Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

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Zwölfter Abschnitt.

Überwundene und unbezwingliche Herzen.

Schlitzwang hatte, wie schon erzählt, durch Gräfin Hedwig erfahren, daß Editha sich der Zumutung einer Ehe mit Wippo von Süpplingenburg durch die Flucht aus dem Vaterhause entzogen. Dieser Schritt hatte selbstverständlich den Zorn des alten Krodo gesteigert, aber solange damals die Unterwerfung der Sachsen dauerte, ließ er die in seinen Augen ungeratene Tochter ungestört auf dem Herrenhofe zu Heinrode und verbiß den Ärger, den ihm das Treiben der Frauen auf der Heinburg bereitete, denn er wußte wohl, daß dieselben der christlichen Lehre nicht abgeneigt waren. In seinen Augen war Herr Heino ein Schwächling und Weiberknecht, dem er gelegentlich einmal seine Meinung sagen wollte.

Als nun die Zeit herannahte, in welcher während der Abwesenheit Karls in Spanien die Franken wieder vertrieben und die Verträge gebrochen werden sollten, ritt eines Tages Herr Krodo mit seiner Schwester Gerrita und einem kleinen Gefolge hinüber nach Heinrode, um seine Tochter zurückzuholen. Jungfrau 173 Gerrita hatte sich bei den Ereignissen der letzten Jahre seltsam genug benommen. In allen Äußerlichkeiten hatte sie die fränkischen Sitten angenommen und in Kleidung, Einrichtung und Gebaren ganz den fränkischen Frauen nachgeahmt; sie zankte täglich mit ihrem Bruder und schalt ihn wegen seiner feindseligen Haltung gegen die Sitten der fränkischen Einwanderer; sie konnte eben nicht begreifen, wie man die Sachen so ernst nehmen und sich darüber alle Lebensfreude verbittern konnte. Daß Editha einen Mann nicht heiraten wollte, der ihr nicht gefiel, fand sie ganz in der Ordnung, aber daß sie mit Jungfrau Witta, gegen welche Gerrita eine unbesiegliche Abneigung hatte, sich in christliche Schwärmerei einließ und über Krankenpflege und Jugendlehre sprach, war ihr völlig unverständlich.

Es war keine angenehme Überraschung, als Herr Krodo plötzlich auf der Heinburg erschien, und nur die Anwesenheit Gerritas verhinderte glücklicherweise einen allzu heftigen Auftritt. Editha hatte keine Wahl, und sie fühlte zum erstenmal in ihrem Leben, was es heißen will, sich widerwillig einem auferlegten Zwange fügen zu müssen. Mit Thränen nahm sie von ihrer Schwester Ilse und den Kindern Abschied. Herr Heino hatte sich sofort bei der Ankunft seines Schwiegervaters auf ein Pferd gesetzt und war in den Wald geritten. Nun trabte Editha schweigend und niedergeschlagen zwischen ihrem Vater und ihrer Muhme durch den Wald nach Krodendorf zu. Was ihr die Zukunft bringen werde, war ihr völlig unklar, aber der eingeborne sächsische Trotz begann sich gegen ihre eignen nächsten Angehörigen zu kehren, und je mehr sie ihrem Vater und Gerrita grollte, um so tiefer verschloß sie ihre Ansichten über die schwebenden Tagesfragen, und dabei kam sie nach und nach immer mehr zu der Überzeugung, daß die christliche Lehre doch manche große Wahrheit enthalte.

Sie empfand nicht die Freude des Wiedersehens, welche sonst ihre Brust erfüllte, wenn sie nach längerer Abwesenheit in die väterliche Burg zurückgekehrt war. Ihr Vater befahl ihr in strengem Tone, sich in die Kemnate zurückzuziehen und gab in ihrer Gegenwart Gerrita den Befehl, die ungeratene Tochter während seiner Abwesenheit genau zu überwachen. Es war nämlich alles zum Aufbruch der wehrhaften Männer bereit, und wenige Tage darauf wollten sich die beiden Krodo mit Wippo und einigen andern Gesinnungsgenossen aufmachen, um mit ihren Mannen zu dem Heere zu stoßen, welches Wittekind zusammenzog.

Editha hatte ihrem Vater kein Wort erwidert. Sie betrachtete sich als Gefangene und verhielt sich demgemäß. Ihre einzige Beschäftigung war das Lesen und sorgfältige Überdenken ihres Evangelienbuchs, welches Schwester Ilse durch einen getreuen Boten ihr nachgesandt hatte. Vergeblich versuchte sie jedoch ihre eignen Empfindungen mit der neuen Lehre in Einklang zu bringen. Wie sollte sie ihren Feinden verzeihen, wenn der eigne Vater sie zwingen wollte, sich gegen ihren Willen einem ungeliebten Manne zu verbinden! Alles lief ja doch 174 darauf hinaus, wie nicht bezweifelt werden konnte. War der Krieg vorüber und der Sieg auf seiten ihres Volkes, so traten Vater und Bruder sicher wieder mit der Forderung an sie heran, Wippo ihre Hand zu reichen. Was sollte sie wünschen, was hoffen? Monatelang lebte sie in steter Aufregung und Besorgnis. Der Aufstand hatte rasch um sich gegriffen und überall waren die Christen verjagt, ihre Niederlassungen durch Feuer zerstört worden. In ihrem Übermute kannten die siegreichen Anführer keine Mäßigung. Sie überschritten die Grenzen des Landes und wüteten bereits mit Feuer und Schwert an den Ufern des Rheins, als mit einem Male die Nachricht von der Rückkehr des Frankenkönigs aus Spanien ihren Zug hemmte und ihren Mut wie mit Zauberkraft lähmte. Auch darin gab sich die Wildheit des Wesens der sächsischen Wehrmänner zu erkennen, daß sie blind ihrem Herzoge vertrauten, solange der gefürchtete Frankenkönig fern war, aber alle Zuversicht verloren, wenn sie Karls Annäherung erfuhren. Ihr unaufhörliches, freudiges Geschrei; »Herzog Wittekind! Herzog Wittekind!« verstummte dann plötzlich, und ein unklares Angstgefühl, wie vor einer unentrinnbaren Gefahr, bemächtigte sich ihrer sonst so unerschrockenen Herzen.

Mit welcher Spannung vernahm Editha die Kunde von dieser plötzlichen Wendung. So tapfer und todesmutig die sächsischen Krieger sich im Kampfe auch bewährten, mußte doch diese ganze hinterlistige Art des Hervorbrechens, wenn der König abwesend war, und des Zurückweichens, sobald er sich näherte, die Achtung vermindern. Das Wesen Gerritas war durchaus nicht geeignet, den Zwiespalt in der Brust des jungen Mädchens zum Ausgleich zu bringen – sie schalt nach allen Seiten hin und schien sowohl den Sachsen wie den Franken das schlimmste Schicksal zu gönnen. Auf diese Weise zog sich Editha immer mehr auf sich selbst zurück, aber auch in ihrem eignen Innern fand sie weder Halt noch Frieden, denn es schien ihr oft, als wolle alles um sie her zusammenbrechen, und sie hatte dabei nicht einmal den Trost, aus dem Ruin irgend welche Keime neuen Lebens als Hoffnung auf eine hellere und glücklichere Zukunft sich entwickeln zu sehen.

Als ihr Vater mit seinen Mannen zurückkehrte, war die Begrüßung eine sehr frostige gewesen. Die sächsischen Edelinge befanden sich diesmal in einem Zustande unaussprechlicher Wut, und dies Gefühl beherrschte auch Edithas Vater derart, daß er für die häuslichen Angelegenheiten gar keinen Sinn hatte. Die Forderung des Königs, daß ihm die Anstifter des Aufstandes ausgeliefert würden, rief eine unbeschreibliche Aufregung unter den Edelingen hervor. Wenn die beiden Krodo mit ihren Freunden darüber berieten, kamen sie jedesmal zu dem Schlusse, daß es die höchste Schmach für das Land und das Ende aller Ordnung sei, wenn auch nur ein einziger Edeling geopfert würde. »Lieber tausend Mann aus dem Volke als einen von uns!« sagte der jüngere Krodo eines Tages zu seinen 175 Genossen. Editha war zufällig zugegen. Sie hatte sich nach dem Mahle im Mushause zu schaffen gemacht, und da die Verhandlungen der Männer sie lebhaft interessierten, saß sie in sich versunken noch am Herde und starrte in die Flamme, als ihr Bruder jene Worte sprach. Beim Anhören derselben durchrieselte sie ein Schauder und sie erhob sich, um sich leise und unbemerkt zu entfernen.

Von diesem Augenblicke an ging in Edithas Wesen eine Wandlung vor sich. Ein inneres Licht erleuchtete sie. Das erbarmungslose Unrecht gegen das niedere Volk wendete ihr das Herz um und erfüllte sie mit Abscheu gegen jene grausamen Anschauungen, in denen sie erzogen worden war. Es handelte sich ja nicht nur um das Leben der Männer, die man opfern wollte, sondern auch um den Schmerz der Hinterbliebenen, so vieler Weiber und Kinder! Sie begriff mit einem Male den Unterschied zwischen der angemaßten Größe, welche sich nicht scheut, tausend Menschenleben für sich zu opfern, und der wahren, inneren Größe, die sich selbst dahin gibt, wenn es Tausende zu retten gilt.

Ihr Abscheu wuchs, als der Plan ausgeführt wurde und das Blut der Opfer geflossen war. In sich gekehrt wie eine Träumende ging sie umher und es währte nicht lange, so hielten ihre Angehörigen sie für gestört im Geiste und ließen sie ruhig ihren Weg gehen. Man zollte den Wahnsinnigen in manchen Fällen sogar eine Art Verehrung, während man sie freilich in andern Fällen wieder mit größter Roheit behandelte, je nachdem der Irrsinn sich durch sanftes Wesen und wirre Reden oder durch lästige und gefährliche Symptome äußerte. Solange Editha also in stillem Hinbrüten verharrte, oft stundenlang an einsamen Orten stand und vor sich hin starrte, oder mitten unter lebhafter Umgebung nichts von dem bemerkte, was um sie vorging, ließ man sie gewähren und schüttelte über ihren unbegreiflichen Zustand den Kopf. Ihr Vater sah darin die Folge ihrer Beschäftigung mit gelehrten Dingen und hielt sie für eine überspannte Närrin, Gerrita glaubte den Grund ihrer geistigen Zerrüttung darin zu finden, daß man sie zur Ehe mit Wippo von Süpplingenburg zwingen wolle; die Leute der Burg dagegen und nach und nach das ganze Volk in der Umgegend betrachteten sie als ein unheimliches Wesen, eine Art Zauberin. Es währte nicht lange, so schlug diese Scheu in ehrfurchtsvolle Verehrung für sie um, die besonders dadurch Nahrung erhielt, daß sie sich seit ihrer Rückkehr von Heinrode immer mild und freundlich gegen die Armen und Gebrechlichen gezeigt und zuweilen sogar selbst mit ihnen über ihre Angelegenheiten und Leiden geredet hatte.

Inzwischen war nun der Frankenkönig wieder auf seine Burg zu Aachen zurückgekehrt und der Winter mit seiner Not und dem Elend, das er stets im Gefolge hatte, verhinderte im Sachsenlande die Beschäftigung mit Kriegsangelegenheiten. In den sächsischen Wäldern war gerade in diesem Winter sehr viel 176 Schnee gefallen; Wölfe, Auerochsen, Bären und wilde Schweine bedrohten überall die Wohnungen der Menschen, und die Männer hatten genug zu thun, die unholden Gäste zu vertreiben. Viele Hunderte von ihnen wurden erlegt und krächzend sammelten sich dann die Scharen der Raben und Krähen, sich an dem vom Felle entblößten Fleische zu laben. Die Feier der Wintersonnenwende ging trübselig vorüber; überall herrschten Groll und Trauer um die enthaupteten Männer. Aber eben diese Trauer wurde von den Edelingen zu ihren Zwecken ausgebeutet. Man schürte die uralte Neigung zur Blutrache und nichts konnte dem gedrückten und geängstigten Volke besser gefallen und reicheren Trost gewähren als das gegenseitige Anfeuern zum Haß und zur Rache gegen die Franken. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich nach und nach der Entschluß, daß mit dem ersten Wehen der Frühlingslüfte ein neuer allgemeiner Aufstand stattfinden werde. Mit jener dumpfen Verblendung, welche ein Volk beherrscht, das für nichts als seine eignen Angelegenheiten lebt, gaben sich nach und nach alle Bewohner der sächsischen Lande dem glühendsten Rachegefühl hin. Kaum hatte die Strenge des Winters etwas nachgelassen, lange bevor das erste Grün zur Frühlingsfeier lockte, so begann die Empörung ungescheut ihr Haupt zu erheben, überall forderten die Edelinge das Volk zum Aufstande auf.

Die Nachbarn und Freunde Krodos hatten zu einem bestimmten Tage das Volk der Umgegend unter die knospende Linde auf dem freien Platze bei Krodendorf zusammenberufen. Die Edelinge suchten den Mut der Versammelten zu entflammen, um sie nicht nur zum Kampfe, sondern auch zur blutigen Rache an den fränkischen Eindringlingen aufzufordern. Die Luft war scharf, aber rein, und die Strahlen der Sonne beleuchteten die bunte Menge, welche sich umher gelagert hatte. Unter der Linde befand sich eine Anzahl von Herren aus der Umgegend, von denen namentlich Wippo von Süpplingenburg sich bemerklich machte. Wie unter dem Volke viele Weiber sich mit eingefunden hatten, so standen auch einige edle Frauen bei der Herrengruppe in der Nähe der Linde und unter ihnen befanden sich Frau Radegunda, Gerrita und Editha. Letztere war mit Widerstreben der Muhme gefolgt, aber diese hatte ihr begreiflich gemacht, daß die Herrentochter nicht fehlen dürfe, und so war sie halb willenlos mitgegangen.

Schon war dieses und jenes gesprochen worden, ohne daß Editha sonderlich darauf geachtet hatte. Das Volk brach von Zeit zu Zeit in wilden Tumult aus, in welchem das Zusammenschlagen der Schilde und Lanzen von seiten der Wehrmänner mit dem Händeklatschen, Rufen und Schreien der Männer und Frauen sich zu jenem entsetzlichen Getöse vereinigte, welches bei den christlichen Franken schon damals als »Heidenlärm« bezeichnet wurde. Nun schlug Wippo mit voller Wucht mehrmals an seinen Schild, um sich Gehör zu verschaffen. In heftiger Rede suchte er das Volk dadurch aufs äußerste zu reizen, daß er von der unmenschlichen Grausamkeit der fremden Dränger redete.

179 »Uns verleumden sie«, sagte er zuletzt, »und dichten uns die abscheulichsten Gebräuche an. Die Wahrzeichen unsrer Gerechtsame halten sie für blutdürstige Götzen und glauben in ihrer Thorheit, daß wir diesen Bildern blutige Menschenopfer bringen. Und was thun sie? Tausende unsrer besten Männer haben sie ihrem Gott geschlachtet, denn daß ihr es nur wißt, der König hatte seinem Gotte dieses Opfer gelobt, wenn er ihm den Sieg verleihen würde, und wenn ihr nun die Herrschaft der Franken duldet, so wird er alljährlich die besten unsrer Männer von uns verlangen, und wir müssen sie ihm ausliefern, damit er sie der Heimat entreißen und fern von Weib und Kind seinem Gott schlachten lassen kann.«

Als Wippo dies gesagt hatte, konnte man bereits aus dem ingrimmigen Murren der Menge und einzelnen Ausrufen erkennen, daß er seinen Zweck erreichen werde. Aber er wurde ganz unerwartet durch einen lauten Aufschrei der Entrüstung aus seiner nächsten Nähe unterbrochen, und zum namenlosen Erstaunen aller Versammelten trat Editha hervor und rief mit lauter, weithin schallender Stimme:

»Glaubt ihm nicht, es ist erlogen!«

Glaubt ihm nicht

Im Gegensatz zu dem wüsten Lärm, der sonst jede auffallende Redewendung begleitete, verbreitete sich nun mit einem Male eine vollkommene Stille umher, und jeder einzelne der Anwesenden blieb wie gelähmt in derselben Stellung, in welcher Edithas Worte sein Ohr getroffen hatten. Der Umstand, daß man sie bereits längere Zeit allgemein für wahnsinnig hielt, verlieh ihrem plötzlichen Auftreten eine geradezu übernatürliche Wirkung. Daß die wunderbare Schönheit ihrer Erscheinung, der Glanz ihres von der Sonne bestrahlten goldblonden Haares und die Macht ihres begeisterten Blickes den Eindruck bedeutend erhöhten, war selbstverständlich.

»Man hintergeht euch«, fuhr sie mit lauter Stimme fort, »und mißbraucht eure Unwissenheit. Nicht dem Gott der Christen, sondern der Selbstsucht eurer Herren ist das Blut jener Tausende zum Opfer gebracht worden, und derselben Selbstsucht sollen neue Opfer fallen. Ihr wißt es nicht, daß der Frankenkönig die Auslieferung der Anstifter des Aufstandes verlangt hat und diese sich mit dem Blute des Volkes die eigne Freiheit und Sicherheit erkauft haben.«

Diese Worte wirkten wie die Lösung von einem Bann. Waren die Versammelten eben noch bewegungslos und wie versteinert, so ergriff nun plötzlich alt und jung, hoch und niedrig eine unbeschreibliche Aufregung. Man sprach und fragte und schrie durcheinander und niemand wußte eigentlich recht, was er gehört hatte und wie er es verstehen sollte.

Unter der Gruppe der Edelinge aber ergriff die furchtbarste Verwirrung Platz. Der alte Krodo hatte seine Tochter am Arme gefaßt und mit solcher Gewalt zur Seite geschleudert, daß sie zu Boden gestürzt war; Edithas Bruder 180 faßte ihr schönes langes Haar, wickelte es um seine Hand und schleifte die kaum mehr ihrer Sinne mächtige Schwester beiseite, um sie so schnell als möglich den Blicken der tobenden Menge zu entziehen. Ohne das Dazwischentreten der Frauen wäre Editha vielleicht von ihrem wutschnaubenden Bruder ermordet worden, aber Gerrita und selbst Radegunda warfen sich zwischen den Rasenden und sein Opfer und schafften die nun wirklich ohnmächtig gewordene Editha mit Hilfe der andern Frauen in die Burg, wo sie sich zwar nach und nach wieder erholte, aber dann sich so bodenlos unglücklich und verlassen fühlte, daß sie nun selbst den Verstand zu verlieren fürchtete.

Draußen war inzwischen mit vieler Mühe die Ruhe wieder hergestellt worden. Unzählige Male hatte der alte Krodo an seinen Schild geschlagen, niemand beachtete das gewohnte Zeichen, und die Herren mußten dem aufgeregten Volke Zeit lassen, bis die Gemüter sich von selbst einigermaßen beruhigt hatten. Mit starker Stimme erinnerte dann der alte Kämpe daran, daß die Zustände Hunderte von Jahren zur gegenseitigen Zufriedenheit im Lande bestanden hätten und nun erst durch den gewaltsamen Einbruch der Franken gestört worden seien. Er verglich die gegenwärtigen Kriege mit den Kriegen, welche Hermann gegen die Römer geführt hatte, und er sagte mit kühner Zuversicht denselben Ausgang, die gänzliche Vertreibung der Fremden voraus. Die wirren Reden, welche seine wahnsinnige Tochter geführt hätte, könnten gar nicht in Betracht kommen und er mache sich nur Vorwürfe darüber, daß er die unglückliche Jungfrau, welche bei der Schmach des Vaterlandes den Verstand verloren, nicht längst unter sorgfältigere Aufsicht gestellt habe. Wohl beabsichtige der Frankenkönig die Männer und Jünglinge aus den sächsischen Gegenden gewaltsam in fremde Länder zu schleppen, wo sie für den Christengott kämpfen und ihr Blut für denselben vergießen sollten. Wer dazu Lust habe, möge sich fügen, die Edelinge seien jedoch entschlossen, weder ihre Mannen dem Heere des fremden Königs zu überlassen, noch ihre Leute durch Abgaben und Zehnten aussaugen und zuletzt dem Hungertode preisgeben zu lassen. In Wittekind sei dem Lande ein zweiter Hermann erstanden, er sammle jetzt ein großes Heer, und wem die Freiheit und Selbständigkeit des Vaterlandes am Herzen liege, der bleibe nicht zurück, sondern schließe sich dem Heere an mit dem Rufe: »Es lebe Herzog Wittekind!«

Als diese Rede geendet war, brach das ganze Volk in hellen Jubel aus, und der Ruf »Herzog Wittekind! Herzog Wittekind!« ertönte lange Zeit von allen Seiten. Die armen, unwissenden Menschen! Wer zuletzt zu ihnen sprach und die Worte einigermaßen zu setzen wußte, hatte in ihren Augen unbedingt recht und konnte sie lenken und leiten, wohin er wollte.

Aber doch waren auch Edithas Worte nicht wirkungslos vom Winde verweht. Als die Leute wieder nach ihren Behausungen zurückkehrten, die Männer 181 ihre Waffen hervorsuchten und aus den Rüstkammern der Burgen bei der Verteilung der Schwerter und Lanzen zusammentrafen, gedachten viele der verzauberten Herrentochter und ihrer wunderbaren Worte. Daß die Herren das niedere Volk weniger achteten wie ihre Pferde und Hunde, war ihnen allen ja bekannt, denn wenn ein gewöhnlicher Mann einem Edeling Schaden zufügte, kostete es ihn das Leben, selbst wenn ihn keine Schuld dabei traf, während die Edelinge mit dem Volke machen konnten, was sie wollten, und selbst bei den schwersten Vergehen die Strafe abkaufen durften. Und nun gar dieser Wippo von Süpplingenburg, vor dem kein Weib sicher war und der bereits so viele Menschen krumm und lahm geschlagen hatte, daß man in seinem Gebiete die meisten Krüppel fand! Es war ein Glück, daß die Vorbereitungen zum Heereszuge in aller Eile betrieben werden mußten, machten sich doch bereits hier und da mancherlei bedenkliche Mißstimmungen geltend.

Während das Heer sich sammelte, war auch bereits die Kunde von dem Aufstande nach Aachen gedrungen und der König traf dort schon seine Vorbereitungen.

Nicht geringes Aufsehen hatte es unter den sächsischen Edelingen hervorgerufen, als man erfuhr, daß Herr Heino unter allerlei Vorwänden zu Hause blieb. Man war anfangs nicht übel geneigt, ihn zur Teilnahme zu zwingen oder sein Gebiet zu verwüsten, es fand sich jedoch nicht genug Zeit zu solcher Maßregel und so verschob man die Austragung der Sache bis zur Rückkehr aus dem Feldzuge.

Bevor Herr Krodo selbst zum Heere abging, trat er in das Gemach seiner Tochter Editha, die seit jenem Versammlungstage wie eine schwere Verbrecherin hinter Schloß und Riegel gehalten wurde. Als Editha ihren Vater finsteren Blickes eintreten sah, glaubte sie ersticken zu müssen, so krampfte sich ihr das Herz in der Brust zusammen. Sie bezwang sich jedoch und stand mit demütig gesenktem Haupte vor ihm. Er überhäufte sie mit den heftigsten Schmähungen, die sie geduldig hinnahm; sie war auch auf Mißhandlungen gefaßt, aber er hielt diese für überflüssig, da er ihr Urteil bereits beschlossen und ihr eine Strafe zugedacht hatte, welche der schlimmsten Mißhandlung gleichkam.

»Kein Edeling unsres Stammes«, so fuhr er sie an, »wird dich entartetes Geschöpf mehr zum Weibe begehren, am wenigsten Wippo, den du mit schamloser Frechheit beleidigt hast. Aber er soll Genugthuung haben. Nicht der Herr von Süpplingenburg soll dich heimführen, sondern ich gebe dich einem seiner niedrigsten Knechte zum Weibe. Das ist beschlossen, und sobald wir wiederkehren, wird es ausgeführt.«

Als er die Worte sagte »einem Knechte gebe ich dich zum Weibe« zuckte sie zusammen und erhob dann den Kopf, ihm frei in das Gesicht blickend.

182 »Vater«, sagte sie dann flehend, »nimm dies Wort zurück. Ich weiß, daß ich in deiner Gewalt bin, aber ich kann den Mann erdrosseln, der sich mir gegen meinen Willen nähern wollte.«

»Es sind starke Leute unter Wippos Knechten«, erwiderte ihr Vater höhnend, »und mein Spruch ist gefällt.«

»Und damit mein Todesurteil!« entgegnete Editha. »Wohlan denn, mir ist es gleichgültig, ob ich in einer Welt weiter lebe, wo alles aus den Fugen geht, die Edlen niedrig denken und handeln, Väter ihre Töchter der Schande überliefern und keine Ehre mehr zu finden ist. Ich wollte es tragen, daß du mich einem Knechte zum Weibe überlieferst, denn neben diesem Wippo ist selbst der niedrig geborne Mensch von Herzen ein Edeling. Aber ich weiß, was es besagen will, in eurer Nähe und unter euren Augen das Weib eines Knechtes zu sein. So ziehe denn hin in den Kampf gegen die Franken und sei siegreich. Wenn du wiederkehrst, wirst du erfahren, daß ich weiß, was einer sächsischen Herrentochter ziemt. Mit euch weiter leben kann ich nicht mehr, weder in dem, was ihr Ehre nennt, noch in der Schande, die du mir zugedacht hast. Für mich gibt es nur einen Ausweg, das ist der Tod.«

Der alte Krodo wußte darauf nichts zu erwidern, denn er verstand seine Tochter schon seit langer Zeit nicht mehr. Er stürmte fort, übergab die Bewachung Edithas einem Menschen, auf den er sich in dieser Hinsicht fest verlassen konnte, und ritt dann an der Spitze seiner Mannen dem Orte entgegen, wo das Heer der Sachsen sich zusammenzog. 183


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