Adolf Glaßbrenner
Bilder und Träume aus Wien
Adolf Glaßbrenner

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Zweiter Traum.

Es war Nacht, finstere Nacht. Der Himmel hatte seine milden Augen zugedrückt und hing schweigend und schwermutsvoll wie ein Leichentuch über der Erde. Tränen fielen aus seinen Wolken herab und beweinten die unglücklichen Menschen. Die unglücklichen Menschen aber waren zur Ruhe gebracht; nur einige wenige lagen vor einem weiten Palaste auf den Knien, hoben ihre Hände empor und flehten.

»Mensch!« sprachen sie, »Mensch, den Gott so unendlich hoch gestellt hat, dem er Purpur, Thron und Zepter und Krone gegeben, sieh herab auf deine Brüder und habe Erbarmen!«

»Sie legen ihre treuen Herzen um das deine und bewachen dich; sie preisen dich in tausend Gesängen; sie bauen dir Tempel und Ehrenpforten; sie nehmen die grünen Zweige des Waldes und schmücken die Säulen deines Palastes; sie opfern ihr Hab' und Gut; sie opfern ihre Kinder, um deine Feinde zu vernichten!«

»Habe Erbarmen, Mensch, der du auf goldenem Throne sitzest, und das Zepter führst über Millionen deiner Brüder!«

»Habe Erbarmen, Mensch, und mache sie frei!«

»Wir, die wir in ihrem Namen flehen, sind ihre Dichter und Weisen. Löse unsere Ketten, auf daß wir das Wort Gottes predigen können in unsern grünen Gebirgen, auf daß wir unsere Gedanken nicht ferner verschließen müssen, sondern sie mitteilen dürfen zu Nutz und Frommen unserer Brüder!«

Und eine eherne Gestalt stand vor dem Bette des Fürsten, streckte segnend ihre Hand aus und sprach: »Schenke ihnen Freiheit, mein Sohn!«

Und die Dichter und Weisen flehten weiter: »Löse unsere Ketten, auf daß wir fortschreiten können mit dem Geiste der Welt!«

»Löse unsere Ketten, auf daß wir in unserm Schmerze nicht von andern Völkern verspottet werden! denn wir sind geistig stark wie sie, und Kunst und Wissenschaft wird deinen Thron mehr zieren, als unsere Tränen in Gold gefaßt!«

»Löse unsere Ketten, auf daß nicht ferner mißtrauen darf der Vater dem Sohne, der Sohn dem Vater, der Freund dem Freunde, der Bruder dem Bruder!«

Und die eherne Gestalt vor dem Bette des Fürsten streckte segnend ihre Hand aus und sprach: »Schenke ihnen Freiheit, mein lieber Sohn!«

Und die Dichter und Weisen flehten weiter: »Zerstöre jene dunkeln Höhlen, in denen die Heuchelei wohnt! Jage hinaus die Lehrer der Finsternis, und lasse den Namen unseres Gottes nicht mißbrauchen zu schnöden Zwecken!«

Und eben als die eherne Gestalt vor dem Bette des Fürsten segnend die Hand ausstreckte, rauschten tausend Ketten, und tausend wütende Stimmen riefen durch das Geräusch der Ketten: »Hinweg du neuerungssüchtiger Schwindler!«

Und aus dem ehernen Auge preßte sich eine Träne. – Die Gestalt aber stieg langsam die Stufen hinunter, streckte segnend die Hand aus und stellte sich auf das nahe Postament.

Und die Dichter und Weisen knieten rings um das Postament und priesen den Mann da oben, bis die glühende Sonne über die Gebirge kam, und die Lerchen jubelten, und die Blumen erwachten.


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