Die Fieberkurve
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Capitaine Lartigue

Der Posten war viereckig; eine Mauer umgab ihn und drei Reihen Stacheldraht. An der einen Ecke ragte das Rohr einer 7,5-cm-Kanone über die Mauer. Den Eingang ließ der Stacheldraht frei. Und am Torpfeiler lehnte ein Mann in verknitterter Khakiuniform, auf seinem runden Kopf saß schief eine verwaschene Polizeimütze, seine Hosen waren zu kurz und ließen über offenen Sandalen graue Wollsocken sehen.

»Ist Capitaine Lartigue zu sprechen?« fragte Studer, während die Camions, schon weit entfernt, Salven abschossen und Staub aufwirbelten.

Der Mann rührte sich nicht, er hob nur den Blick vom Boden, starrte den Fragenden an und musterte ihn dann eingehend. Er fragte: »Wozu?« und schnalzte mit der Zunge. Eine Gazelle kam hinter der Mauer hervor, lugte zuerst schüchtern, tänzelte näher und rieb ihre Schnauze an der Hüfte des Mannes in Khaki.

Studer räusperte sich. Der Empfang mißfiel ihm – keine Disziplin! – und der Mann ging ihm auf die Nerven. Vierzehn Stunden Fahrt auf einem Lastcamion wirken nicht wie Brom. Der Wachtmeister zeigte seine französische Polizeimarke: »Police!« sagte er barsch. Der Mann in Khaki zuckte mit den Achseln und kraulte den Kopf der Gazelle. Studer holte seinen Paß hervor, wies auf die Empfehlung des Kriegsministeriums – der Mann verzog die Lippen zu einem unverschämten Grinsen.

»Führen Sie mich zum Capitaine!« schnauzte Studer.

»Und wenn ich selber der Capitaine bin?«

»Dann sind Sie verdammt unhöflich!«

»Wollen Sie mich Höflichkeit lehren?«

»Ich glaube, das würde nichts schaden! Sie sind ein Flegel, mein Herr!«

»Und Sie ein Spion!«

»Wiederholen Sie das!«

»Sie sind ein Spion!«

»Und Sie ein Schwachsinniger!«

»Hören Sie, das ist ein Wort, das man nur gebrauchen darf, wenn man boxen kann. Können Sie boxen, Sie Fettwanst?«

Das traf den Wachtmeister an der empfindlichsten Stelle. Sein dunkler Überzieher flog durch die Luft, daß er am Stacheldraht hängen blieb, kümmerte ihn wenig, die Kutte nahm den gleichen Weg. Und dann tat Wachtmeister Studer – alias Inspektor Fouché – etwas, was er seit den Knabentagen nicht mehr getan hatte. Er begann seine Hemdärmel aufzukrempeln.

Und nahm Kampfstellung an.

Er war untrainiert, das wußte er. Aber er hatte schon andere Leute gebodigt als solch einen kleinen französischen Offizier, der nicht einmal die Abzeichen seines Grades trug.

Plötzlich lachte der Mann; es war ein angenehmes Lachen.

»Verzeihen Sie, Inspektor. Ich bin heute schlechter Laune. Sie haben mir Ihren Paß gezeigt. Inspektor Fouché, nicht wahr? Von der Sûreté in Lyon? Ich bin selbst aus Lyon. Ich erinnere mich gut an Ihren Namen, er wurde zu meiner Zeit oft genannt. Aber man hat Sie doch tot gesagt? Sind Sie nicht in einer Rafle erschossen worden? Scheint nicht, da Sie heut vor mir stehen. Vorwärts, vorwärts, ziehen Sie Ihren Rock wieder an, den Mantel auch. Sonst erwischen Sie eine Lungenentzündung. Und ich habe schon genug Kranke im Posten. Kommen Sie lieber etwas trinken.«

Eine richtige schottische Dusche! Eiskalt war es Studer geworden, als der Mann erklärt hatte, er stamme aus Lyon. Und siedendheiß, gleich darauf, als er zu einem Trunke eingeladen worden war. Aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte:

»Soso? Aus Lyon? Man hatte mir gesagt, Sie stammten aus dem Jura und seien ein Lands – hmhm... ein halber Schweizer... Aus Lyon, soso?«

»Teils – teils«, sagte Capitaine Lartigue. »Meine Eltern stammten aus St. Immer, aber mein Vater hat in Lyon eine Uhrenfabrik gegründet. Doch ich war manchmal in der Schweiz. Und jetzt bin ich hier... Aber Sie werden hungrig sein. Kommen Sie mit!«

Höfe, die von Baracken umsäumt waren... Wellblechdächer, die so glatt waren, daß sie die Sonnenstrahlen zurückwarfen, wie riesige Spiegel. Männer in blauen Leinenanzügen schlichen herum, führten lässig eine Hand an die Stirn – man wußte nicht, war es ein militärischer Gruß oder ein freundschaftliches Winken.

Einer dieser Männer trat dem Capitaine in den Weg und sagte, ohne Achtungstellung anzunehmen: »Ich hab' nämlich Fieber!«

Studers Begleiter blieb stehen, ergriff das Handgelenk des Mannes, ließ es nach einer Weile los, dachte nach und klopfte dann dem Wartenden auf die Schulter:

»Leg dich nieder, mein Kleiner, ich schick' dir dann die Schwester...«

Dem Wachtmeister Studer gab das Wort »Schwester« einen Ruck. Sollte... sollte... Aber er vertrieb den Gedanken mit jener Bewegung, die ihm eigen war: seine Hand verscheuchte unsichtbare Mücken von seinem Gesicht.

Capitaine Lartigue ging weiter. Studer starrte ihn von der Seite an; was war das für ein Mann? Seine Stimme konnte sanft sein, wie die einer Mutter.

»Wir haben viel Sumpffieber im Posten«, sagte der Capitaine traurig. »Die Gegend ist ungesund. Manchmal liegt die halbe Kompagnie auf dem Rücken... Es ist nicht die gewöhnliche Form der Malaria... Chinin wirkt kaum... Es ist ein Elend. Wenn wir nicht eine Pflegerin vom Roten Kreuz hätten, die uns der Resident aus Fez geschickt hat...«

Studer atmete auf. Marie war keine Pflegerin, sie war Stenotypistin. Aber... Es gab ein Aber. Wenn es einem Berner Fahnder gelungen war, die Persönlichkeit eines französischen Polizeiinspektors anzunehmen, warum hätte es Marie nicht gelingen sollen, sich in eine RotKreuz-Schwester zu verwandeln?«

»Ist die Schwester«, fragte Studer, und er konnte es nicht verhindern, daß seine Stimme ein wenig zitterte, »ist die Schwester, die Sie sich verschrieben haben, mein Capitaine, auch tüchtig?«

Ein Blick streifte Studer – und der Blick war ungemütlich.

»Sehr tüchtig«, sagte Capitaine Lartigue trocken. »Aber was führt Sie eigentlich in meinen verlassenen Posten, Herr Inspektor Fouché?«

Der Blick... Die Betonung seines falschen Namens... Nur gut, daß das Béret die Stirn bedeckte, so sah man die Schweißtropfen nicht!...

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte der Berner Wachtmeister.

»Das sind nicht immer die schönsten«, meinte der Capitaine. »Ich ziehe Kurzgeschichten vor.«

Schweigend gingen sie weiter. Mitten im Posten erhob sich ein Gebäude, das aussah wie ein sehr breiter Turm. An seiner Außenmauer klebte eine Hühnerleiter.

»Ich zeige Ihnen den Weg, Herr Inspektor Fouché, Herr Inspektor Jakob Fouché, nicht wahr?«

»Nein, Joseph, Joseph Fouché.«

»Ganz richtig, Joseph. Ein kleiner Irrtum. Ich gehe also voraus, Herr Inspektor Joseph Fouché. So ist der Name richtig, nicht wahr?«

»Ja, ganz richtig.« Schnell, während der Ungemütliche den Rücken zeigte, schnell, schnell das Nastuch. Das Leder innen im Béret war pflätschnaß. Und das Nastuch! Das hatte man davon, wenn man eine fleißige Frau hatte, die selber Monogramme stickte. Ganz deutlich in einer Ecke: J. S. – Jakob Studer... Man konnte eben nicht an alles denken.

Die Stiege hatte kein Geländer und so wurde es ein unangenehmer Aufstieg... Droben traten die beiden in ein sehr hohes und sehr helles Zimmer. Quadratisch. Weißgekalkt... Wie jener Wohnraum im Hause auf dem Spalenberg... Der Eingangstüre gegenüber öffnete sich eine riesige Glastür, die auf eine geländerlose Terrasse ging. Die Glastüre stand offen und Sonnenlicht überschwemmte den Raum. An den Wänden hingen marokkanische Teppiche, rot, schwarz, weiß... Und über diesen Teppichen Gestelle, auf denen Bücher standen...

»Setzen Sie sich, Herr Inspektor Joseph – so ist's doch richtig? – Herr Inspektor Fouché. Ich freue mich, einen Lyoner begrüßen zu dürfen. Wie geht es Locard?«

Nun ist Dr. Locard eine Leuchte der Kriminalistik – und so konnte Studer Bescheid geben. Er hatte Locard vor einem Jahre gesprochen.

»Danke, gut, er ist immer noch der gleiche...« Und begann eine Geschichte, die er von Dr. Locard hatte.

»Sie haben aber gar nicht unsere Aussprache«, sagte Lartigue, ohne aufzusehen. Er schenkte die Gläser voll.

»Ja... ganz richtig...«, stotterte Studer. »Ich war ja auch nur abkommandiert nach Lyon. Ursprünglich stamme ich aus Bellegarde. – Ja...«

»Ah, dann sind Sie auch an der Schweizer Grenze daheim«, stellte der Capitaine fest.

»Jaja, gewiß...« Die Bestätigung kam zu eilig.

»Gut, gut. Und was möchte Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister gerne erfahren? Sie müssen nämlich wissen, daß ich sehr schlechte Noten habe, darum hat man mich auch in diesen Posten versetzt. Aber natürlich, wenn ich mich nützlich erweisen kann...«

»Es handelt sich...«, sagte Studer und stockte. Das Schweigen dauerte lange. Schließlich hatte der Capitaine Mitleid mit seinem Gast. »Sie werden müde sein, Inspektor«, meinte er und ließ den höhnischen Ton fallen. »Wissen Sie, das beste wird sein, Sie legen sich ein wenig hin. Mein Bett steht Ihnen zur Verfügung, bis wir ein anderes für Sie aufgetrieben haben. Ich habe zu tun und will Sie jetzt allein lassen. Schlafen Sie gut.«

...Es gab keinen andern Ausdruck: Man hatte sich in die Nesseln gesetzt. Das Ganze war widerlich. Es war widerlich, unter falschem Namen auftreten zu müssen, man fühlte sich bedrückt, unfrei, auch gehemmt in all seinen Bewegungen. Und es war auch widerlich, diesen Capitaine Lartigue anzuschwindeln. Denn dieser Capitaine war ein feiner Kerl... Studers Menschenkenntnis war nicht aus Büchern erlernt, sie stützte sich nicht auf Körperformen, Schriftbilder, Typenlehren oder Phrenologien. Er hatte sich angewöhnt, die Menschen einfach auf sich wirken zu lassen – und dann verließ er sich auf seinen Instinkt.

Dieser Lartigue! Nur die Art, wie er zu dem Legionär gesprochen hatte: »Mein Kleiner...« hatte er ihn genannt. Und an der Tür des Postens die Aufforderung zum Boxkampf!...

Er hatte einen runden Schädel mit kurzen blonden Haaren, dieser Lartigue, dazu blaue Augen in einem breiten Gesicht. Das Kinn sprang vor.

In der Stille tönte von draußen der langgezogene Ruf eines Horns. Drei tiefe Töne, dann, eine große Terz höher, noch einmal vier lange Töne, und der letzte wurde ausgehalten und verhallte traurig...

Studer erhob sich, trat hinaus auf die Terrasse und einen Augenblick schwindelte ihn, denn er vermißte das Geländer. Aber dann nahm ihn das Schauspiel gefangen, das im großen Hofe aufgeführt wurde.

Die Kompagnie war im Carré angetreten. Ein Mann mit gekräuseltem Bart, der in der Mitte des Vierecks stand, rief ein Kommando, als er den Capitaine um die Ecke einer der Baracken kommen sah. Reglos wie Mauern standen die Fremdenlegionäre. Blaue Leinenanzüge, um die Hüften graue Flanellbinden. Capitaine Lartigue winkte mit der Hand ab, sagte ein paar Worte, die der Wind, der von den roten Bergen im Norden kam, sogleich verwehte. Die Mauern lockerten sich. Da schlüpfte durch einen Zwischenraum die Gazelle, stellte sich neben den Capitaine und ließ sich streicheln. Plötzlich lachte die ganze Kompagnie. Eine schwarze Walze rollte mit rasender Geschwindigkeit heran, Staub wirbelte auf, die Walze kläffte, sprang dann am Capitaine hoch, beschnüffelte die Gazelle und wedelte. Und dann nieste er laut – der schottische Terrier...

Der Capitaine schritt die Reihen entlang und Studer begriff zuerst nicht, was er tat. Sobald er vor einem Mann stand, öffnete dieser den Mund, der Capitaine steckte ihm eine kleine weiße Pille in den Mund – ging zum nächsten...

Ein kurzes Kommando. Die Mauern standen wieder unbeweglich. Ein Wink – sie zerbröckelten.

»Was haben Sie den Leuten in den Mund gesteckt, Capitaine?« fragte Studer, als Lartigue wieder im Turmzimmer erschien. Unter dem Arm hielt der Capitaine den strampelnden Terrier.

»Chinin... Ich füttere meine Leute mit Chinin, täglich zwei Gramm... sie haben alle Ohrensausen, es nützt aber nichts...«

»Chinin«, wiederholte Studer. Und plötzlich schlug er sich klatschend gegen die Stirn.

»Was ist los, Inspektor?«

»Nichts, nichts«, sagte Studer gedankenabwesend. Und er sah die Fieberkurve. Was stand vermerkt am Datum des 20. Juli?

»Sulfate de quinine 2 km.«

Seit wann gab man Chinin kilometerweise? Aber stand diese Bemerkung nicht gerade vor oder gerade nach SSO? Also! Der Schatz lag vergraben in der Nähe einer Korkeiche bei einem roten Felsen, der die Gestalt eines Mannes hatte, 2 Kilometer südsüdöstlich von Gurama...

»Haben Sie einen Kompaß?« fragte Studer und merkte gar nicht, daß er in diesem fremden Zimmer aufgeregt hin und her lief... Als ihm dies zum Bewußtsein kam, sah er auf und begegnete den Augen des Capitaine, deren Ausdruck nicht recht zu deuten war. Spott? Mitleid?...

»Sie wollen einen Kompaß, Inspektor Jakob... pardon: Joseph Fouché?«

Was hatte der Mann nur immer mit seinem Jakob? Wußte er etwas?

»Ja gern«, sagte Studer ein wenig gepreßt.

»Hier. Ich denke, Sie möchten einen Spaziergang machen. Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich. Jeder Mann im Posten kann Ihnen die Kantine zeigen. Dort holen Sie sich etwas zu essen. Und heut abend speisen Sie bei mir. Ich muß jetzt schlafen. Auf Wiedersehen!«

Und Studer war entlassen. Er stieg die Hühnerleiter hinab, trat in die erste Baracke und verlangte eine Grabschaufel. Dann ließ er sich den Weg zum Ksar zeigen.

Die Grabschaufel hatte einen kurzen Stiel, ihr Metallteil steckte in einem Lederfutteral. Das war praktisch.

Der Ksar war das Eingeborenendorf, turmförmig aus Lehmziegeln errichtet und etwa einen Kilometer vom Posten entfernt. Hinter dem Ksar nahm der Wachtmeister die Richtung Südsüdost und marschierte los. Sein Schritt maß ungefähr achtzig Zentimeter. Machte für zwei Kilometer etwa zweitausendfünfhundert Schritte. Aber schon nach tausend Schritten konnte Studer das Zählen aufgeben. Die Korkeiche war deutlich zu sehen und neben ihr ragte ein roter Stein auf, der von ferne einem aufrechtstehenden Mann ähnelte.

Aber der Wachtmeister fand keine Verwendung für die Schaufel. Denn neben dem Felsen gähnte ein Loch – und das Loch war leer.

Schlußfolgerung? Jemand war ihm zuvorgekommen. Diese Schlußfolgerung war dermaßen selbstverständlich, daß man darüber die Achseln zucken konnte. Wer war dieser Jemand? Das war vorderhand gleichgültig. Wichtiger war, daß Capitaine Lartigue augenscheinlich alles wußte. Deutlich genug hatte er es gezeigt mit seinen anzüglichen Betonungen. »Herr Inspektor Jakob... pardon: Joseph Fouché...« Gut! Man hieß Jakob! Was war weiter dabei? Man segelte unter falscher Flagge... Das war nicht mehr so gleichgültig. Aber: die Suppe, die man sich eingebrockt hatte, mußte man auslöffeln. Es war, wollte man den Fall unvoreingenommen betrachten, immerhin eine ganz neue Situation: In der Schweiz konnte man, wohin immer man auch kam, auf Beistand zählen. Man hatte Freunde bei der Polizei und die Behörde als Rückendeckung. Hier?... Hier war man ganz allein, ganz auf sich selbst angewiesen. Von nirgends hatte man Hilfe zu erwarten. Der sympathische Capitaine Lartigue konnte einen beispielsweise ohne weiteres verhaften und unter Bedeckung nach Fez transportieren lassen, wenn er es nicht vorzog, kurzen Prozeß zu machen und einen an die Wand zu stellen... Kam man hingegen vor Kriegsgericht, so winkte Cayenne, das Land, wo der Pfeffer wuchs. Erfreulich war es immerhin, sich die Notizen auszudenken, die in den Schweizer Zeitungen erscheinen würden: »Zu unserem Bedauern erfahren wir, daß ein um das Polizeiwesen des Kantons Bern wohlverdienter Fahnder von der französischen Regierung wegen einer schweren Verfehlung gegen das internationale Recht... Die Schritte, die unser Gesandter in Paris im Auftrag unserer hohen Bundesbehörde unternommen hat, sind leider erfolglos geblieben. Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 2. Februar beschlossen, eine Kommission zu wählen, die die Schritte untersuchen wird, die in dieser betrüblichen Angelegenheit getan werden können. Die Kommission wird sich in den nächsten Wochen konstituieren und vorerst einen Ausschuß wählen, der einen bekannten Kenner des Internationalen Rechtes beauftragen wird, diesen traurigen Fall auf all seine Möglichkeiten hin zu prüfen. Wie wir in letzter Stunde vernehmen, ist die Kommission bereit, eine Subkommission mit den ersten Ermittlungen zu betrauen. Man hofft, daß die leidige Angelegenheit noch im nächsten Jahre eine Erledigung finden wird...«

So ging es – und gegen Kommissionen konnte man nichts unternehmen. Aber vielleicht war eine Kommission gar nicht nötig? Vielleicht war eine Rettung gar nicht ferne?

Ganz hinten am Horizont tauchte ein Punkt auf. Winzig klein war er. Studer zog seinen Feldstecher aus der Tasche. Ein Maultier! Und auf dem Maultier ein weißer Fleck. Vielleicht brachte der weiße Fleck Rettung.

Unter diesen Gedanken war Studer im Posten angelangt. Still lag er da, unter den Sonnenstrahlen, die ihn schief trafen. Der Abend war nahe. Neben dem Wachtposten sah der Wachtmeister zwei dicke Bohlentüren – offenbar die beiden Gefängniszellen. Vielleicht schlief diese Nacht ein Berner Fahnder hinter einer dieser Türen?

Studer gab den Spaten zurück. Dann stieg er wieder die Hühnerleiter hinauf, klopfte. Da keine Antwort erfolgte, trat er ein. Auf einem Diwan, in einer Ecke des Raumes, lag Capitaine Lartigue und schlief. Zwischen der Wand und seinem Körper lagen die Gazelle und der schottische Terrier friedlich nebeneinander. Beide blinzelten den Wachtmeister verschlafen an – der Hund hob einen Augenblick den Kopf und legte ihn dann wieder zurück auf seine gestreckten Vorderpfoten. Studer schlich sich zu einem Lehnsessel, setzte sich, nahm ein aufgeschlagenes Buch, das auf dem Tischchen lag und begann zu lesen. Es waren Verse, französische Verse von traurigem Wohllaut. Und sie paßten zu Studers Stimmung. Wahrscheinlich hatte sie ein Gefangener geschrieben...

Der Himmel überm Dach
ist still und leise.
Ein Baum überm Dach
zieht seine Kreise...

Dem Wachtmeister Studer gingen die Augen über und er schlief ein...

Der gemeinsame Schlaf aber legte um diese vier Geschöpfe ein unsichtbares Band. Als sie nach einigen Stunden erwachten, schienen sie erfreut, beieinander zu sein.

Der Capitaine sagte: »Auch ein Schläfchen getan, Inspektor?« – »Wie wäre es mit einem Wermut, mein Capitaine?« fragte Studer zurück. Die Gazelle und der Hund spielten Fangis im Zimmer, immer rund um den Lehnstuhl des Wachtmeisters; dann blieben die Tiere plötzlich stehen und blickten Studer freundlich an. Die Gazelle hatte feuchte Augen, wie ein verliebtes Frauenzimmer, und der Hund ähnelte einem uralten Neger. Es war sehr gemütlich in dem Turmzimmer.

Und draußen war der Abend kühl und rot wie Himbeereis. Durch die offene Terrassentür wehte ein kleiner Wind. Zwischen Wolken, die aussahen wie Klumpen von Brombeergelee, standen ein paar Sterne, rund und weiß und glänzend wie geschälte Haselnüsse. Ein wenig später kam der Mond, der dieser Zuckerbäckerherrlichkeit ein Ende bereitete. Er kam und war weiß und groß; das Licht, das er über die Baracken und Höfe legte, gemahnte an riesige Leintücher, die von der Bleiche kommen. Ein Horn klagte wieder, es war ein Signal, mit Trillern, Koloraturen – und wie ein großer italienischer Sänger hielt es die vorletzte Note lange aus, so lange, daß man mit Bangen die Rückkehr zum Grundton erwartete... Und kaum war der Grundton verhallt, begann gedämpft ein Lied... Es paßte zum Abend, zu der Ebene und zum klaren Lichte des Mondes. Manchmal hob sich eine hohe Männerstimme ab vom Chore, der im Basse die Begleitung brummte...

»Die Russen singen«, sagte der Capitaine leise. Studer hörte andächtig zu. Dies alles war auf eine noch nie erlebte Art ergreifend, so etwas gab es nicht daheim... Das also war die Legion, die Fremdenlegion: ein Lied vom großen Traum, dem Traum von Pferden, Bergen, Ebenen und Meer...

Immer noch lag Lartigue auf dem Diwan, die Hände im Nacken verschränkt, und atmete die Lieder ein wie einen starken Duft... Plötzlich brach der Gesang ab. Der Capitaine sprang auf.

»Sie suchen nach dem Hellseherkorporal Collani, Inspektor... Nein, leugnen Sie's nicht ab!«... Lartigue ging zur kleinen Tür, die auf die Holzstiege führte, und pfiff. Drunten klapperten Schritte. Der Capitaine gab einen leisen Befehl, dann schloß er die Tür, ging zum offenen Kamin und hielt ein brennendes Zündholz unter das aufgeschichtete Holz. Ein Duft von Thymian breitete sich aus im Raum.

»Soll ich Licht anzünden? Oder genügt Ihnen der Mond?«

Studer nickte. Er konnte nicht sprechen. Der Capitaine schien die Stimmung seines Gastes zu verstehen, denn er füllte schweigend zwei Gläser mit einer wasserklaren Flüssigkeit. Studer trank. Es war verdammt stark, reizte zum Husten, aber gab warm...

»Dattelschnaps«, erklärte der Capitaine. »Der Jude, der mir die Schafherden liefert, hat mich mit drei Flaschen bestochen. Er hat recht daran getan, sonst hätte ich ihn zwei Monate lang Ziegel formen lassen, weil er mich mit seinen Schafen hineinlegen wollte. Sie hatten nur zwölf Kilo Lebendgewicht und das ist zu wenig... Aber das interessiert Sie wohl nicht, Herr Inspektor Jakob... pardon... Joseph Fouché...«

Doch!... Gerade diese Dinge interessierten den Berner Wachtmeister sehr. Was doch solch ein Postenchef alles können mußte! Er mußte Arzt sein, Viehhändler, Veterinär, Stratege, Bürgermeister, Postenchef, Hausvater...

»Wer ist eigentlich Ihr direkter Vorgesetzter, Capitaine?« fragte er. »Wem unterstehen Sie?«

»Ich?« Capitaine Lartigue schmunzelte – und hätte man das Schmunzeln gutmütig genannt, so wäre es eine Übertreibung gewesen. »lch?« wiederholte er. »Ich bin ein kleiner König. Mir hat niemand etwas zu sagen, außer dem Residenten in Fez. Offiziell gehört meine Kompagnie dem dritten Regiment an – aber sie gilt als Bataillon. Und der Oberst des dritten Regimentes ist viel zu weit weg... In Rabat, denken Sie... Vierhundert Kilometer Luftlinie. Ich bin also Bataillonschef, Platzkommandant, und auch das Land, das uns umgibt, ist mir untertan. Sie sehen also, lieber Inspektor – Fouché, ganz richtig – Sie sehen also, lieber Inspektor Joseph Fouché, merkwürdig übrigens, daß Sie wie der Polizeiminister des großen Kaisers heißen, daß mich nichts hindern könnte, kurzen Prozeß mit Ihnen zu machen.«

Das Schmunzeln – gutmütig oder nicht – war von den Lippen des Capitaines verschwunden. Der Mund war schmal, gerade, die Lippen ein wenig bleich.

»Wenn ich den Herrn, der den Namen eines französischen Ministers des Kaiserreichs trägt – mit Recht, wollen wir einmal annehmen, mit vollem Recht – wenn ich diesen Mann ganz einfach an die Wand stellte, niemand würde mich an dieser Säuberungsaktion hindern. Denn Sie werden zugeben, daß das Beiseitebringen eines Spiones sich Säuberungsaktion nennen darf... Um der Form Genüge zu tun, würde ich vielleicht ein kleines Kriegsgericht versammeln, bestehend aus einem Leutnant, zwei Sergeanten und zwei Korporalen. Fünf Mann – und einer mehr: Ich, Auditor und Gerichtspräsident in einer Person. Verteidigen dürften Sie sich selbst. Ich, Auditor und Präsident, würde also sprechen: ›Vor euch steht ein Mann, der in besetztem Gebiet mit einem falschen Passe reist. Ich verdächtige ihn der Spionage. Wir können augenblicklich niemanden entbehren, der ihn mit einer Eskorte nach Fez bringen könnte. Also müssen wir selbst das Urteil fällen. Und wir sind dazu befugt. Da es sich um Spionage handelt und ich die Beweise in öffentlicher Sitzung nicht beibringen darf – die Interessen Frankreichs stehen auf dem Spiel –, gibt es nur eins: den Tod.‹ Was würden Sie darauf antworten, Herr Inspektor Jakob – pardon – Joseph Fouché?«

»Darf ich mir eine Pfeife stopfen?« fragte Studer gelassen; sprach's, zog den Beutel aus der Tasche und begann ruhig den Tabak in den Kopf einzufüllen. Er drückte ihn gewissenhaft mit dem Daumen fest, stand auf, stand da, eine Weile, groß und schwer und breit, und ging mit gewichtigen Schritten zum Kamin, beugte sich nieder, nahm Reisig, an dem ein gelbes Flämmchen klebte, zündete das Kraut an, kehrte an seinen Platz zurück und blies Lartigue Rauchwolken ins Gesicht. »Hätte das Gericht dann meine erste Frage beantwortet, so würde ich fortfahren: ›Meine Herren! Es ist wahr, daß ich mit einem falschen Paß reise – aber ich habe nie Spionage getrieben. Ich bin ein Schweizer Polizist, der beauftragt worden ist, einen zweifachen Mord zu... zu...‹« Studer suchte nach dem passenden Wort, es fiel ihm keins ein, so beendete er seinen Satz mit: »›... enträtseln. Ja.‹«

Er schwieg und fingerte über die Oberlippe nach dem Schnurrbart, dessen Trüllen in schwierigen Unterredungen stets sein Beruhigungsmittel gewesen war, fand ihn nicht und nahm zu einem langanhaltenden Räuspern seine Zuflucht. Dann: »Außerdem – und ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, mon Capitaine – habe ich nicht nur die Interessen meines Staates zu vertreten, sondern auch die Interessen eines jungen Mädchens, dessen Vater hier in der Nähe... Doch ich glaube, dies würde wieder Ihr Gericht nicht interessieren. Und um auf besagtes Gericht zurückzukommen: Erstens würde ich also verlangen, als Vertreter meines Landes behandelt zu werden. Da dies wahrscheinlich nicht geschehen wird, so würde ich mir erlauben, den Notwehrparagraphen zu meinen Gunsten auszulegen. Zwei Browningpistolen enthalten sechzehn Schuß – falls ich noch rechnen kann.«

»Bravo«, sagte Capitaine Lartigue. »Marie hat Sie richtig geschildert.«

»Mar...«, begann Studer, aber da wurde er von einer Frauenstimme unterbrochen:

»Gueten Abig, Vetter Jakob!«

Studer ergriff die Flasche mit dem Dattelschnaps. Er schenkte sein Glas voll, leerte es, stellte es wieder ab.

»Grüeß di, Meitschi!« Seine Stimme war ruhig.


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