Die Fieberkurve
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Kommissär Madelin macht sich unsichtbar

Der Polizeidirektor war ein stiller Mann, der gar nicht nach einem Stubenhocker aussah. Seine Gesichtshaut war braun, weil er sommers und winters auf die Berge stieg. Daneben hatte er eine Hundezucht und war an diesem Morgen guter Laune: eine seiner Hündinnen, Mayfair III, hatte vier Junge geworfen. Studer mußte während einer Viertelstunde andächtig zuhören, was der Direktor über den Unterschied der verschiedenen Pedigrees zu erinnern hatte.

Dann rückte der Wachtmeister mit seinem Hellsehermärli heraus.

In jedem Staatsbetrieb gibt es wenigstens einen Mann, der gewissermaßen das Salz des ganzen Betriebes ist. Von ihm, der als Außenseiter gilt, wird keine allzu regelmäßige Arbeit verlangt; das Alltägliche, mit seinem Stumpfsinn, wird ihm ferngehalten – oder besser, er hält es sich selbst vom Leibe. Dieser Mann findet nur Verwendung – und darin liegt eben sein Wert – wenn etwas Außergewöhnliches zu tun ist. Dann wird er gebraucht, dann ist er unersetzlich. Wenn er in den flauen Zeiten herumlungert oder spazieren geht, drücken seine Vorgesetzten beide Augen zu, denn sie wissen, daß dieser Mann sich eines Tages als unersetzlich erweisen wird: er wird Mittel und Wege finden, eine verworrene Situation aufzudröseln, er wird es verstehen, einen andern Betrieb, der üppig und frech geworden ist, in den Senkel zu stellen, er wird – dieser Außenseiter – eine pressante Angelegenheit in zwei Stunden erledigen, mit der ein braver Bureauhengst in zwei Wochen nicht fertig würde.

Wachtmeister Studer war das Salz der Berner Kantonspolizei. Das war wohl der eine Grund, der den Herrn Polizeidirektor dazu veranlaßte, gegen des Wachtmeisters Reisepläne nichts einzwenden. Der andere war auch nicht schwer zu erraten: Kommissär Gisler von der Stadtpolizei hatte vorgearbeitet. Einen Augenblick schien es Studer, als könne er die Gedanken lesen, die hinter seines Vorgesetzten Stirn träge dahinschlichen. ›Millionen!‹ lautete der eine Gedanke. Der andere: ›Der Studer spinnt ja einewäg. Findet er das Geld, so hab' ich den Ruhm. Findet er es nicht, so pensionieren wir den Mann.‹ Der Dritte: ›Ob der Studer hier faulenzt oder ob er Ferien nimmt und die Basler blamiert, bleibt sich gleich. Aber keinen Rappen Spesen!‹

Und an diesen letzten Gedanken knüpfte Studer an, als er, nach Beendigung seines Exposés, also schloß:

»Hier kann ich nichts mehr ausrichten. Den Pater hätt' ich zur Not zurückhalten können – aber dann hätt' ich ihn einsperren müssen. Und das hab' ich nicht gewollt.« Er wiederholte den Witz vom Vatikan, er wolle keinen Konflikt mit dem Papst. »Die andern kenn' ich nicht. Telephonisch kann ich keine Klarheit bekommen. Ich muß nach Paris – vielleicht weiter. Ich muß den Sekretär Koller finden und den Hellseherkorporal... Ihr wisset, Herr Direktor, daß man dies alles nur an Ort und Stelle aufklären kann. Ich weiß, wo die Millionen liegen – wenn wirklich Millionen vorhanden sind...«

»Einerseits Millionen...«, sagte der hohe Vorgesetzte. Er gebrauchte gerne die Form: »einerseits-andererseits«. Und Studer grinste auf den Stockzähnen, weil er die vergeblichen Bemühungen seines Gegenübers sah, den zweiten Teil des Satzes zu finden. Endlich: »Andererseits die Basler Polizei... Wir wollen es den Baslern zeigen. Wir Berner!« Und er räusperte sich trocken.

»Exakt, Herr Direktor! Die Basler, die einen Tätler schicken, statt eines Fahnders!«

»Also Studer«, sagte der Direktor und stand auf. »Macht es gut. Ihr könnt reisen. Aber auf Eure Verantwortung. Gelingt's, so bekommt Ihr Eure Spesen zurück. Seid Ihr der Lackierte, so müßt Ihr halt den Spaß selber bezahlen... Einverstanden?«

»Einverstanden!« Studer nickte. Der Vorschlag kam nicht unerwartet. Der Wachtmeister hatte in der Nacht berechnet, daß sein Erspartes für die Reise grad langen würde.

»Gut so«, sagte der Direktor und schob Studer sanft zur Tür. »Und wenn Ihr zufällig eine neue Hunderasse entdeckt – vielleicht haben die Kabylen Sennenhunde, – so bringt Ihr mir ein paar Junge mit. Aber mit Pedigree!«

Marokkanische Sennenhunde! dachte Studer. Mit Stammbaum! Aber er widersprach nicht, sondern verabschiedete sich von dem hohen Vorgesetzten, der nach des Wachtmeisters bescheidener Ansicht ebenfalls ein wenig lätz gewickelt war...

Studer hatte beschlossen, diesmal nicht bei Madelin zu wohnen. Er brauchte Ellbogenfreiheit. So stieg er in einem kleinen Hotel ab, das den poetischen Namen »Au Bouquet de Montmartre« führte. Es lag in der Nähe der Station Pigalle.

Dann nahm er die Untergrundbahn, und wie immer, wenn er nach einiger Zeit den Geruch einatmete, der dort unten herrschte, diesen Geruch nach Staub, erhitztem Metall und Desinfektionsmittel, schlug ihm das Herz ein wenig schneller. Paris war stets etwas Abenteuerliches, auch wenn man wußte, daß man nichts von dem unternehmen würde, was gute Bürger unter Abenteuer verstanden.

In der Police Judiciaire begrüßte Kommissär Madelin seinen Kollegen Studer mit »Hallo!« und »Wie geht's?« und »Durchgebrannt?«, schickte den Bureaudiener sogleich in das nahe Café, eine Flasche Vouvray holen – es war halb neun Uhr morgens – und erkundigte sich dann, was denn diese ganze Geschichte samt Telephon und Pariser Reise zu bedeuten habe.

Studer mußte den ganzen Fall erzählen. Er tat dies mit einer so treuherzigen Diplomatie, daß Madelin gar nicht auf den Gedanken kam, sein Freund Studer verheimliche ihm irgend etwas. Der Berner Wachtmeister erzählte vom Pater Matthias, der durchgebrannt sei, von Marie Cleman, von den beiden alten Frauen, die den Gastod gefunden hatten – genau, wie es jener Hellseherkorporal prophezeit habe. Aber Studer verschwieg den Fund der Fieberkurve, verschwieg deren Entzifferung. Vorsicht, dachte er. Vorsicht! Sonst schnappen dir die Franzosen den Schatz vor der Nase weg.

Madelin hörte zu, unterbrach hin und wieder mit Ausrufen wie: »Nicht möglich!« – im Tonfall des Spaßmachers Grock – und: »Was du nicht sagst!« Als Studer dann noch von dem mißglückten Überfall erzählte, dessen Opfer er fast geworden war, nickte Madelin beifällig mit seinem mageren Büßerschädel: »Allerhand, Stüdère! Die ruhige Schweiz! Was du nicht sagst! Vielleicht erhebt sie sich mit der Zeit auf ein internationales Niveau – kriminalistisch meine ich. Ansätze sind vorhanden!«

Sehr gnädig, sehr spaßig, sehr freundschaftlich war der Divisionskommissär Madelin, den etwa ein Dutzend Inspektoren, die unter seiner Fuchtel standen, mit familiärem Respekt den »Patron« nannten. Denn er war eine Macht, der Kommissär Madelin, der lang und hager und grau einer Steinfigur an einem gotischen Domportal ähnelte – einer Steinfigur, die mit Vorliebe Vouvray trank...

»Und was kann ich für dich tun?« fragte er. Studer dachte einen Augenblick nach. Es war ihm allerlei in den Sinn gekommen, aber dieses Allerlei ließ sich nur schwer in genaue Fragen zergliedern. In Bern hatte er noch im Zivilstandsregister nachgesehen, mehr aus Gewissenhaftigkeit als in der Hoffnung, etwas Neues zu finden. Die Eheschließung zwischen Cleman, Alois Victor, und Hornuss, Sophie, war regelrecht vermerkt worden. Der Geologe gab als Heimatgemeinde Frutigen an. Als dann Studer an die Gemeindekanzlei telephonierte, erfuhr er, Cleman habe sich 1905 eingekauft. Er habe belgische Papiere vorgewiesen.

Von einem Bruder meldete Frutigen, sei nichts bekannt...

»Was ich dich fragen wollte«, sagte Studer, »wie stehst du mit dem Kriegsministerium?«

»Hm«, meinte Madelin, während er eine Zigarette rollte – und Studer bewunderte diese Fertigkeit. »Soso lala. Ich hab' ein paar Kameraden dort, die mich auf dem laufenden halten, wenn etwas los ist. Verstehst du? Politische Veränderungen haben wir genug, einmal bläst der Wind von links, dann wieder von rechts, einmal sollte man Marx auswendig lernen und die Royalisten verhaften, dann wieder die Kommunisten mit Gummiknütteln beaufsichtigen und in die Messe gehen. Zwischenhinein kommt der König der Schimpansen und anderer Gorillas nach Paris, man hat Scherereien mit ihm und mit seiner Suite... Man muß gedeckt sein... Verstehst du? Doch, doch. Ich stehe ganz gut mit dem Kriegsministerium!«

»Es handelt sich«, erklärte Studer bedächtig, »um einen uralten Fall. Im Jahre 1915, soviel ich weiß, also während der Sintflut, sind in Fez zwei Deutsche standrechtlich erschossen worden. Die Brüder Mannesmann: Louis und Adolf. Kannst du dir die Akten einmal geben lassen und mir sagen, ob in ihnen auch von einem Geologen Cleman die Rede ist?«

»Aber natürlich! Ich kenn' den Archivar dort gut, der leiht mir die Akten. Um elf Uhr mach' ich einen Sprung ins Ministerium und heute abend, sagen wir um acht Uhr, können wir uns treffen. Bei mir daheim? Das wäre am gescheitesten, dann könnt' ich die Akten gleich mitbringen und du könntest sie durchsehen. Aber jetzt hab' ich zu tun. Leb wohl!«

»He! Wart doch noch ein wenig! Du hast doch die Untersuchung über das Verschwinden eines gewissen Koller, der Börsenmakler war, geführt. Wir haben vorgestern am Telephon über den Fall gesprochen... Hast du etwas Neues erfahren über den Mann?«

»Ja«, sagte Madelin, und sein Gesicht wurde plötzlich ernst. Er schwieg eine Weile. »Du meinst doch den Mann, dessen Verlustanzeige von seiner Sekretärin gemacht worden ist? Sekretärin!« wiederholte Madelin mit einer merkwürdigen Betonung.

Daraufhin wäre zwischen den beiden Freunden fast ein Streit ausgebrochen, denn Wachtmeister Studer war lächerlich empfindlich, wenn es sich um Marie handelte.

»Sie war seine Sekretärin!« sagte er laut und klopfte mit den Fingerknöcheln auf Madelins Schreibtisch. »Wenn ich dir sage, daß sie ein anständiges Mädchen ist! Willst du einen Beweis? Da! Schau!« Und er riß Maries Brief aus der Busentasche. »So schreibt mir das Mädchen! Ich will dir's übersetzen!«

Um Kommissär Madelins Lippen lag ein unverschämtes Lächeln. Aber Studer sah es nicht, denn er war allzusehr mit den weiblichen Schriftzügen beschäftigt. Die Buchstaben tanzten zwar ein wenig vor seinen Augen, aber schließlich standen sie doch still und die Übersetzung ging ohne allzu große Schwierigkeiten zu Ende.

»Gut, gut!« lenkte Madelin ein. »Das Mädchen ist ein Ausbund aller Tugenden... Aber nicht vom Mädchen wollt' ich dir erzählen, sondern von seinem ehemaligen Brotherrn, dem Jacques Koller, der verschwunden ist. Ich glaub', wir haben eine Spur... Heute früh hab' ich ein Telegramm vom Rekrutierungsbureau in Straßburg erhalten.

Der untersuchende Arzt hat zufällig das Signalement gelesen, das wir von dem Verschwundenen verbreitet haben: 1,89 groß, gelbe Hautfarbe, glattrasiert, stumpfblondes Haar... Und der Arzt behauptet, gestern, also am 4. Januar, habe sich auf dem Rekrutierungsbureau ein Mann gemeldet, auf den dieses Signalement paßt. Der Arzt habe sich verpflichtet gefühlt, die Sûreté von diesem Faktum zu benachrichtigen. Der Mann hat als Namen ›Despine‹ angegeben und ist mit einem Transportschein nach Marseille weitergeschickt worden, wo er sich am 5. Januar, also heute, melden wird. Wir können seine Auslieferung nicht verlangen. Die Fremdenlegion liefert nur aus, wenn es sich um Mord oder um eine Summe handelt, die 100 000 Franken übersteigt. Nun hat Godofrey die hinterlassenen Papiere des Koller untersucht, aber keine Fälschungen entdeckt. Der Konkurs war die Folge von Ungeschicklichkeiten und nicht von Unehrlichkeiten... Was sollen wir nun machen, alter Freund? Den Koller laufen lassen?«

Studer hockte da, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände gefaltet. Fremdenlegion! dachte er. Werd' ich also doch noch im Alter die Fremdenlegion sehen! Nach einer Pause sagte er eifrig: »Jaja, laß den Mann nur dort, wo er ist. Ich werde...« Aber er vollendete den Satz nicht. War es eine Vorahnung? Plötzlich kam es ihm vor, als sei es eine Unvorsichtigkeit, dem Divisionskommissär Madelin anzuvertrauen, daß er eine Reise nach Afrika zu unternehmen gedachte. Er stand auf.

»Also, heut' abend bei dir...«, und er schüttelte Madelin die Hand. »Wo hat der Koller hier in Paris gewohnt?«

Madelin schaufelte mit beiden Händen einen Wall von Papieren durcheinander. Endlich stieß er auf einen kleinen Zettel:

»Rue Daguerre 18... Ganz oben am Montparnasse. Du läufst den Boulevard St. Michel hinauf, immer weiter, bis du zum Löwen kommst. Und die Rue Daguerre ist ganz in der Nähe. Leb wohl, Alter. Auf Wiedersehen.«

Am Abend um acht Uhr war Madelins Wohnung dunkel. Studer läutete, läutete... Niemand kam ihm öffnen. Da meinte er, daß er den Kommissär falsch verstanden habe und ging zu den Hallen, in jene kleine Beize, in der er die Bekanntschaft des Paters gemacht hatte. Hinter dem Schanktisch stand immer noch der Beizer mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, und seine Oberarme waren dick wie die Schenkel eines normalen Menschen. Studer wartete, wartete. Um Mitternacht gab er es auf.

In seinem Hotelzimmer versuchte er vergebens einzuschlafen. Die Lampe trug über dem weißen Glasschirm ein violettes Seidenstück von quadratischer Form, an dessen Ecken braune Holzkugeln hingen. Das erinnerte den Wachtmeister an die Küche der Sophie Hornuss in Bern. Er lag im Bett, die Hände im Nacken verschränkt, und starrte ins Licht. Zum erstenmal fiel ihm die zweite Merkwürdigkeit des Falles auf. Die erste war sein unschweizerischer – besser: sein auslandschweizerischer – Aspekt gewesen:

Man kämpfte gegen Schatten! Ein Schatten der Mann, der ihn am Telephon verhöhnte, ein Schatten der Hellseherkorporal, ein Schatten der Geologe Cleman, Alois Victor, der vielleicht – bewiesen war es noch nicht – mit dem Philosophiestudenten Koller aus Freiburg identisch war.

Schatten die beiden alten Frauen, die einen so merkwürdigen Tod gefunden hatten.

Schattenhaft waren auch die Dinge, mit denen man sich beschäftigen mußte: die Millionen, in Gurama vergraben, die ausgelegten Kartenspiele mit dem Schaufelbauer, die Briefe – das gelbe Kuvert sowohl, in welchem Korporal Collani die Fieberkurve geschickt hatte, als auch Maries Brieflein. Schattenhaft der Buick BS 3437 mitsamt dem großen Mann, der ihn bewachte, nachts, vor dem Haus in der Gerechtigkeitsgasse. Vom Lampenschirm des Hotelzimmers glitten Studers Gedanken zu den verbeulten Blechdosen... Zwei Küchen... Und Studer träumte von diesen Küchen.

Es war ein schauerlicher Traum, schwer und mit Angst geladen. Studer war in einer einsamen Oase, aber er wußte: sie war nicht leer. Ein Geschöpf hauste in ihr, weder Mensch noch Tier, das denen, die sich hierher verirrten, ins Genick sprang und sie zu Tode ritt. Der Wachtmeister ging gebückt und ängstlich unter den giftig-grünen Federpalmen. Da saß ihm das Geschöpf schon im Nacken, es hatte dürre Schenkel, die preßten Studers Hals zusammen. Und Studer ächzte. Pater Matthias tauchte auf, er hielt ein Kreuz in der Hand und rief: »Apage, Satanas!« Aber das Geschöpf kümmerte sich keinen Deut um die Beschwörung, es ritt weiter auf Studers Nacken, und der Wachtmeister mußte traben. Er hatte Durst. Pater Matthias war verschwunden, dafür standen plötzlich die verstorbenen alten Frauen da, und die eine hatte eine Warze neben dem linken Nasenflügel, während die Lippen der anderen schmal und zu einem höhnischen Lächeln verzogen waren. Sie tanzten wie Hexen einen grausigen Tanz... Studer fiel zu Boden, es war nicht Erde, auf die er fiel, nein, Fliesen waren es. Und als er aufsah, lag er in der Küche der verstorbenen Sophie. Alles war da: der braune Klubsessel, der Gasherd, der Küchentisch, mit Wachstuch überzogen. Doch im Klubsessel, neben dem Gasherd, saß Marie und schlief. Über die Schlafende beugte sich ein Mann mit gekräuseltem Bart und sagte mit hohler Stimme: »Ich hole sie alle, alle hol' ich sie zu mir.« Der Mann, der nur der Geologe Cleman sein konnte, beschrieb mit seinen dürren Händen Kreise um den Kopf des Mädchens, die blonden Haare sträubten sich. Dann war es nicht mehr Marie – eine Warze wuchs neben ihrem Nasenflügel – die Küche schrumpfte zusammen und war nur noch ein Durchgangskorridor. Die beiden Flammen des Gasréchauds pfiffen eine Walzermelodie, und auf der Etagère tanzten die Büchsen klappernd einen plumpen Tanz: »Mehl«, »Salz«, »Kaffee«. Und Studer dachte im Traum, daß sie vom Tanzen ihr Email verloren hatten... »Cleman Victor Alois«, sagte Studer laut – und immer noch lag er am Boden – »ich verhafte Sie wegen Mordverdachts!« Aber die Küche war leer, wenigstens schien es so. Ein Schatten hüpfte über die Wand. Diesen Schatten verfolgte Studer mit dem Schatten seiner Hand. Da begann der Schatten zu lachen, lauter und lauter, donnernd...

Studer fuhr auf, die Fenster des Hotelzimmers klirrten, eine Bogenlampe warf ihr kaltes Licht auf die Mauer, und auf der Straße rumpelte ein später Autobus vorbei.

Nein, der Herr Kommissär sei leider nicht da, sagte der Bureaudiener am nächsten Morgen. Er habe einer Untersuchung wegen nach Angers reisen müssen.

– Ob er denn nichts für Inspektor Studer hinterlassen habe? – Nein, gar nichts...

Gut, das konnte vorkommen. Ein Polizeikommissär kann nicht immer tun, was er gerne möchte... Aber eine Nachricht hätte Madelin doch hinterlassen können, dachte Studer, als er an der Seine entlang ging und sich von einem verspäteten Morgenwind anblasen ließ. – Das ist nicht schön von Madelin, er weiß doch, daß ich warte!... Nun, man kann in diesem Fall einen kleinen Ausflug nach Montparnasse machen und sich das Haus ansehen, in dem Marie gewohnt hat.

Die Rue Daguerre ist eine kleine Straße, die von der Avenue d'Orléans abzweigt. An der Ecke hat Potin, das bekannte Lebensmittelgeschäft, eine Ablage. In den Schaufenstern liegen Gänse, Kaninchen, Gemüse. Neben dem Laden bietet eine Blumenfrau frierende Mimosen zum Kaufe an. Die Nummer 18 ist ein Hof, in dessen Hintergrund ein einstöckiges Gebäude kauert.

– O ja, der Bäcker, dessen Laden dem Haus Nr. 18 gegenüber lag, erinnerte sich noch gut an das Ehepaar Koller. Kollère, natürlich auf der letzten Silbe betont. Anders taten es ja die Franzosen nicht. »Eine so charmante Frau, immer höflich, immer lustig, nie den Mut verloren! Auch als der Mann plötzlich verschwunden war. Und Monsieur! Ein gebildeter Herr! Sah viel Freunde bei sich! Beschäftigte sich mit Philosophie, wissen Sie! Mit den letzten Dingen!«

»Mit den letzten Dingen?« fragte Studer erstaunt.

Der dicke Bäcker, dessen spärliche Haare in der Farbe an Pfälzerrüben erinnerten, blies die Backen auf. »Jaja, mit den letzten Dingen! Monsieur konnte in die Zukunft schauen, die Toten waren ihm gehorsam.«

»Die Toten?«

»Ja! sie kamen und sprachen und erzählten. Ich war selbst einmal anwesend. Es war passionierend! Man konnte sich mit den Toten unterhalten, sie klopften im Tisch, manchmal sprachen sie auch aus dem Mund des Herrn Kollère. Ja, es gibt merkwürdige Dinge zwischen Himmel und Erde!«

Arme Marie! Mit einem Spiritisten hatte sie also zusammengewohnt! Und das nannte man hier einen Philosophen! Aber die Frau, die das Hofhaus von Nr. 18 betreute, gab tröstlichere Kunde.

Marie nahm an den spiritistischen Séancen, die ihr Gatte – Ihr Gatte! ›Son mari!‹ sagte die Hausmeisterin! – veranstaltete, nie teil. Marie flüchtete sich zu ihr, sagte Madame. Sie sagte immer: »Ich habe solche Angst, Madame!«

Marie und Angst haben? Chabis! Studer ärgerte sich.

Er verließ die mitteilsame Frau und ging mit seinen breiten Schritten durch die laut schwatzende Menge der Fußgänger. Mittag war nahe. Studer fühlte sich allein, einsam, und der Traum der letzten Nacht wirkte dunkel nach. Vielleicht war auch das unangenehme Gefühl, das der Berner Wachtmeister zwischen seinen Schulterblättern und auf dem Nacken spürte, auf diesen Traum zurückzuführen. Einen Augenblick dachte er, jemand verfolge ihn. Als er sich umwandte, sah er nur gewöhnliche Fußgänger, Dienstmädchen, Frauen, Männer, Arbeiter...

Er setzte seinen Weg fort. Auf dem Boulevard St.-Michel war das Gefühl wieder da, der Wachtmeister blieb vor einer Auslage stehen und beobachtete die Straße... Nichts... Doch! Auf dem gegenüberliegenden Trottoir flanierte ein Mann mit einem steifen Hut – und blieb auch vor einer Auslage stehen. Studer ging weiter, er kannte ein chinesisches Restaurant in einer kleinen Seitengasse. Dort aß er zu Mittag, trank viele Tassen eines dünnen, erfrischenden Tees, erlabte sich an den gebackenen Keimen von Solabohnen und an einem Schweinsragoût, das so stark mit Curry gewürzt war, daß es ihm die Zunge verbrannte. Als er aus dem Restaurant trat, stand auf der anderen Seite der Straße der Mann mit dem steifen Hut und blickte ihn fest an. Studer beachtete ihn nicht.

Als der Wachtmeister über die Seine ging, um im Justizpalast noch einmal nach Madelin zu fragen, hatte er wieder das unangenehme Gefühl im Nacken. Er wandte sich um...

Ohne sich weiter zu verstecken, ging zehn Schritte hinter ihm der Mann mit dem steifen Hut. Er grinste unverschämt, als ihn Studers fragender Blick traf.

– Und Kommissär Madelin war noch nicht aus Angers zurückgekehrt –

Studer verbrachte den Abend in der kleinen Beize an den Hallen. Er schrieb seiner Frau eine Ansichtskarte und zehn Minuten lang fühlte er sich nicht mehr allein. Aber dann überfiel ihn das Gefühl der Einsamkeit mit verdoppelter Macht. Es war ihm, als werde er von den Gästen verhöhnt und als lache selbst der Beizer ihn aus.

Doch draußen, vor der Kneipe, deutlich zu sehen durch die hohen Fenster, patrouillierte der Mann auf und ab – der Mann mit dem steifen Hut.

In dieser Nacht versuchte Wachtmeister Studer sich einen Rausch anzutrinken. Man braucht dies von Zeit zu Zeit, wenn man müde, nervös, gereizt und verärgert ist. Aber der Rausch wollte nicht kommen. Er wirkte nur an der Oberfläche, die Ruhe drang nicht in die tieferen Schichten von Studers Gemüt; denn dort herrschte Unordnung und Chaos, dort hockte eine kalte Verzweiflung. Der einsame Wachtmeister hatte den Eindruck, daß mit ihm gespielt wurde – und es war ein grausames Spiel, grausam deshalb, weil er die Regeln nicht kannte.

Am späten Vormittag erwachte er, merkwürdigerweise mit ziemlich klarem Kopf. Und da Kommissär Madelin noch immer nicht zu sprechen war, beschloß Studer, Godofrey aufzusuchen. Als er nach ihm fragte, wurde der Bureaudiener verlegen.

»Ja... vielleicht... ich weiß nicht...« Dann Tuscheln hinter einer Tür. Man schien auf diese Frage nicht vorbereitet zu sein.

»Zimmer 138, unterm Dach.«

»Merci«, sagte Studer, und er dehnte das Wort nicht mehr, wie er es z'Bärn gewohnt war. –

Lange Gänge, Stiegen voll Staub, wieder ein langer Gang; jetzt war man unterm Dach. Es war dunkel, keine Lampe brannte. Im Flackern eines Streichholzes entdeckte Studer endlich die angegebene Nummer..

Godofrey bereitete dem Wachtmeister einen rührenden Empfang. Er trug einen alten Labormantel, der vor sehr langer Zeit einmal weiß gewesen war. Jetzt war er bunt: rot, blau, gelb. Und im Laboratorium stank es – aber dieser Gestank war angenehmer als der Geruch nach Staub und Bodenöl.

– Es sei schön, daß der Herr Inspektor wieder in Paris sei! Der Herr Inspektor Stüdère... »Wie oft hab' ich nach Ihnen gefragt«, sagte Godofrey und flatterte herum wie ein farbiger Vogel. »Aber seit vorgestern ist der ›Patron‹ wütend über Sie, Inspektor.«

Ja, meinte Studer, das habe er gemerkt. Madelin sei plötzlich verschwunden. Was denn los sei?

»Politik!« flüsterte Godofrey eindringlich. Und setzte noch leiser hinzu: Studer sei selbst an allem schuld.

»Ich?« fragte der Wachtmeister. »Warum denn?«

Man habe Studer im Verdacht, für Deutschland zu spionieren... Da lachte der Berner Fahnder, aber es war kein herzliches Lachen. Das war ja eine Posse!

Darum die Verfolgung durch den Mann im steifen Hut! Madelin hatte ihn beobachten lassen, ihn, den Wachtmeister Studer!... Unglaublich!...

Godofrey schlich zur Tür, lauschte, riß sie auf – es war wie im Kino. Godofrey kam zurück, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte; er winkte, wie ein Verschwörer, und Studer näherte sein Ohr dem Munde des kleinen Mannes. Godofrey flüsterte:

»Sie haben sich nach den Brüdern Mannesmann erkundigt. Das genügte... genügte vollkommen... mehr brauchte es nicht. .. – Was er sich eigentlich einbilde, hat man Madelin auf dem Kriegsministerium gefragt. Die Akten des Falles Mannesmann? Nicht daran zu denken!...

Wozu er die Akten brauche? Ja, er, der Divisionskommissär Madelin?... Ah, für einen Freund? Einen Schweizer Polizisten? Von Bern?... Natürlich ein Boche! Das gäbe es nicht! Auf keinen Fall!... – Ja, so haben sie den ›Patron‹ auf dem Kriegsministerium abgefertigt.«

Schweigen. Studer dachte verschwommen, daß er ein Wespennest aufgestört habe... Unangenehm...

Der Kleine plapperte weiter.

»Setzen Sie sich, Inspektor. Sie haben unüberlegt gehandelt. Warum sind Sie nicht zu Godofrey gekommen? Godofrey weiß alles. Godofrey ist ein wandelndes Lexikon. Godofrey kennt alle Kriminalfälle des In- und Auslandes. Vom Fall Landru bis zum Fall Riieedell-Güala« – er meinte den Fall Riedel-Guala – »und Godofrey sollte den Fall Mannesmann nicht kennen? Inspektor! Warum haben Sie den ›Patron‹ mit dieser Sache belästigt?«

Studer zündete eine Brissago an – und sie schmeckte ihm. Das gescheiteste war wohl, man schwieg und ließ den kleinen Mann ruhig erzählen.

Godofrey fuhr fort: Er hatte vor einem Jahr wegen eines Spionagefalles im Kriegsministerium gearbeitet. Und da seien ihm durch Zufall die Akten Mannesmann in die Hände gefallen. »Der Name fiel mir auf; denn in meinem Berufe habe ich mit Mannesmannröhren zu tun. So nennt man die Behälter, – Sie werden dies wohl wissen – in denen man Gase unter hohem Druck aufbewahren kann. Ich habe mich damals gefragt, ob es sich um Verwandte dieses Mannesmann handelt und in den Akten geblättert. Ja, zuerst nur geblättert und dann aufmerksam gelesen... Zwei Brüder, angeblich Schweizer.«

»Das weiß ich alles«, unterbrach Studer. »Sie haben nach Blei, Silber, Kupfer geschürft und sind dann erschossen worden, wegen Hochverrat...«

»Stimmt«, sagte Godofrey. »Was Sie aber nicht wissen, ist folgendes: Die beiden wollten Land kaufen und hatten in ihrem Gepäck stets viel Gold- und Silberstücke, denn die Araber dort unten sind mißtrauisch gegen Banknoten. Dann wurden sie verhaftet, erschossen – man durchsuchte ihr Gepäck. Aber von dem Geld war nichts mehr vorhanden.«

Godofrey machte eine Kunstpause und ließ seine Worte wirken.

»Sie hatten kein Konto auf der Banque Algérienne, da vermutete man, sie hätten das Geld irgendwo versteckt. Ein Offizier vom Zweiten Bureau, Sie kennen das Zweite Bureau, es ist unser Nachrichtenbureau, verkleidete sich als Araber und zog los, um sich an den Geologen Cleman heranzumachen, denn dieser Mann hatte mit den Mannesmann gearbeitet und war auch derjenige, der sie verraten hatte. Lyautey war wütend, denn er brauchte Geld für seine Kolonie. Er fand, man habe das Todesurteil zu schnell vollzogen. Warum kein Verhör? brüllte er. Aber es war zu spät. – Zwei Monate brauchte der Offizier vom Zweiten Bureau, dann fand er den Geologen Cleman. Sie wissen, daß er ein Landsmann von Ihnen war, Inspektor? Ja?... Gut. Der Offizier machte sich an den Cleman heran, aber der blieb stumm. Der Geologe war damals in der Gegend von Gurama beschäftigt, er fahndete nach Erdöl und Kohlen. Außerdem waren dort ein paar Bleiöfen in Betrieb, welche die Gebrüder Mannesmann erbaut hatten. Dem Cleman konnte man nichts anhaben. Er hatte einen Schweizer Paß und daneben noch belgische Papiere. Die Belgier waren unsere Verbündeten. Cleman erklärte, er habe sich in der Schweiz angekauft, um ungestört nach Deutschland fahren zu können. Er behauptete, nur in Deutschland gebe es die Maschinen, die er brauche. Da er die beiden Mannesmann entlarvt hatte, glaubte ihm der Offizier alles. Außerdem war Cleman unter den Berbern jener Gegend sehr beliebt... Der Offizier vom Zweiten Bureau kam unverrichteter Dinge zurück.

Cleman blieb noch ein Jahr in Gurama, fuhr dann in die Schweiz, wurde von Lyautey zurückgerufen und wieder nach Gurama geschickt. Er hatte es verstanden, sich beim General beliebt zu machen. Als er krank wurde, ließ ihn Lyautey mit einem Flugzeug nach Fez schaffen. Cleman starb dort, während einer Blatternepidemie, an einem Sumpffieber. Der Sekretär des Cleman, ein gewisser Jacques Koller, siedelte sich in Paris an und gab sich mit Maklergeschäften ab. Als Hilfe – als Sekretärin, wenn Sie wollen – verschrieb er sich die Tochter seines Brotgebers, des verstorbenen Geologen Cleman.

Und nun? Nun scheint die Geschichte, die jahrelang in den Kartons des Kriegsministeriums geschlafen hat, plötzlich wieder aktuell zu werden. Koller, der Sekretär, verschwindet. Clemans zweite Frau findet in Basel einen merkwürdigen Tod. Sie haben dies Madelin erzählt, und er hat es mir wiederholt. Und dann erscheinen Sie, Inspektor, auf einmal in Paris und wollen die Akten Mannesmann sehen... Genügt das nicht, um Mißtrauen zu erwecken? Können Sie es der französischen Regierung verdenken, wenn sie der Meinung ist, Sie, Inspektor, seien gekommen, um den verschwundenen Schatz der Brüder Mannesmann zu suchen? Es waren immerhin 200 000 Franken in Vorkriegswährung... Alles in Silber- und Goldstücken! Vielleicht hat der Cleman das Geld vergraben? Nun meint man natürlich, daß Sie sich als Schatzgräber betätigen wollen und das will man vereiteln. Hat man nicht recht?«

Studer hielt den Kopf gesenkt. Er saß auf einem Tisch, zwischen Eprouvetten, Reagenzgläsern, Bunsenbrennern und Glasflaschen. Von einem Dachfenster sickerte spärliches Licht auf seinen Rücken. Godofrey ging auf und ab, mit kleinen steifen Schritten, und als er jetzt anhielt und, die Hände auf dem Rücken, Studer anglotzte, sah er aus wie der Vogel der Weisheit...

»Meine Frau läßt Ihnen herzlich für die Gansleber danken«, sagte Studer, scheinbar zusammenhanglos. Das schien den Kleinen zu freuen, denn er spitzte den Mund und pfiff – ganz leise. Mit steifem Eulenschritt trat er näher, beugte sich zu Studers Ohr und flüsterte:

»Legen Sie Madame meine Verehrung zu Füßen«, er grinste, »aber ich, Godofrey, werde Ihnen helfen. Wir beide werden dem ›Patron‹ einen Streich spielen und ich weiß, daß er ihn nicht übel nehmen wird. Denn eigentlich ist er gar nicht böse auf Sie, sondern er flucht über das Kriegsministerium. Sie müssen verschwinden, Inspektor, denn wenn Sie nach Marokko fahren, wird man Sie unter irgendeinem Vorwand in Marseille verhaften und als unerwünschten Ausländer ausweisen. Das kann lange dauern, die Ausweisung nämlich, und während des Wartens können Sie gut und gerne verfaulen – in einem feuchten Verlies... Nein, wir machen das anders. Es wird Ihnen doch möglich sein, Ihren Schatten abzuschütteln?«

Godofrey blickte den Wachtmeister treuherzig an und verstand gar nicht, warum sein Freund bei dem Worte »Schatten« zusammengezuckt war. Die Schatten! Der Fall mit den Schatten!... Unwillig schüttelte Studer den Kopf. Godofrey fuhr fort:

»Der Brigadier Beugnot, der angewiesen ist, Ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen, ist nicht der Gescheiteste...«, und schwieg dann, während er seine Wanderung wieder aufnahm.

Ganz zusammengekrümmt saß Studer da und betrachtete mit Interesse seine baumelnden Füße. Konnte man diesem Godofrey, den man nicht weiter kannte, wirklich Vertrauen schenken? Vielleicht... Man war schließlich nicht vergebens neunundfünfzig Jahre alt geworden, man hatte ein wenig Menschenkenntnis erworben. Der Typus, zu dem Godofrey gehörte, war einem nicht fremd. Sicher war das Männlein Kriminologe geworden, um der Langeweile zu entgehen. Godofrey brauchte Betrieb. Er gehörte zu jenen Leuten, die am liebsten beten würden: »Unser täglich Problem gib uns heute...« Man fand diesen Typus nicht nur unter Polizeiorganen, auch unter Philosophen, Psychologen, Ärzten, Juristen war er vertreten... Kein unsympathischer Typus! Ein wenig ermüdend vielleicht, wenn man ständig mit ihm zu tun hatte. Studer beschloß: Man kann es probieren. Seine Stimme war sanft, streichelnd, als er sagte:

»Und wie wollen Sie mir helfen, mein lieber Godofrey?«

Wahrhaftig, dem Männlein traten Tränlein in die Augen.

Sicher ist der arme Kerl ganz allein, dachte Studer, und niemand ist freundlich zu ihm, sein ›Patron‹ singt ihn nur an oder kommandiert.

»Ich habe hier«, sagte Godofrey mit einer komisch zitternden Stimme, »den Paß eines Freundes. Er sah Ihnen ähnlich, Monsieur Stüdère. Er hat mit mir in Lyon gearbeitet, aber vor einem Jahr ist er bei einer Rafle erschossen worden. Er war Inspektor an der dortigen Sicherheitspolizei. Ich gebe Ihnen seinen Paß. Nur den Schnurrbart müssen Sie sich abrasieren lassen. Dann kaufen Sie sich einen dunklen Mantel mit Sammetkragen, auch einen steifen Kragen müssen Sie anlegen und nicht vergessen, daß Sie von nun an wie der Polizeiminister des Kaisers heißen...«

»Des Kaisers?«

»Sicher meinte ich nicht Wilhelm II.«, sagte Godofrey tadelnd. »Es gibt nur einen Kaiser, den kleinen Korporal, Napoleon I.! Sein Minister hieß... – Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß Ihnen der Name dieses genialen Menschen unbekannt ist?«

Nun hatte Studer im Gymnasium gerade immer in den Geschichtsstunden geschlafen. Er zuckte darum mit den Achseln und blickte Godofrey fragend an.

»Seine Exzellenz Joseph Fouché von Nantes, Herzog von Otranto...«

»Was? Herzog bin ich auch?« meinte Studer entsetzt.

»Sie wollen den armen Godofrey lächerlich machen, Inspektor! Sie heißen von nun an: Joseph Fouché, Inspecteur de la Sûreté. Wir werden übrigens den Paß noch vervollständigen...«, sagte Godofrey, ging zu einem Wandschrank, entnahm ihm ein Büchelchen, das ziemlich verschmiert aussah und begann, in der babylonischen Unordnung seines Schreibtisches nach einem bestimmten Objekt zu fahnden. Er fand es endlich und es war ein Fläschlein grüner Tinte. Mit dieser Tinte malte er heilige bureaukratische Zeichen auf das vorletzte Blatt des Büchleins. Dann holte er aus dem gleichen Wandschrank einen glattpolierten Stein, fettete ihn ein, drückte ihn auf ein bereitgehaltenes Dokument, zog den Stein vorsichtig ab und preßte den so gewonnenen Stempel ebenfalls auf die vorletzte Seite des Passes. Hierauf trat wieder die grüne Tinte in Aktion, Godofreys Hand mitsamt der Feder beschrieb elegante Kreise in der Luft, bevor sie, einem Habicht gleich, der ein Hühnlein erblickt hat, herab aufs Papier schoß. Dann schwenkte der kleine Mann den präparierten Paß in der Luft, blies auf die noch feuchte Tinte und endlich... endlich... hielt er dem Wachtmeister den Beweis seiner Fertigkeit vor die Nase:

»Reist in besonderem Auftrag des Kriegsministers«, stand da. Die Unterschrift war unleserlich, wie es sich gehörte, und ein Stempel krönte das Kunstwerk.

»Großartig! Wunderbar!« sagte Studer.

»Wenn wir Kriminalisten nicht einmal fälschen könnten«, sage Godofrey bescheiden, »dann wäre es besser, man bände uns ein Aktenfaszikel um den Hals. Aber es ist ja für eine gute Sache, Herr Inspektor Fouché!«

»Ich danke Ihnen, Godofrey! Mehr kann ich nicht sagen. Aber wenn Sie einmal Hilfe brauchen sollten – Sie wissen, wo ich daheim bin.«

»Gut, gut, Inspektor; das ist alles nicht der Rede wert«, sagte der Kleine. »Man hilft sich, nicht wahr...«

Studer nahm das offen dargereichte Büchlein, blätterte darin und fand ganz vorne eine Paßphotographie. Der Mann, den dieses Bild darstellte, war breitschultrig, es war ein Brustbild, sein Gesicht mager, und eine spitze, schmale Nase sprang daraus hervor. Der Mund? Studer hatte seineu eigenen Mund nie mehr gesehen, seit er einen Schnauz trug.

»Und Sie glauben, daß mir der Mann gleicht?« fragte Studer.

»Wie ein Zwillingsbruder!... Nur müssen Sie sich den Schnurrbart abrasieren, einen steifen Hut aufsetzen – dann können Sie beruhigt reisen.« Studer wollte den Paß in seiner Busentasche versorgen, da – wie schon einmal – machte sich die Fieberkurve durch Rascheln bemerkbar.

»Hier Godofrey«, Studer hielt dem Kleinen das Dokument hin. »Können Sie das entziffern?«

Godofrey stürzte sich auf das Blatt, schob die Hornbrille in die Stirn, und da kamen zum Vorschein ein Paar wässrige, blinzelnde Äuglein. Ihnen näherte er das Blatt etwa auf Handbreite, drehte es hin und her und hielt es endlich so, daß die Achse der Fieberkurve senkrecht stand. Ausrufe platzten über seine Lippen:

»Kindisch... Kindisch einfach!... Stümperarbeit!... Freimaurerschrift... Das kann man vom Blatt lesen...«

Er flatterte zum Tisch, setzte sich und begann:

»EMOQHZ...«

»Genug, Godofrey, genug!« rief Studer, der ängstlich wurde. Man konnte sicherlich Vertrauen zu dem Zwerge haben, aber immerhin... er war Franzose...

Godofrey jedoch ließ sich nicht stören, sondern diktierte sich die Buchstabenreihe laut in die Feder. Dann machte er eine Pause.

»Umgekehrtes Alphabet«, sagte er langsam. »Wahrscheinlich Deutsch. Ich will nicht in Ihre kleinen Geheimnisse eindringen. Aber haben Sie es selbst entziffern können?«

»Nein«, sagte Studer und wurde verlegen. »Meine Frau hat die Lösung gefunden.«

»Ah, Madame Stüdère... Wundert mich nicht. Ein Mann wie Sie, Inspektor, hat überall Glück. Unverdientes Glück. Ein Mann wie Sie muß unbedingt auch eine kluge, eine gescheite Frau haben. Das geht klar hervor aus Ihrem ganzen Aussehen. Madame Stüdère...«, wiederholte Godofrey. »Wird es mir einmal vergönnt sein, ihr meine Bewunderung zu Füßen zu legen?«

»Ich glaube«, sagte Studer trocken, »daß meine Frau eine Gansleberpastete mehr schätzt als Bewunderung.«

»Sie sind ein Materialist, Inspektor Fouché.« Das Männlein ging auf den Spaß ein. »Aber ich werde mich an die Pastete erinnern. Und nun – viel Glück. Seien Sie vorsichtig. Hier haben Sie noch eine Erkennungsmarke der französischen Polizei...«


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