. Sagen Sie, ist der Mann während seiner Abwesenheit in Europa gewesen? Hat er dort etwas ausgefressen, daß Sie ihn suchen?«

Studer legte den Finger auf die Lippen. Dies war immer die bequemste Antwort.

Und um Mitternacht fuhr er ab. Er klammerte sich an das Bild des Mädchens Marie, es war die einzige Wirklichkeit, an der er sich halten konnte, als er, eingeklemmt zwischen bewaffneten Legionären, über Straßen fuhr, die eigentlich gelbe Lehmflüsse waren... Die Nacht war klar, bis in den grauen Morgen hinein schien der Mond, und dann kam die Sonne und wärmte ein wenig. Der Wachtmeister saß auf einem Weinfaß, seine Beine schliefen abwechselnd ein, er rauchte seine Pfeife und verhielt sich schweigend. Seine Begleiter trugen jene resedagrünen Capottes, die in den amerikanischen Filmen über die Fremdenlegion nicht malerisch genug wirken würden und daher durch Phantasieuniformen ersetzt werden. Die Gewehre seiner Begleiter waren rostig, und es fragte sich, ob man überhaupt mit ihnen schießen konnte. Richtiggehende französische Unordnung!... Wachtmeister Studer dachte an die ferne Rekrutenschule und war froh, daß er sich ärgern konnte; es verdrängte ein wenig das Bild des Mulatten Achmed, der mit ein paar simplen Bewegungen die Sinnlosigkeit jeglichen Tuns demonstriert hatte.

Es kamen kahle Berge zu beiden Seiten der breiten Ebene, es kamen Dörfer inmitten von Olivenwäldern und Hühnerskelette scharrten im Mist. Kleine Kinder mit glattrasierten Köpfen bohrten in der Nase, die Mütter standen daneben und sagten nicht: »Pfui!« Es zogen kleine Esel vorbei, die ihre Haut auf den bloßen Knochen trugen und die Weiber, die sie antrieben, waren nicht verschleiert. Darum sah man die blauen Punkte auf den Stirnen, die kreuzförmig angeordnet waren.

Und dann kam Gurama...


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