Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfter Abschnitt.

Eine Blocksbergfahrt und weitere Wanderungen.

Schlitzwang befand sich plötzlich inmitten eines Trosses von Menschen, die unter lautem Reden und Lachen des Weges daher kamen und die er nicht früher bemerkte, als bis er, aus seinen Träumen emporfahrend, sich von ihnen umringt sah.

»Wo willst du hin, Gesell?« tönte es ihm von allen Seiten entgegen; »bist wohl vom rechten Wege abgekommen? Hier hinauf führt der Weg zum Blocksberge.«

Emporgeschreckt blickte der Schreiber auf. Er befand sich auf dem Wege zwischen Krodenburg und der Harzburg und war also in seiner Verwirrung dem Gehege seines Todfeindes zugelaufen. Er blickte aufwärts zu der Burg. Dort ragte die mächtige Bildsäule, das Symbol der strengen Gerichtspflege, drohend empor. Für ihn hatte es seine Bedeutung verloren.

Wie ein Blitz flogen naheliegende Gedanken über Recht und Gewalt und die besänftigenden Gebote des Evangeliums dem jungen Schreiber durch den 72 Kopf. Ein Weib aus der Menge, die um ihn sich drängte, folgte seinem Blick und sagte dann:

»Fürchtest du dich vor dem Krodo dort oben? Hast wohl etwas verbrochen, um dessentwillen du so ängstlich nach ihm aufsiehst? Komm mit auf den Berg zum Feste der jungen Frühlingsblätter. Dort sind alle frei und niemand kann dir etwas anhaben.«

»Komm mit, komm mit!« riefen nun auch die andern alle, und bevor sich der Schreiber besinnen konnte, war er einige Schritte mit fortgerissen und fühlte sich wohlwollend von beiden Seiten gefaßt, während das »Komm mit, komm mit«, immer wieder in seine Ohren schallte.

Fast willenlos ließ er es geschehen, daß sie ihn mit sich führten, und das heitere Lachen und lebhafte Plaudern riß ihn wenigstens für Augenblicke aus seiner unglücklichen Stimmung. Der Weg führte anfangs bald sanft, bald steil aufsteigend weiter, dann wieder bis zum Rande eines kleinen Flusses hinab und an dessen Ufer entlang, darauf ohne Unterbrechung zur Höhe hinauf, bis in die Nähe des Brockengipfels. Die reine Luft, welche immer mehr ihre feuchten Bestandteile verlor, je höher sie kamen, wirkte stärkend auf die Lungen und verscheuchte einen Teil des Trübsinns, der die Seele des Jünglings gleich dem Nebel im Thale umfing. Daß die Luft frischer wurde, störte das Wohlbehagen nicht; die Sonne drang doch freundlicher durch als in den feuchten Thälern. Auch war in diesem Jahre der Frühling im ganzen früher gekommen als in andern Jahren, und viele Bäume prangten bereits im zartgrünen Blätterschmucke, während an andern die Blattknospen eben ihre Hüllen sprengten. Bald wurden allerdings die Bäume spärlicher und weniger kräftig und immer seltener zeigten sich saftige Rasenplätze mit bunten Wiesenblumen. Zuletzt gab es nur noch verkrüppeltes Tannengestrüpp zwischen wild durcheinander geworfenen Felsenstücken. Endlich verschwand auch dieses und nun lag das Ziel der Wanderung vor den Augen. Nur mit dünnem Gras und Moos bedeckt und wie übersäet mit ungeheuren Felsblöcken ragte der Gipfel des Blocksberges weit über die andern Höhen rings umher in die blaue Luft.

Die Zahl der Begleiter hatte sich unterwegs bedeutend vermehrt, denn von allen Seiten kamen Zuzüge; Männer, Weiber und Kinder begrüßten sich jubelnd, wo sie sich begegneten und schlossen sich einander an, um dem gemeinsamen Ziele entgegen zu streben. Alte Bekanntschaften von früheren Jahren wurden erneuert, fröhliche Scherzworte ausgetauscht, und jeder einzelne der Bergfahrer strahlte in freudiger Erregung; denn alle hatten sie sich vorgenommen, die freien Tage reichlich auszunutzen und nach der langen Not und Plage des Winters einmal recht aus vollem Herzen sich wieder des Lebens zu freuen.

Oben bot sich bereits der Anblick eines so mannigfachen Treibens, daß Schlitzwang dabei sein Elend völlig vergaß und den unerwarteten großartigen 73 Tumult willig auf sich einwirken ließ. Tausende von Menschen trieben sich umher, alle gleichberechtigt und alle vom gleichen Drange nach unbeschränktem Genuß beseelt. Wie in einem Ameisenhaufen lief und schwirrte dies alles durcheinander; jeder hatte etwas zu suchen, jeder etwas zu besorgen. Kleine Baumstämme, Stangen und große Stücke Baumrinde wurden verwendet, um Hütten zu bauen zum Schutz gegen die kalte Nachtluft und etwaiges Unwetter. Felsstücke wurden zu gleichen Zwecken aufeinander getürmt und überall, wo ein großer Felsblock emporragte, hatte man ihn sofort als Zufluchtsort erwählt. Rasch errichteten die Neuankommenden sich Hütten oder Lagerplätze, wo sie die mitgebrachten Tierhäute ausbreiteten, Nahrungsmittel und Getränke in Sicherheit brachten. Ungeheure Haufen von Reisig und zerhacktem Stammholz waren zusammengeschleppt, und es loderten nicht nur überall kleinere Flammen, sondern in der Mitte des Platzes war auch bereits das mächtig große Hauptfeuer angezündet, welches ganze Ladungen von Holz verschlang, weithin in die Thäler leuchtete und in der Nähe eine starke weithin empfindliche Glut verbreitete.

Da jedermann im ganzen Lande der Sachsen den Wunsch hegte, wenigstens einmal in seinem Leben diese großartige Lenzesfeier auf dem Brocken mitzumachen, so strömte alljährlich aus allen Gegenden vielerlei Volk zusammen, und wer das Gedränge zum erstenmal sah, begriff anfänglich gar nicht, daß es überhaupt so viele Menschen geben könne. Obgleich die eigentliche Feier erst am folgenden Tage begann, war doch der größte Teil der Teilnehmer bereits versammelt, und da Schlitzwangs verstörtes und leidendes Aussehen das Mitleid der Weiber erweckt hatte, so fehlte es ihm nicht an einem geschützten Unterkommen. Bis tief in die Nacht hinein wurde gejubelt, gegessen und getrunken, und nur die unsägliche Müdigkeit, welche nach den vielen Aufregungen und der Anstrengung des Weges den Schreiber überwältigte, ließ ihn endlich einschlafen: aber er wachte bei dem Getöse häufig auf und sah dann wie in einem Traume das riesige Feuer sich von dem dunklen Nachthimmel abheben und schwarze Gestalten um dasselbe sich hin und her bewegen.

Der nächste Morgen wurde wieder mit gegenseitigen Zurufen und maßlosem Jubel begrüßt. Man war nun versammelt und fühlte sich bereits wie in einem Gebiete des Traumes, von welchem alle sonstigen Verhältnisse weitab lagen. Wer es zu Hause am schlimmsten hatte, wollte hier am tollsten austoben. Die Kinder – denn die Mütter hatten nicht nur die heranwachsenden Knaben und Mädchen mitgenommen, sondern auch kleinere Kinder, die den Weg nicht zu Fuße machen konnten, auf dem Rücken mitgeschleppt, während die Männer die Körbe mit Vorräten trugen – die Kinder also verteilten sich gruppenweise im Wald, wo sie Reisig und unzählige Tannenäpfel zusammenrafften, um sie mit großem Eifer in die Flammen zu werfen. Inzwischen suchten sich die erwachsenen Leute untereinander aus, schäkerten miteinander oder klagten sich gegenseitig ihre 74 Not. Spielleute hatten sich eingefunden und bliesen und lärmten, so gut es gehen wollte, und die jungen Bursche und Dirnen stampften den Boden nach dem Takte und drehten und wiegten sich auf und ab in der Nähe der Musikanten. Auch gab es schon Würfelbuden, und mehrere Gauklerbanden hatten sich eingefunden, die ihre Künste trieben und die Menschen zu sich heranlockten. Bärenführer mit gezähmten und abgerichteten Tieren trieben gleichfalls ihr Wesen.

So verging der Tag, und den fröhlichen Menschen flogen die Stunden allzurasch dahin. Alle priesen die Gunst des Wetters, da es gar häufig in früheren Jahren vorgekommen war, daß der Regen unaufhörlich die Feuer ausgelöscht und die Menschen durchnäßt hatte; denn obgleich man möglichst erträgliches Wetter abzuwarten pflegte, wechselte dasselbe doch oft unerwartet rasch und vereitelte alle Hoffnungen.

Die eigentliche Lust steigerte sich erst gegen Abend, und bei dem ausgelassenen Sinn und den derben Sitten unter dem niederen Volke kam es dann zu mancherlei Ausschreitungen. Es herrschte eben vollkommene Freiheit, und was das in solchem Falle sagen will, kann sich jeder selbst denken.

Als Schlitzwang am Abend allein umherschlenderte und hier und da stehen blieb, um die Gruppen bei den Feuern in der eigentümlichen Beleuchtung zu betrachten, geriet er auch in die Nähe einer großen Menschenmenge, die sich um eine Gauklerbande versammelt hatte, um den gewagten und halsbrechenden Kunststücken derselben zuzusehen. Da waren Männer, welche glühende Kohlen verschlangen; andre, welche sich spitze Messer in den Schlund stießen, und noch andre, die eine Anzahl scharfer Klingen in die Luft warfen und dieselben, ohne sich zu verletzen, geschickt wieder auffingen. Inzwischen gingen die Weiber unter dem gaffenden Volke umher und sammelten Geschenke, die sie spärlich erhielten. Endlich traten die Mitglieder der Gauklerbande zurück und bildeten einen Kreis, in welchem ein junges Weib erschien, das zum Takte einer Art kleiner Trommeln, ein Tamburin hoch in die Luft schwingend, zu tanzen begann. Die Männer der Bande begleiteten auf ihren Trommeln eifrig alle Bewegungen, welche die Tänzerin ausführte.

Die Gaukler auf dem Blocksberge.

Als Schlitzwang bei einer Wendung ihr Gesicht deutlich erblicken konnte, fuhr er überrascht zurück, denn er erkannte jene junge Gauklerin, die ihm vor beinahe zwei Jahren im Heinroder Walde begegnet war. Auch sie erblickte ihn und schien ihn wieder zu erkennen, wenigstens mochte ihr sein Gesicht bekannt vorkommen. Daß sie sich sofort erinnert hätte, wo und unter welchen Umständen er ihr begegnet war, konnte man bei dem Mitgliede einer umherziehenden Gauklerbande, die heute hier und morgen dort sich aufhält, nicht voraussetzen. Jedenfalls aber richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den jungen Mann, warf ihm fortwährend lockende Blicke zu und schien bei den verführerischen Wendungen ihres Körpers sich absichtlich immer ihm zuzuwenden.

75 In der That, der Versucher, vor dem Anselmus ihn gewarnt hatte, verstand sich meisterhaft auf die Natur der Menschen; denn gerade in dieser Zeit, wo auf der einen Seite das Gemüt des Jünglings in der Erinnerung an die erlebten Demütigungen noch immer tief verwundet war und auf der andern Seite das wüste Getümmel umher die ungebändigte Lebensfreude ihm vor Augen führte, mußte die Erscheinung des reizenden Weibes sein Gefühl mächtig aufstacheln und den Gedanken in ihm wachrufen, daß es am besten sei, in der Gegenwart zu genießen, was sie ihm darbot.

Schon fühlte er, wie das schöne Weib in den bunten flatternden Gewändern, mit den emporgehobenen Armen, dem lachenden Mund mit den kleinen weißen Zähnen und den glutsprühenden Augen seine Seele umstrickte; plötzlich erinnerte er sich jedoch der Abschiedsszene im Herrenhause zu Krodendorf, und vor dem in ihm aufsteigenden Bilde der zürnenden Editha verwandelte sich die Gauklerin in ein verächtliches Geschöpf, dessen Reize ihm als Fallstricke und dessen Lächeln als Versuchungskünste des Bösen erschienen. Er eilte hinweg und suchte eine etwas abgelegene Stelle auf, wo der kalte Abendwind ihn gar bald wieder zum Bewußtsein seiner trostlosen und verzweifelten Lage kommen ließ.

Die Nacht verging wie die vorige; aber der Umstand, daß er die schöne Tänzerin in seiner Nähe wußte, gab den Gedanken des Schreibers doch zuweilen eine andre Richtung. Er hatte so viel Haß und Abgeneigtheit in seinen jungen Jahren erduldet, daß die Liebe, unter welcher Gestalt sie ihm auch entgegentrat, einen seltsamen Zauber auf ihn ausüben mußte, und er war zu unerfahren, um über die Natur der Neigung dieses jungen Weibes die zutreffend richtigen Gedanken sich zu bilden.

Das Fest nahm am folgenden Tage denselben Fortgang, wie es begonnen hatte. Des Vormittags hielten sich die einzelnen Familien mit ihren Bekannten zusammen und die Spielleute und Gaukler hatten ihre Vorführungen noch nicht begonnen. Dem Schreiber war des Trubels schon fast zu viel geworden und er suchte wieder ein einsames Plätzchen, wo er sich auf ein Felsstück niederließ und den Kopf in die Hand stützte. Wie gewöhnlich zogen die Bilder seiner Erlebnisse vor seiner Phantasie vorüber und er war eben damit beschäftigt, das rätselhafte Benehmen Edithas sich klar zu machen, als er leichte Schritte vernahm und plötzlich die Tänzerin mit fröhlich lachendem Gesichte vor sich sah.

»Ich suchte dich überall im Getümmel«, sagte sie, »und muß dich nun hier ganz einsam finden. Gestern, als ich dich zuerst sah, wußte ich im ersten Augenblick nicht recht, wo ich dich früher gesehen hatte, bald nachher ist es mir aber eingefallen und ich entsann mich, daß ich im Heinroder Walde mehrere Tage vergeblich auf dich gewartet hatte. Ist es nicht merkwürdig, daß ich dein Gesicht nicht vergessen habe? Aber ich will dir das erklären.«

76 Damit setzte sie sich auf ein kleineres Felsstück zu seinen Füßen und sah zu ihm auf. Er blickte sie neugierig an, ohne ein Wort zu erwidern.

»Wir Wahrsagerinnen«, fuhr sie nun fort, »werden von Jugend an durch die alten Frauen darin unterrichtet, wie man des Menschen Wesen aus seinen Gesichtszügen erkennt, und so gewöhnen wir uns daran, dasjenige, was andre unwillkürlich beim Anblicke eines fremden Gesichtes empfinden, genauer zu erforschen und uns Rechenschaft darüber zu geben, weshalb gewisse Menschen andre sofort für sich einnehmen oder auch von sich abstoßen. Als ich dir damals im Walde begegnete, fiel mir sogleich etwas Besonderes in deinen Zügen auf. Daraus läßt sich weder der Ausdruck trotziger Kraft, noch blinde Unterwürfigkeit lesen; auch deine Mienen weichen ebenso von der Alltäglichkeit des niederen Volkes ab, wie sie sich von dem plumpen Hochmut eurer Edelinge unterscheiden. Ich will dir gegenüber keine Wissenschaft heucheln, die ich nicht habe, und gestehe offen, daß ich nichts weiter aus deinen Zügen und aus der Form deiner Hände erkennen kann, als daß du nicht zu den gewöhnlichen Menschen hier herum gehörst. Und das ist es, was mir an dir gefällt. Du hast damals meine Gesellschaft verschmäht und verschmähst mich wohl auch heute noch. Mag es sein. Wir Gaukler haben keine festen Wohnplätze und unser Herz hängt sich nicht an bestimmte Menschen. Höchstens schlägt es einmal heftiger und unwiderstehlicher für den einen als für den andern; aber das ist alles vorübergehend, und weil wir unsern Leidenschaften niemals einen Zügel anlegen, darum werden wir auch nicht von ihnen beherrscht. Du verschmähst mich vielleicht, weil ich dir verächtlich erscheine? Thörichter Knabe! Verlange ich denn deine oder irgend eines Menschen Achtung? Ich wollte dir eine angenehme Stunde bereiten und dein Leben scheint wahrhaftig an solchen nicht allzureich gewesen zu sein; aber das ist gerade die Eigentümlichkeit solcher Naturen, wie sie dein Gesicht verrät, daß sie den Augenblick um der Zukunft willen übersehen und stets nach Dingen trachten, die ihnen doch nicht zu teil werden können.«

Schlitzwang seufzte tief auf, denn die Worte des seltsamen Geschöpfes berührten manche wunde Stelle in seinem Innern.

»Wir ziehen weit umher«, begann sie nun wieder, »und wissen mehr von Menschen und ihrem Fühlen und Denken als ihr andern, die ihr ewig nur mit euresgleichen verkehrt. Unter meinesgleichen gelte ich für besonders klug; denn es ist mir in der That oft gelungen, ohne daß ich selbst mir darüber Rechenschaft geben konnte, das Richtige zu treffen, und so würde ich, wenn ich dich nicht zuerst in Heinrode und jetzt hier auf dem Blocksberge angetroffen hätte, die Vermutung aussprechen, daß du einer von den Christen wärest; denn diese Menschen tragen meist denselben Zug im Gesichte, der auch bei dir mir auffiel und der bei den Christen jene thörichte Ansicht bedeutet, daß alles, was das 77 Leben an Genuß bietet, verwerflich und das ganze Leben nichtig sei, im Vergleiche zu dem, was sie nach dem Tode erwartet.«

Als sie dies gesagt hatte, lachte sie hell auf. »Siehst du«, sagte sie, »das ist es, was mich vom ersten Augenblicke an zu dir hinzog. Meine Natur ist gerade das Gegenteil von der deinigen. Für mich gibt es nichts Höheres als die Freiheit und den Augenblick. Wer mich zu etwas zwingen wollte, den würde ich hassen, aber wer mir gefällt, dem schenke ich ohne langes Überlegen meine Gunst. Was kümmern mich Gesetz und Sitte! Frei wie der Vogel in der Luft durchziehe ich die Welt und strebe nur nach dem Genuß, den der Augenblick mir bietet. Ach, Elend und Schmerz kommen von selbst.«

»Aber ich sehe«, unterbrach sie sich plötzlich, »daß mein Reden dich nur noch trauriger macht. Du scheinst unheilbar zu sein. Bist du mit deiner Sippschaft hier? Weshalb gehst du so allein umher?«

»Weil ich niemand habe, der mich versteht und mit dem ich zusammen sein möchte«, erwiderte Schlitzwang dumpf.

»Wie schade, daß ich dir nicht gefalle«, entgegnete sie, »damit wäre uns beiden geholfen. Aber wenn du allein stehst in der Welt, so hast du doch einen Herrn, dem du dienst, denn für einen Freien oder Edlen kann ich dich nicht halten.«

»Ich bin frei«, entgegnete er bitter, »frei wie der Vogel in der Luft, der rechtlos ist und den jeder mit seinem Pfeile treffen darf, frei wie das wilde Tier des Waldes, das in Höhlen seine Zuflucht suchen muß. Aber nein, der Vogel in der Luft und das wilde Tier des Waldes haben wenigstens ihre Gefährten, die ihr Schicksal teilen, aber ich bin ganz verlassen von aller Welt.«

»So halte dich zu uns«, sagte sie mitleidig, »schließe dich uns an und betrachte dir die Welt einmal in andern Gegenden. Morgen ziehen wir von hier fort über Ilsenburg, wo ein Teil unsrer Leute mit dem Wagen, der hier nicht herauf konnte, zurückgeblieben ist. Schlag ein und ich will es unserm Anführer sagen, daß du mit uns ziehst.«

Dabei streckte sie ihm die Hand hin. Von einem raschen Entschluß getrieben, ergriff er dieselbe und sagte:

»Wohlan! Wenn ihr mich mit euch nehmen wollt, schließe ich mich an. Mir ist es gleich, wohin euer Weg führt, denn allein kann ich ja doch nicht in die Welt wandern und –«

Er wollte sagen »Gott ist überall bei mir!« aber er unterdrückte diese Worte und schwieg.

Die Gauklerin erhob sich, und da sie die Hand des jungen Mannes noch immer in der ihrigen hielt, zog sie ihn mit empor.

»Komm heute abend zu unserm Lagerplatz«, sagte sie, »dann soll alles in Ordnung sein und du kannst mit dem Anführer sprechen.«

78 Dann faßte sie ganz wie damals seinen Kopf mit beiden Händen, drückte ihre Lippen fest auf die seinigen und war im Umsehen hinter den nächsten Gebüschen verschwunden.

Schlitzwang kehrte zu den Leuten zurück, die ihn bei sich aufgenommen hatten und sagte ihnen im Laufe des Tages, daß sie nicht erstaunt sein möchten, wenn er einmal nicht zu ihnen zurückkehren würde, da er des Treibens hier oben müde sei und sich zu entfernen gedächte. Es schien ihnen ziemlich gleichgültig; denn nur die Frauen hatten eine Art von Anteil an ihm genommen, während seine trübselige Art den Männern die Freude des Festes zu stören schien.

Er trieb sich den Tag über noch nach Wohlgefallen umher. Mummereien gab es die Menge, und wenn einer sich recht absonderlich ausstaffiert hatte, so folgte ihm ein ganzer Menschenschwarm nach und alle lachten und jubelten aus vollem Halse. Von den Feuern sahen die meisten und namentlich die Kinder so schwarz und verräuchert aus wie die Kohlenbrenner im Walde, aber das kümmerte niemand; es gab da keinen Unterschied und keiner scheute sich, genau so zu erscheinen, wie er eben war.

Gegen Abend näherte sich Schlitzwang dem Orte, wo die Gauklerbande gestern ihr Wesen getrieben hatte. Sie gaben auch heute wieder ihre halsbrechenden Kunststücke zum besten, und je gefährlicher die Sache aussah, um so mehr munterte das Publikum sie durch lauten Zuruf auf. Es war oft zum Erbarmen, welche Gliederverrenkungen die Kinder der Bande machen mußten, aber je toller sie es trieben, um so lauter erschallte im Volke das Lachen.

Als die junge Tänzerin auftrat, drängten sich alle Männer unter den Zuschauern in den Vordergrund, darunter einige Gestalten, die sich bisher wohl absichtlich beiseite gehalten hatten, um nicht die Aufmerksamkeit an diesem Orte auf sich zu ziehen. Es waren drei hochgewachsene Männer mit mächtigem, obschon durchaus nicht von plumpem Gliederbau. In der Kleidung hatten sie gerade nichts besonders Auffallendes, man konnte sie etwa für Wehrmänner halten. Jeder von ihnen trug eine Mütze und darauf zwei oder drei große schöne Federn, die aber nicht von Krähen oder Raben, sondern wohl von einer fremden Vogelart sein mußten. Offenbar war der eine von ihnen der Anführer, denn er sah am kühnsten darein und hatte einen verwegen drohenden Blick. Sie sprachen fortwährend leise zusammen und blickten mit verlangenden Blicken auf die verführerische Gestalt der Tänzerin.

Als der Tanz vorüber war, zog sich das junge Weib in die Hütte zurück, welche die Gaukler für sich und ihre Habe errichtet hatten, und nun konnte man bemerken, daß die drei auffallenden Fremden sich in der Nähe aufstellten und die Hütte genau im Auge behielten. Die Tänzerin hatte während der Aufführung wiederholt Blicke zu Schlitzwang herübergeworfen, denn sie hatte ihn sofort 79 erkannt und er wußte nun, daß sie ihn erwarten würde. Er stellte sich daher an einen Platz, an welchem ihre Augen ihn sogleich beim Austritt aus der Hütte leicht erblicken konnten.

Bald erschien sie denn auch und wollte sofort auf Schlitzwang zueilen. Sie wurde jedoch bei den ersten Schritten durch den Vornehmsten jener Fremden aufgehalten, der sie am Arme ergriff und an sich ziehen wollte. Mit Heftigkeit riß sie sich los und eilte weiter, aber die drei umringten sie und redeten ihr mit derben Schmeichelworten zu, daß sie ihnen folgen solle. Dazu schien sie jedoch nicht die mindeste Lust zu haben und versuchte sich durchzudrängen. Der Fremde jedoch, der für den Anführer der andern gelten mußte, und der offenbar nicht gewohnt war, mit solchen Weibern viel Umstände zu machen, faßte sie unverschämterweise um den Leib, um sie festzuhalten. Nun aber geriet das leidenschaftliche Weib in die heftigste Wut; sie riß sich los und stellte sich drohend mit aufgehobener Hand dem Fremden gegenüber, indem sie sagte:

»Hütet Euch vor mir, Herr Wippo, ich kenne Euch und hier habt Ihr keine Gewalt. Wenn Euch Eure Augen lieb sind, so laßt mich in Ruhe und geht Eures Weges!«

Damit eilte sie rasch auf den Schreiber zu, faßte ihn bei der Hand und wollte eilig mit ihm zur Seite treten.

Aber der lüsterne Wippo wollte seine Beute nicht fahren lassen. Das Volk war zu sehr durch die Künste der Gaukler in Anspruch genommen, um auf den Vorfall zu achten, und so stürzte der starke Mann wie ein gereizter Stier auf das Weib zu, warf den Schreiber, der auf einen Angriff gar nicht gefaßt war, mit aller Gewalt zur Seite, so daß er gegen einen Felsblock anprallte und hob dann die widerstrebende Dirne in seinen Armen auf, um sie davonzutragen.

Alles dies begab sich fast schneller als es sich erzählen läßt. Plötzlich hörte man einen Schrei, und als sich Schlitzwang, obgleich selbst am Fuße stark verletzt, umwendete, sah er, wie Herr Wippo die Tänzerin zu Boden gleiten ließ, während diese ein blankes Messer emporhielt, das sie, wie es schien, wohl zu gebrauchen verstand.

Der edle Herr versetzte ihr noch einen derben Faustschlag auf den Kopf, von dem sie einen Augenblick zu Boden taumelte. Aber sie erhob sich gleich wieder und war nun nicht mehr gezwungen, sich vor weiterer Nötigung zu schützen, da die beiden andern Männer den fluchenden und drohenden Wippo mit Gewalt fortzogen. Eine Blutspur, welche er hinterließ, zeigte, daß das Messer der Tänzerin ihn verletzt haben mußte, und wie sie ihrem Freunde gleich darauf erzählte, hatte sie ihm in ihrer Wut einen Stich in den Arm oder die Hand versetzt.

Der Schreiber selbst empfand einen heftigen Schmerz im Fuße, als er sich aufrichten wollte, und das in der leidenschaftlichen Erregung doppelt reizende 80 junge Weib mußte ihn stützen, um ihn nach der Hütte zu führen. Dort setzten sich beide nieder und es dauerte eine ganze Weile, bevor das Mädchen sich so weit beruhigt hatte, um ruhig sprechen zu können.

»Ich hatte ihn sofort erkannt«, sagte sie, »denn schon während des Tanzes starrte er mich immerzu an. Es ist Herr Wippo von Süpplingenburg, der hinter allen Weibern her ist.«

»Der Herr von Süpplingenburg?« fragte Schlitzwang ganz erstaunt. »Kommen denn auch Herren hier herauf zum Feste?«

»Ei freilich«, entgegnete sie; »solche wie der Süpplingenburger sind überall, wo sie etwas zu erlangen hoffen. Es kommen noch mehrere hier herauf, glaube nur, daß eure edlen Herren die Weiber der Hörigen nicht verschmähen. Dieser Wippo ist ein wahrer Wüterich gegen seine Leute, und in seinem Gebiete setzt es die meisten Hiebe weit und breit im Lande; auch die Weiber kennt er alle, und wo ihm eine gefällt, muß sie seinen Willen thun, sei es nun, daß er sie durch gute Worte oder durch Mißhandlungen dazu bringt. Mancher Mann, der sich seiner Frau oder Tochter anzunehmen wagte, hat schließlich sich bescheiden müssen, wenn er nicht sein Leben einbüßen wollte. Wir vermeiden sein Gebiet, aber wir kennen ihn alle; denn wo es hier herum recht toll zugeht, kann man sicher sein, daß er sich in irgend einer Verkleidung einfindet.«

Der Schreiber war ganz entsetzt über das, was er hörte. Wohl hatte er schon in Heinrode vernommen, daß mancher der früheren Herren sich mit Dirnen eingelassen, ja ihnen oft Geschenke an Land und Gut gemacht habe, aber daß nun gerade dieser Wippo, der um Editha freite, ein solcher wüster Geselle war, erschreckte ihn.

Die Gauklerin bemerkte nicht, was in ihm vorging; sie untersuchte seinen Fuß und da derselbe bereits stark angeschwollen war, bereitete sie kalte Umschläge und verwünschte dabei den frechen Urheber dieses ganzen Zwischenfalls. Zuweilen kamen einige Männer von der Bande herein, wenn sie gerade eine Pause machten und sich von der Anstrengung erholten; sie sprachen dann mit der Dirne in einem unverständlichen Kauderwelsch und richteten auch einige Worte an ihren Begleiter. Endlich trat auch der Hauptmann der Bande herein, ein älterer kräftiger Mann, wahrscheinlich der Vater der Tänzerin, die er mit dem Namen Lo anredete. Sie machte ihn mit dem Schreiber bekannt. Er schien über dessen Absicht, sich der Bande anzuschließen, zwar nicht sehr erfreut, indes Schlitzwang merkte bald, daß Lo das Regiment führte und keinen Widerspruch vertrug.

Hatte er schon in Heinrode Gelegenheit gehabt, sich über die ungebundenen Sitten dieser fahrenden Leute zu verwundern, so durfte er nicht erstaunt sein, wenn auch jetzt, nachdem er unter sie geraten war, mancherlei in ihren Reden und Handlungen vorkam, was darauf hindeutete, daß sie unter sich in einem 81 Zustande völliger sittlicher Verwilderung lebten. Infolge davon waren denn auch ihre Begriffe über verwandtschaftliche Beziehungen höchst verwirrter Art und sie sahen in Dingen, die selbst bei dem derben Volke der Sachsen längst verpönt waren, kein Ärgernis.

So klug Lo erschien und so sehr ihr Benehmen gegen Herrn Wippo dem Schreiber gefallen hatte, mußte er doch bekennen, daß man auch sie nicht in ihrer seltsamen Art von Häuslichkeit beobachten durfte, wenn nicht jeder Schimmer von höherem Werte gänzlich verschwinden sollte. 82

Am folgenden Morgen zog die Gauklerbande weiter und der Schreiber schloß sich ihnen an. Die Verletzung an seinem Fuße schien geheilt, aber das war nur eine Täuschung; denn kaum waren sie einige Stunden auf den entsetzlich holperigen Waldwegen gewandert, als sich der Schmerz wieder einstellte, so daß der junge Mann nur mühsam vorwärts kam. Glücklicherweise wurde in der Nähe von Ilsenburg Rast gemacht, und der Name dieses Ortes verfehlte nicht, die Erinnerung an seine Heimat und an die Herrin auf der Heinburg in ihm wach zu rufen. Der Ilsenhof zu Ilsenburg war das Besitztum, welches Herr Krodo bei seiner Verheiratung seiner Frau, die gleich ihrer ältesten Tochter Ilse hieß, als Wittum geschenkt hatte. Da sie vor ihm gestorben war, blieb der Hof wieder in seinem Besitz und man sprach davon, daß er ihn dem Herrn Wernigo, dem das Dorf Wernigerode gehörte, zum Tausch angeboten habe.

Der Ilsestein.

Lo war ebenso leichtfertig als gutmütig. Sie wich nicht von Schlitzwangs Seite und sie suchte ihm auch jetzt auf jede mögliche Weise Linderung seiner Schmerzen zu verschaffen, ja sie wollte sogar den Anführer bestimmen, für diesen Tag nicht weiter zu ziehen. Dies führte jedoch zu einem lebhaften Wortwechsel, und da Lo bei keinem einzigen Mitglied Unterstützung ihres Wunsches fand, mußte sie sich fügen, was sie mit rollenden Augen und knirschenden Zähnen that. Man wanderte also weiter und Lo blieb fortwährend an des Schreibers Seite. Beide kamen natürlich bald in den Nachtrab, und als die Bande wiederum lagerte, waren sie so weit zurück, daß die andern bereits gekocht und gegessen hatten, bevor sie bei ihnen eintrafen. Es wurde soviel wie möglich auf Schlitzwang Rücksicht genommen, aber er bemerkte gar wohl, daß sein langsames Nachhinken und die Fürsorge Los um seinetwillen wenig Anklang fand.

Der hinkende Schlitzwang

Tag und Nacht gings vorwärts, denn die Reise sollte ohne größeren Aufenthalt bis an den Rheinstrom fortgesetzt werden. Die Bande hielt sich fast immer auf wenig bekannten, ja kaum erkennbaren Waldpfaden, die Männer trugen nichts als ihre Waffen, während die Weiber mit großen Bündeln erhandelter, geschenkter oder wohl auch gestohlener Sachen bepackt waren, wobei einige noch überdies die kleinsten Kinder mitschleppten. Ein langer, niedriger Wagen, auf welchem sich die Kessel, Stangen und Tücher für die Zelte und andrer Hausrat befand, wurde von den heranwachsenden Knaben und Mädchen, die zum teil völlig nackt liefen, gezogen und geschoben. Schlitzwang unterdrückte seinen Schmerz, und es war vielleicht ganz gut, wenn die Überwindung dieser körperlichen Pein seine Seelenkräfte derart in Anspruch nahm, daß er wenig über seine Lage nachdenken konnte. Als Gefährte einer wandernden Gauklerbande, deren Verwahrlosung er nun erst recht kennen gelernt, zog er jetzt schon mehrere Tage und Nächte durch die Wälder und über Heideflächen; wohin er kommen und was aus ihm werden solle, darüber konnte er nicht zu einer klaren Vorstellung gelangen. 83 Wenn er länger darüber nachdachte, überfiel ihn eine so grenzenlose Verzweiflung, daß es als eine Wohlthat erscheinen mußte, wenn die körperlichen Schmerzen seine Seelenpein zurückdrängten. Wohl gab es Augenblicke, in denen der Zauber der Wildnis sein Herz ergriff, wenn er mit Lo zurückgeblieben war und an ihrer Seite irgendwo in der Waldeinsamkeit Rast machte. Das Frühlingsleben ergriff die beiden jungen Menschen dann mit voller Macht; das geheimnisvolle Rieseln und Rauschen, die rufenden Stimmen der Vögel, das Vorüberhuschen scheuer Eichhörnchen, die von Ast zu Ast sprangen, das Rascheln kleinerer Tiere im Gestrüpp, das Treiben summender Insekten, alle die tausend Einzelheiten der Waldeinsamkeit, die so traulich sich dem Gemüte einschmeicheln, fanden in Schlitzwangs empfänglicher Seele einen Widerhall.

Dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß auch Los Anteilnahme an ihm zu erkalten anfing. Das leidenschaftliche Mädchen wurde es müde, sich mit einem fast nur trübselig dreinschauenden, wortkargen Menschen abzuplagen, der bei ihren Liebkosungen kalt blieb. Der Anführer der Bande hatte wiederholt versucht, ihn einige Kunststücke zu lehren und es war mit den leichteren Produktionen, mit Kugeln und Stäben, erträglich gegangen, aber dennoch mochte der Lehrer bereits bemerkt haben, daß dem Schüler für diese Dinge kein besonderes Geschick innewohnte und so gab es Mißhelligkeiten, Zank und Streit zwischen ihm und Lo, welche zur Entschädigung dafür nicht einmal den Trost hatte, daß ihre Zärtlichkeit von dem Schreiber erwidert wurde.

Am zweiten oder dritten Abend bemerkte Lo, daß ihrem Freunde das Vorwärtskommen wieder ganz besonders schwer wurde und sie wußte es durchzusetzen, daß man ihm gestattete, eine Zeitlang auf dem Wagen zu liegen, um nicht zurückbleiben zu müssen. Sie selbst hatte sich mit einigen der Dinge beladen, die sonst auf dem Wagen weitergeschafft wurden und ihm so gut als möglich ein Lager darauf zurecht gemacht. Er fühlte, wie sehr diese neue Belästigung die ganze Bande gegen ihn aufbrachte, und es entging ihm keineswegs, wie das kühne Mädchen ihren ganzen Einfluß aufbieten mußte, daß der Beschluß, den Fremden im Walde zurückzulassen, nicht alsbald zur Ausführung gelangte.

Schlitzwangs Lage wurde immer unerträglicher und er war nahe daran, die Gefahren der Wildnis einem längeren Aufenthalte unter diesem Volke vorzuziehen. Kaum hatte er sich ein wenig erholt, als er auch den Wagen alsbald wieder verließ, um nicht länger die verdrießlichen Reden mit anhören zu müssen, welche sein hilfloser Zustand veranlaßte.

Wieder ging es einen Tag weiter.

Der Frühling war nun schon so weit vorgeschritten, daß die Bäume überall im frischen Blätterschmucke prangten und die ganze Welt gleichsam in Jugendlust strahlte. Offenbar zogen sie einem Lande entgegen, in welchem die Sonne 84 schneller über die Nebel siegte; denn ihre Strahlen drangen wärmer und belebender durch Busch und Wald und bewirkten auch, daß die Gaukler lauter und lustiger als sonst dahinzogen. Da sie gewohnt waren, kein einziges Tier, das sie erhaschen konnten, als Nahrungsmittel zu verschmähen, so gab es bei den Lagerplätzen immer etwas zu braten und zu verzehren, und zu dem Fleische gesellte sich, was sie an sonstigen Nahrungsmitteln aus den naheliegenden Dörfern zusammenbrachten. Als der Abend wieder sank, war Schlitzwang trotz seines Widerwillens abermals genötigt, entweder zurückzubleiben oder Los Anerbieten anzunehmen und sich weiter fahren zu lassen. Sein Fuß war so stark wieder geschwollen, daß er es vergeblich versuchte, auf Los Schulter gestützt, sich vorwärts zu schleppen. Das äußerste Maß von Not und Jammer war nun wirklich über ihn hereingebrochen, und die Beschämung, die seine Seele folterte, stand auf gleicher Stufe mit den körperlichen Schmerzen.

Halb gegen seinen Willen bestieg Schlitzwang den Wagen, und Lo machte ihm so gut als möglich ein Lager zurecht. Er war müde und abgespannt und dabei völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, so daß er in einer Art Betäubung lag, die endlich in festen Schlaf überging. Allerdings wurde derselbe öfter unterbrochen, da der Wagen bald an aufragenden Wurzeln, bald an den Rändern des Weges anprallte, was Lo nicht immer verhüten konnte. Die Bande machte keinen strengen Unterschied zwischen Tag und Nacht; sie wanderten mehrere Stunden und ruhten dann wieder einige Zeit, und der Schlaf war ihnen am hellen Tage ebenso willkommen wie in der Nacht; aber gerade diese Unregelmäßigkeit hatte die Körperkräfte des Schreibers nach und nach derart heruntergebracht, daß er sich wirklich nach einem recht festen, ruhigen Schlaf sehnte.

Als er wieder einmal durch einen heftigen Stoß erwachte, sah er, wie der bleiche Mond auffallend hell durch die Bäume schien und erkannte bei seinem Schimmer die Gestalt des Anführers, der neben Lo an der Seite des Wagen herschritt. Noch halb im Schlummer hörte er, daß das Mädchen etwas sprach, aber er konnte die Worte nicht verstehen, sondern nur aus dem Tone abnehmen, daß sie eine flehentliche Bitte äußerte. Dann vernahm er, wie der Anführer in sehr entschiedener Weise darauf entgegnete:

»Spare deine Worte, es ist beschlossen und geschieht. Deine Thorheit hat uns während dieser Tage Mühe und Verdruß genug bereitet. Wir müssen rasch durch das Frankenland eilen, denn der König hat ein Gesetz erlassen, wodurch uns der Aufenthalt dort verwehrt ist. Du wirst keine Lust haben, des langweiligen Burschen wegen zurück zu bleiben und dir Prügel geben zu lassen. Die Sache muß ein Ende nehmen, und es bleibt bei dem, was ich dir gesagt habe.«

Schlitzwang war so zerschlagen und in seinem ganzen Wesen vernichtet, daß der naheliegende Gedanke, es sei auf seinen Tod abgesehen, ihn kaum erschreckte. 87 Er hatte keine Heimat mehr, keinen Freund oder Genossen, und alle seine Hoffnungen und Wünsche gingen so sehr in das Blaue und Ungewisse, daß ihm der Tod als eine Erlösung erscheinen mußte, denn durch ihn glaubte er fest und sicher, den einzigen wahren Freund wiederzufinden. Die Worte, die er soeben gehört hatte, beunruhigten ihn daher so wenig, daß er gleich darauf wieder einschlummerte und nun in festen, andauernden Schlaf verfiel.

Was ihn endlich, jedenfalls nach langer Zeit, erweckte, wußte er selbst nicht. Wahrscheinlich war es ein heller, girrender Ton, der an sein Ohr schlug. Er öffnete die Augen, blieb aber wie festgebannt liegen, denn was er sah, war so traumhaft wunderbar, daß ihm sofort der Gedanke kam, er sei tot und in das Land der ewigen Seligkeit versetzt worden. Eine milde Luft umwehte ihn und seine Augen schauten in eine Gegend, die so verschieden von allem war, was er bis jetzt gesehen hatte, daß er wohl glauben konnte, er sei in eine andre Welt versetzt. Ein silberheller Strom durchschnitt hellgrüne Fluren, die sanft bis zum Saume eines Waldes, der leicht geschwungene Bergreihen krönte, anstiegen. Erschien ihm die Luft milder, so kam ihm auch das Licht klarer und sanfter vor. Er rührte sich nicht vom Platze und sah einem kleinen Vogel zu, der aus der grünen Flur mit jubilierendem Ton sich gerade in die Luft erhob und dessen Lied wohl dasselbe war, das ihn vorhin erweckt hatte.

Noch immer wähnte er, er sei von dem Anführer der Gaukler getötet worden und im Jenseits wieder auferwacht; denn was konnte sein unerfahrener Geist im ersten Augenblicke anders glauben? Und bald sollte dieser Glaube noch bestärkt werden, denn auf einem glatten und schön gewundenen Fußpfade sah er eine Gestalt daher schreiten, bei deren Anblick sein Herz hoch aufschlug, weil sie ihn unverkennbar an Anselmus erinnerte. Dasselbe braune Gewand mit einem Stricke um die Lenden gegürtet, umschloß den Leib, und Haare und Bart waren ebenso lang und ehrwürdig wie bei jenem. Der junge Mann sprang auf und wollte die geliebte Gestalt freudig begrüßen, als der Herannahende einige Schritte von ihm entfernt stehen blieb und ihn verwundert betrachtete. Dann machte er das wohlbekannte Zeichen des Kreuzes und sagte mit sanftklingender Stimme:

»Pax tibi!«

Dies war der Gruß, den Schlitzwang von Anselmus gelernt hatte. Auch er machte das Zeichen des Kreuzes und erwiderte mit denselben Worten. Darauf wurde der Blick des fremden Mannes freundlicher, und er richtete Fragen an Schlitzwang, von welcher dieser leider wenig verstehen konnte; nur so viel wurde ihm klar, daß jener ihn aufforderte, ihm zu folgen. Bereitwillig schloß der Schreiber sich an, und war es nun, daß der lange ruhige Schlaf ihn wunderbar gestärkt und seinen verletzten Fuß geheilt hatte, war es, daß die traumhafte Stimmung, in der er sich befand, jedes körperliche Weh besiegte, jedenfalls fühlte 88 er keine Schmerzen mehr, und es wurde dem jungen Sachsen nach und nach ganz klar, daß die Gaukler ihn in einer fremden Gegend schlafend ausgesetzt und dann verlassen hatten.

Nun bog sein Führer um einen vorspringenden Hügel, und mit einem Male erblickte der Jüngling in der Nähe eine Anzahl ungemein sauberer und zierlicher Häuser, über welche ein Gebäude emporragte, das den jungen Sachsen lebhaft in der Form an das Haus der christlichen Brüder bei Heinrode erinnerte.

Noch immer wußte er nicht, was er von alledem denken sollte, denn die Eindrücke waren zu mächtig ergreifend, um seine Seele nicht zu verwirren. Vergeblich hatte sein Führer wiederholt versucht, mit ihm zu sprechen, wohl mochten einzelne Worte ihm verständlich gewesen sein, aber im ganzen waren jene Reden doch so verschieden von der Sprache, die er von Jugend an zu hören und zu gebrauchen gewöhnt war, daß er den Sinn nicht fassen konnte. Soviel entnahm er aber aus der Handbewegung, daß jener ihn aufforderte, mit ihm in das schöne große Haus einzutreten. In demselben Augenblicke, da er ihm folgte, durchzitterte ein langgezogener Glockenton die Luft und der Schreiber fühlte, wie bei diesem Klang die Rinde, die das Elend und der Kummer der letzten Tage um sein Herz gelegt hatten, allmählich schmolz.

Sie traten in einen hohen Raum, der wiederum lebhaft an das stille und einfache Gotteshaus in der sächsischen Heimat erinnerte. Als Schlitzwang nun auch den Altar erblickte mit den Lichtern und den heiligen Gefäßen, und als noch einige Gestalten in braunen Gewändern und mit milden, ehrwürdigen Zügen sich ihm näherten, kam es plötzlich über ihn mit unwiderstehlicher Allgewalt. Als läge die Heimat vor ihm, so fühlte sich seine Seele von freudigem Gefühle ergriffen und alles Leid fiel von ihm ab, wie es einem weinenden Kinde ergeht, wenn es an die treue Mutterbrust sich schmiegen darf. Seine Kniee beugten sich vor dem Altare im Hause seines Gottes, und das Gesicht zur Erde geneigt, rann Thräne auf Thräne aus seinen Augen und erleichterte das tief erschütterte Herz. Er war bei den Seinen und irrte nicht mehr verlassen und verachtet durch die Wildnis. Offen durfte er hier seinen Glauben bekennen und weiter streben und lernen und Gott und die Welt im Lichte des Heils erschauen. Und während er so kniete und sein ganzes Sein und Wesen in der einzigen Empfindung der Nähe Gottes aufging, stimmten die frommen Brüder einen andächtigen Gesang an, der völlig seine Seele von Schmerzen loslöste und in die Wonne innerer Seligkeit tauchte, so daß seine Thränen stiller und milder flossen; denn es tönte in ihm und um ihn:

»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf der Erde und den Menschen ein Wohlgefallen.« 89

 


 


 << zurück weiter >>