Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

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Sechster Abschnitt.

Aus Klostermauern zum Königssitze.

Wie glücklich fühlte sich Schlitzwang in den nächsten Tagen unter der teilnehmenden Pflege der christlichen Brüder, welche ihn in ihr Haus aufgenommen hatten! Nun erst empfand er so recht die Wohlthat der neuen Lehre. Denn nicht wie ein Ausgestoßener, mit halb verächtlichem Mitleid wurde er behandelt; und nicht wie geduldete, nicht wie fortwährend in Lebensgefahr schwebende Menschen wohnten seine Wohlthäter im Lande, sondern sie standen unter dem Schutze des höchsten Herrschers, ihres Königs, welcher, von den Lehren des Evangeliums durchdrungen, der christlichen Religion allen erdenklichen Vorschub in den heidnischen Landen gewährte.

Der junge Sachse nahm an den täglichen Übungen der frommen Männer, die sich Mönche nannten und unter einem Abte, als ihrem Oberhaupte ein beschauliches, werkthätiges Leben führten, mit Eifer und Andacht teil, und schon 90 nach wenigen Tagen konnte er sich mit ihnen leidlich verständigen. Wichen sie auch in einzelnen Ausdrücken und namentlich in der Aussprache vieler Wörter von der Redeweise seiner Heimat ab, so wurde ihm doch immer klarer, daß sie im Grunde eine und dieselbe Muttersprache redeten und daß es nur etwas guten Willen von seiner Seite bedurfte, um sich bald ohne Mühe mit ihnen auseinander setzen zu können.

Freilich wäre ihm fast der Mut gesunken, als er inne wurde, wieviel ihm noch zu lernen übrig blieb. Er hatte die Bücherei des Klosters, in welchem er wohnte, einsehen dürfen und dort allerlei kostbare Pergamente und Schriftstücke der Kirchenväter kennen gelernt, die seinen Durst nach Wissen nur noch mächtiger reizten. Er leistete sich selbst den Schwur, keine Zeit und keine Mühe zu scheuen, um den Inhalt aller dieser Schriftstücke zu durchforschen. Er setzte nun den Pater Wilibald, denjenigen, welcher ihn zuerst in das Gotteshaus eingeführt hatte, von seinem heißen Verlangen in Kenntnis. Indes bedeutete ihn dieser, daß die Sache doch nicht so einfach sei, als er sich einbildete; denn vor allen Dingen müsse er die römische Sprache erlernen, um die tiefgelehrten Werke der alten Schriftsteller kennen zu lernen und zugleich die heiligen Schriften der Kirche lesen zu können. »Bei der großen Sprachverwirrung, welche in der Welt herrscht«, sagte er, »und da in den meisten nördlichen Ländern gar keine Schriftsprache vorhanden ist, stellt sich als unabweisliche Notwendigkeit heraus, irgend eine festgefügte Sprache zur allgemeinen Verständigung zu gebrauchen; das ist aber die lateinische Sprache, sie muß überall bei den Verhandlungen aushelfen und vor Mißverständnissen schützen.« Am Rhein und im ganzen Frankenlande war überhaupt die Sprache der Römer nie völlig verschwunden; und wie die mächtigen Befestigungstürme und starken Mauern noch immer an die gewaltige Herrschaft der Römer erinnerten, so gemahnten viele Ausdrücke und Redewendungen fortwährend daran, daß auch ihr geistiges Leben nicht spurlos dahingeschwunden war.

Schlitzwang dünkte dies alles Manna in der Wüste, und er flehte im Innern zu Gott, daß er ihm die Kraft verleihen möge, recht viele Schätze des Geistes zu sammeln. Er wußte bereits, daß das Kloster, in welchem er sich befand, zu Fulda, einem Orte an dem Flusse gleichen Namens, von Bonifacius gegründet worden war, eben jenem eifrigen Heidenbekehrer, von dessen grausamer Ermordung Frau Radegunda auf der Krodenburg geredet hatte. Das Grab des Märtyrers befand sich vor dem Altar des Kirchleins und wurde als großes Heiligtum betrachtet.

Schlitzwang fühlte sich wohl und zufrieden, aber leider sollte diese Ruhe des Gemütes bald grausam gestört werden. An seiner Kleidung, so zerrissen und unsauber dieselbe auch durch die Wanderung mit den Gauklern geworden war, hatten die Mönche gleich erkannt, daß er ein Sachse sei, und so sehr sie auch anfänglich erstaunt waren, in ihm einen Anhänger des Christentums zu finden, 91 schonten sie ihn doch in den ersten Tagen mit Fragen und Erkundigungen und brachten erst nach und nach das Gespräch auf seine Heimat und seine Stammesgenossen.

Da mußte er denn zuerst hören, wie grausam sich das Schicksal des Landes und Volkes der Sachsen inzwischen gewendet hatte. Kein Wunder, wenn man ihn für einen versprengten Flüchtling hielt, den der Krieg aus seinem Vaterlande vertrieben habe. Er widersprach dieser Vermutung und erfuhr nun, was ihm völlig fremd geblieben war und ihn in tiefster Seele betrübte. Tag und Nacht flehte er unter Thränen und Gebet zu Gott, die Sache seiner Landsleute nicht völlig sinken zu lassen.

Schon als Wittekind die Versammlung nach Paderborn berief, hatte der Frankenkönig Karl zu Worms am Rheinstrome einen Reichstag abgehalten und den Kriegszug gegen die Sachsen beschlossen. Da überall in der Welt nur immer einer auf die Schwäche des andern seine Pläne baut, so waren die Normannen bei der Nachricht, daß ihr Nachbar Wittekind gegen die Franken rüste, in sein Land eingefallen und er hatte sich genötigt gesehen, sich gegen diese schlimmen Feinde zuerst zu wenden. In andern sächsischen Gebieten hatte die Frühlingsfeier die Wehrhaftmachung verzögert, und so waren die Franken bereits über die Grenze gegangen, bevor man ihnen ein Heer entgegenstellen konnte; der Widerstand der vereinzelt ihnen entgegenrückenden Haufen hatte ihren Siegeslauf nicht aufgehalten. Das verschanzte Lager bei Ehresburg, nahe an der Grenze, war sofort in ihre Hände gefallen und sie hatten sich dann unaufhaltsam vorwärts bewegt, bis sie nach dem Orte gelangten, wo das Heiligtum aller sächsischen Stämme sich befand.

Karl der Große läßt einen der heiligen Bäume der Sachsen fällen

Schlitzwangs Herz brach fast unter dem Zwiespalt, in welchen das Schicksal seines Vaterlandes ihn versetzte. Drei Tage bedurften sie, um bei Paderborn das mächtige Denkmal der Unabhängigkeit Sachsens zu zerstören, die hohe Säule zu stürzen und die heilige Linde zu fällen. Die frommen Mönche, die ihm dies erzählten, setzten hinzu, daß die Wächter des Heiligtums und die wenigen Bewohner des Ortes teils im Kampfe gefallen, teils in die Wälder geflüchtet. Die Sachsen versuchten, die Erinnerungszeichen an ihre ruhmvolle Vergangenheit in Sicherheit zu bringen, namentlich das Silbergeschirr des römischen Feldherrn, welches von ihnen hinweggeführt und vergraben worden war. Da die fränkischen Krieger bei der Anstrengung, welche die Zerstörung des gewaltigen Baues ihnen auferlegte, vor Durst fast verschmachteten, weil in der ganzen Gegend kein Wasser zu finden war, so fürchteten einige, daß der Zorn des heidnischen Götzen, für dessen Bild sie die Irmensäule hielten, ihr Verderben beschlossen habe. Sie durchforschten die ganze Umgebung, bis endlich einer von ihnen an verborgener Stelle im Walde eine frische Quelle entdeckte, welche sie alle erquickte und ihren Glauben an den Christengott befestigte.

92 Wie oft fragte Schlitzwang sich selbst: War es denn nötig, daß der König dem freien stolzen Volke diesen Schimpf anthun mußte? Als Christ mußte sich der junge Sachse des Erfolges freuen; denn an dem Orte, wo die Irmensäule gestanden, ließ der König jetzt eine christliche Kirche erbauen, und als Friedensbedingung mußten die Sachsen einwilligen, daß die christlichen Glaubensboten ungehindert und unter seinem Schutze im Lande verweilen und predigen durften. Der Tod seines guten Lehrers Anselmus war also gesühnt.

Dennoch konnte sein Herz nicht freudig aufschlagen; kannte er doch den unbeugsamen Sinn seiner Landsleute und wußte nur zu wohl, daß sie in tiefem Groll schweigend verharren würden, bis sie den Augenblick der Rache für gekommen hielten. Zwölf Geiseln hatten sie stellen müssen aus den Edelingen des Landes. Wer mochte darunter sein? Sein Herz war zerrissen; es überlief ihn kalt, wenn er an den Jammer und den Ingrimm dachte, die allenthalben in der Heimat herrschen mußten. Immerfort schwebte ein Name auf seinen Lippen, wenn er daran dachte, wie die stolzen Frauen auf den Burgen der sächsischen Edelinge trauern würden über das geschändete Vaterland.

Editha!

Das war der Name, bei dem sein Herz blutete, dachte er an das Leid, das ihre unbeugsame Seele betroffen, und immer wieder richtete er die Frage an den Himmel: Mußte es denn so kommen? –

Im Garten des Klosters und auf den umliegenden Feldern standen viele Fruchtbäume, welche ursprünglich die saftlosen und unedlen Früchte trugen, wie sie die Natur dort zeitigte. Seit vielen Jahren war ein Mönch, der aus dem Lande Italien stammte, damit beschäftigt, edle Reiser auf die kräftigen Stämme zu pfropfen. Schlitzwang traf ihn eines Tages bei dieser Beschäftigung und ließ sich dieselbe erklären. Der Mönch meinte, er hoffe mit der Zeit die Obstzucht in der ganzen Gegend zu veredeln und statt der wenig schmackhaften und unansehnlichen Früchte bald schöne, saftige und nahrungsreiche Sorten zu erzielen. Auch erzählte er, daß andre Mönche am Rheinstrome ein Gewächs zu pflanzen versucht hätten, dessen Früchte aus saftreichen Beeren beständen, welche in großen Büscheln zusammenhängen und ausgepreßt jenes kostbare Getränk liefern, das man Wein nennt, und welches der Herr Christus durch den Gebrauch beim Abendmahle geheiligt habe. Der junge Sachse wunderte sich darüber und pries ihn wegen seines eifrigen Vorgehens. Der ehrwürdige Vater lehnte jedoch das Lob bescheiden ab und versicherte, daß schon die Römer während ihrer Herrschaft am Rheinstrome Wein, Obst und südliche Getreidearten eingeführt hätten; freilich halte es noch immer schwer, die Eingebornen des Landes an die richtige Behandlung dieser zarten Gewächse zu gewöhnen; es bedürfe mithin wohl noch langer Zeit, bis sie sich allgemeiner Verbreitung erfreuen würden.

95 Dann zeigte er ihm, wie man die edlen Zweige auf die kräftigen Äste und Stämme pfropft und wie vorsichtig man dabei zu Werke gehen müsse, daß weder der Zweig noch der Stamm dabei Schaden litte.

Da dachte Schlitzwang, gerade so hätte man es mit der Einführung des Christentums in seinem Vaterlande halten sollen. Das Volk der Sachsen war einem mächtigen Baumstämme gleich, der in stolz bewußter Kraft feststeht und den man vorsichtig behandeln muß, wenn man seine Früchte veredeln will. Mit Recht nennen sich die Sachsen Söhne der Erde, denn ihre Eigenart ist dem Boden entsprossen, auf dem sie leben. Mit zäher Kraft haben sie gegen die Härte und rauhe Natur ihres Vaterlandes nicht ohne Erfolg angekämpft und ihm die Möglichkeit eines erträglicheren Daseins mühsam abgerungen. Darauf sind sie mit Recht stolz, und wer nun mit Gewalt fremde Sitten ihnen beibringen und gleichsam sie zwingen will, edlere Geistesfrüchte zu zeitigen, der wird vielleicht eher den ganzen Stamm vernichten, als seinen Zweck erreichen. Die Zerstörung ihres Nationalheiligtums glich einem unbedachten Axthiebe, der das Herz des Baumes getroffen hat, und was nun die Folge sei, mochte Gott allein wissen! Jedenfalls, dachte Schlitzwang, waren es nicht die rechten Ratgeber, die den König dahin brachten, daß solches geschehen durfte.

Nun erfuhr er auch, weshalb der Abt und ein Teil der Mönche nicht im Kloster anwesend waren; sie hatten sich auf den Schauplatz des Krieges begeben, um dort den Kranken und Sterbenden helfend und tröstend zur Seite zu stehen. Dann wollten sie überall auch die Anlage christlicher Niederlassungen leiten.

Der König, von vielen weltlichen und geistlichen Würdenträgern und eifrigen Glaubensboten begleitet, zog sich, nachdem ihm der Sieg so leicht geworden, weiterer Erfolge versichert, nach einem Dorfe an der Weser, einem militärisch wichtigen Punkte, zurück. Er nannte die Burg, die er sich daselbst erbauen ließ, das sächsische Heristal, zur Erinnerung an die Stammburg seines Vaters, das fränkische Heristal.

Alle diese Ereignisse bekümmerten das Herz des jungen Sachsen; um seine verlorne Gemütsruhe wieder zu erlangen, suchte er und fand auch nachgerade Trost und Ableitung seiner Gedanken in den Studien, denen er sich nun mit Eifer und Hingebung widmete. Die Abtei Fulda ward vom König ganz besonders begünstigt, denn sie war Bonifacius seiner Zeit schon als einer der wichtigsten Vorposten für die Ausbreitung der christlichen Lehre bezeichnet worden. Von hier aus begaben sich noch immer Missionen nach dem Lande Thüringen, wo die Menschen nicht so starr an ihren alten Gewohnheiten und Gebräuchen hingen, wie in Sachsen. Auf des Königs Wunsch war mit dem Kloster zugleich eine Schule verbunden worden, in welcher solche Jünglinge, die Trieb zu den Wissenschaften empfanden, Unterricht genossen. Da fühlte sich denn Schlitzwang also recht in seinem Elemente, namentlich, 96 seit der Abt nach seiner Rückkehr in ihm ein brauchbares Werkzeug für die Verbreitung der Lehre des Heils glaubte erkannt zu haben.

Schon im folgenden Jahre war Schlitzwang der lateinischen Sprache so weit mächtig, daß er die Schätze der Bücherei nach Herzenslust genießen konnte. Auch machte er sich daran, das Evangelium in die Redeweise seiner Stammesgenossen zu übertragen, um sich so das Werk des Paters Anselmus, welches er der schönen Editha zum Andenken zurückgelassen hatte, zu ersetzen. Die Arbeit wollte indes nicht recht vorwärts gehen; denn immer wieder hemmte ihn die Überzeugung, daß der Groll seiner Landsleute der Ausbreitung der neuen Lehre hinderlicher sein werde als je zuvor. Früher verachteten sie das Evangelium von dem Sohne Gottes, der in Knechtsgestalt auf die Erde gekommen war; jetzt aber, das wußte er, mußten sie diese Lehre hassen und ihre Verachtung war sicherlich zum Ingrimm gediehen. Ja, wenn man das Evangelium vom Heiland nicht nur in ihrer Redeweise, sondern auch in ihrer Denkart hätte vortragen können, wenn man den Gottessohn nicht als demütigen Friedensstifter, sondern als kampfesmutigen Heerführer hätte einherziehen lassen können – vielleicht wäre es dann möglich gewesen, sie für den neuen Glauben zu gewinnen, ja zu begeistern. Dieser Gedanke verließ Schlitzwang nicht mehr, und er sann Tag und Nacht darüber nach, wie derselbe ausgeführt werden könne. Wenn der Heiland als siegreicher Herzog und seine zwölf Jünger als Heerführer dargestellt wurden, so war es am Ende möglich, das kriegerische Volk, welches nun einmal keinen andern Manneswert gelten ließ als denjenigen, der sich im unerschrockenen Mute und der Meisterschaft im Waffenhandwerk kund gab, für seine Schicksale einzunehmen. Schlitzwang versuchte diesen Plan zur Ausführung zu bringen. Er begann zuerst die Erzählung von der Bergpredigt danach zu entwerfen. Der Heiland als großer, siegreicher Fürst, die Jünger als seine Waffengefährten, das umherlagernde, durch seine Tapferkeit bezwungene Volk, dem er durch göttliche Wunderkraft Speise verschafft, es war eine Schilderung, von der man annehmen durfte, daß sie auf die Gemüter seiner Landsleute nicht ohne Wirkung bleiben würde.

Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe mehr. Er teilte seinen Plan dem Bruder Wilibald mit; dieser zeigte sich davon so überrascht, daß er es für seine Pflicht hielt, mit dem Abte Burghard darüber zu reden. Schlitzwang hatte lange Zeit gefürchtet, daß sein Plan als ein unheiliger verworfen und er wohl mit tüchtigen Scheltworten deswegen getadelt werde – wie freudig bewegte ihn nun die Mitteilung, daß der Abt ihn zu sich entbieten lasse, um sich seine Absichten ausführlicher von ihm selbst auseinander setzen zu lassen.

Es wurde bereits erwähnt, daß Schlitzwang ein Jahr auf Erlernung der lateinischen Sprache verwendet hatte; seitdem war nun wieder eine längere Zeit verstrichen, die er mit Übersetzungen und der Niederschrift eigner Gedanken 97 ausgefüllt hatte. Die Frage war wiederholt an ihn herangetreten, ob er sich ganz dem geistlichen Stande widmen solle, denn nur dadurch war es in jener Zeit möglich, einem Berufe zu folgen, der sich mit dem innern Menschen beschäftigt. Und was wäre alle Gelehrsamkeit, wenn sie nicht fruchtbringend für die Menschheit würde! Wollte er also Lehrer der Jugend oder Schreiber oder sonst etwas derartiges werden, so mußte er sich zum Priester weihen lassen und sich ganz der Sache der Kirche widmen.

Inzwischen war König Karl vom obersten Bischof in Rom, dem Papste Hadrian, zum Schirmherrn der Kirche erklärt worden, nachdem er den Lombardenkönig besiegt und am Grabe des heiligen Petrus zu Rom dem Papste unverbrüchliche Freundschaft gelobt hatte.

Welch ein gewaltiger Mann war dieser König Karl und wie machtvoll erschien er den Menschen jener Zeit! Wenn man die Leute von ihm reden hörte, mußte man schier glauben, daß sein bloßer Blick hinreichen müsse, um jeden Gegner zu vernichten. Kaum hatte er den Kampf gegen die Sachsen beendet, so rief ihn der Krieg mit den Lombarden wieder aus dem Lande. In Oberitalien hatte sich der König Desiderius mit der Partei der jugendlichen Söhne von Karls Bruder verbündet, um womöglich diesen zu vernichten. Indes König Karl besiegte den Desiderius, nahm ihm sein Land und schenkte einen Teil davon dem Papste, während er sich selbst die eiserne Lombardenkrone aufs Haupt setzte. Sie ward allezeit in hohem Grade geehrt, weil sie einen Nagel des heiligen 98 Kreuzes, an welchem der Erlöser starb, enthielt. Auch in Schlitzwang lebte der Stolz des alten Sachsenvolkes, aber vor König Karl, dem gewaltigen Heerführer, der eine halbe Welt bezwungen hatte und überall selbst seine Scharen gegen den Feind führte, der die Wissenschaften liebte und den christlichen Glauben schützte und, als Träger einer edleren Entwickelung, ihn zu verbreiten trachtete, schwand alle menschliche Größe in nichts, und die Zeitgenossen standen staunend vor dieser Vereinigung der Tapferkeit, Klugheit und Hoheit.

Und diesen Mann, der so weit über die gewöhnliche menschliche Natur hinausragte, daß man ihn fast für einen Halbgott halten konnte, sollte Schlitzwang nun von Angesicht zu Angesicht sehen. So unglaublich es ihm anfänglich schien, als der Abt Burghard ihm mitteilte, daß er gesonnen sei, ihn zu dem Könige zu senden, mußte er es endlich doch für wahr halten. Denn der Abt fuhr in seinen Mitteilungen fort, indem er dem jungen Sachsen auseinander setzte, daß gerade seine genaue Kenntnis der Gebräuche und Sitten im Sachsenlande, verbunden mit seinen sonstigen Kenntnissen, dem Könige von großem Werte sein könne. Schlitzwang wußte darauf nichts andres zu sagen, als daß er sich in Demut dem Willen des Abtes unterwerfe und ihm und dem Könige gern seine Kräfte dienstbar machen wolle. Der Abt sagte ihm hierauf, daß der König aus Italien zurückgekehrt, sich gegenwärtig in der Burg zu Worms aufhalte, wo er mit den bewährtesten Männern Rat halte und sich selbst noch von Gelehrten in den Wissenschaften unterrichten lasse. Schlitzwang solle sich reisefertig halten und in Begleitung eines der Brüder an einem bestimmten Tage nach Worms abreisen, um daselbst dem Könige vorgestellt zu werden.

Der König Karl unter seinen Räten.

Wohl glaubte Schlitzwang bereits manches Merkwürdige und Wunderbare gesehen zu haben, aber was war dies alles gegen die Eindrücke, die er nun empfing! Sein sächsisches Heimatsdorf, die Herrenhöfe, welche er in der Heimat bewundert hatte, wie verschwanden sie gegen die Behausungen der vornehmen fränkischen Edlen oder gar im Vergleich mit der königlichen Burg zu Worms! Wohl war das Heiligtum seiner Stammesgenossen mit der Irmensäule, selbst im Verhältnis zu den Gebäuden, die er jetzt sah, immer ein großartiges Menschenwerk, aber der Vergleich zeigte auch die Grundverschiedenheit der beiden Volksstämme in ihrer ganzen Eigenart.

Bei den Sachsen war alles aus der rauhen Natur des Bodens hervorgegangen, und die riesenstarken Baumstämme, die mit Rinde bekleideten Wände und die mächtigen Bärenfelle, das alles hatte etwas Wildes und Schreckhaftes und stand im vollen Gegensatze zu der Art der Gebäulichkeiten und deren Einrichtung im Frankenlande. Auf den Edelhöfen stolzierten dort schöne und nützliche Vögel einher, welche für den Haushalt wichtig waren, und deren prachtvolles Gefieder in der Sonne wie buntes Gold schimmerte. Hier war schon die 99 Kunstbildung der Römer zur Anwendung gelangt, und obgleich der Zerstörungseifer der germanischen Stämme fast alle Bauwerke aus der Zeit der verhaßten Fremdherrschaft wieder vernichtet hatte, so konnte doch nicht verhindert werden, daß der Einfluß der römischen Bildung überall noch sichtbar blieb. Wenn auch die Häuser der niederen Leute fast ganz den sächsischen glichen, hatten sich doch die Großen und Mächtigen aus den Trümmern der römischen Prachtbauten ihre Burgen und Schlösser errichtet und nicht verlernt, daß man Steine aus den Bergen bricht, um sie als dauerhaftes Baumaterial zu benutzen. Namentlich war es seit Einführung des Christentums allgemein geworden, daß die Fürsten und Herren, welche über viele Leute geboten, größere kunstvolle Bauten unternahmen. Dem christlichen Sinne waren die römischen Überreste ein Greuel. Die großen Badehäuser, in denen die höchste Üppigkeit geherrscht hatte, die Theater, in welchen man sich einst an den Qualen der Geschöpfe Gottes geweidet, wurden zerstört und lieferten reichliches Material zu Burgen, Kirchen und Klöstern.

Außer der Burg und der Stiftskirche staunte Schlitzwang auch den Glanz der Rüstungen, die Pracht der Gewänder und das Gewühl auf den Straßen an. Dies alles brachte ihn in eine solche Verwirrung, daß er sich anfänglich gar nicht zurecht zu finden wußte. Wie ganz anders blühte Handel und Wandel hier, wo befahrbare Landstraßen an den Flußufern entlang und über Berge führten, Brücken gebaut und Häfen angelegt waren, wo schon seit den Zeiten der Römer das allgemein gültige Tauschmittel in Münzen aus Bronze und Silber im Gebrauche gestanden hatte.

Bruder Wiligis, der den jungen Sachsen geleitet hatte, brachte ihn zuerst zu dem obersten Geheimschreiber des Königs, dem hoch angesehenen und gelehrten Herrn Alkuin, der besonders in bezug auf wissenschaftliche Angelegenheiten das unbegrenzte Vertrauen seines Herrn genoß.

Die Verlegenheit des Jünglings wurde durch das freundliche Wesen des edlen Mannes bald verscheucht, und je länger dieser sich mit ihm unterhielt und auf seine Pläne und Ansichten hörte, um so größeres Wohlwollen leuchtete aus seinen Zügen.

Auf seine Anordnung fanden die Ankömmlinge vorläufig Unterkunft in der Klosterschule, deren oberster Leiter Alkuin war. Am folgenden Tage sollte Schlitzwang sich nach der königlichen Burg verfügen und dort nach dem Geheimschreiber Eginhard, der stets in der Nähe des Königs weilte, fragen.

Die Anlage der königlichen Burg war im Grundplane den sächsischen Edelhöfen gleich, aber sie bildete mit allen Seitengebäuden eine so große Niederlassung, daß das übrige Worms unscheinbar sich darum lagerte. Schlitzwang wurde dort alsbald zu dem Geheimschreiber Eginhard geführt, der sich in einem der kaiserlichen Gemächer, offenbar dem gemeinschaftlichen Arbeitsraum, aufhielt. 100 Als der Sachse eintrat, bemerkte ihn Eginhard nicht sofort; denn zu gleicher Zeit trat aus einem entgegengesetzten Eingange, der wahrscheinlich zu einem Privatgemache des Königs führte, ein ganz junges Frauenbild, dessen Erscheinung wohl geeignet war, die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes so zu fesseln, daß er jedes andre Geräusch überhören mußte. Ihr zartes Gesicht und die feine, in kostbare Gewänder gehüllte Gestalt brachte den Sachsen sofort auf die Vermutung, daß sie von vornehmer Herkunft sein müsse; er verhielt sich daher fein stille und sah achtungsvoll zu, wie Eginhard das schöne Kind zierlich begrüßte und sehr eifrig im leisen Flüstertone mit ihr ein Gespräch begann. Sie hatte den Fremden jedoch bemerkt und machte Eginhard durch einen Wink ihrer Augen darauf aufmerksam, daß jemand im Gemache sei.

Es befanden sich auf großen Tischen beschriebene Pergamente, Karten, Pläne und Schreibgeräte. Eginhard trat mit dem zarten Mädchen an einen solchen Tisch und erklärte dort den Plan zu einem Gebäude, den er, wie Schlitzwang aus dem Gespräche entnahm, im Auftrage des Königs entworfen hatte. Nachdem sie noch eine Weile miteinander teils laut gesprochen, teils leise geflüstert hatten, begleitete er das schöne freundliche Wesen bis zu der Thür, durch welche der junge Sachse eingetreten war und verabschiedete sich dort, wie es die Sitte gebot, in zierlicher Weise von ihr.

Darauf erst wendete er sich zu seinem Gaste und schien offenbar in freudiger Erregung zu sein, denn er begrüßte diesen sehr freundlich und sagte ihm, daß der oberste Rat des Königs, Herr Alkuin, mit ihm bereits wegen seiner gesprochen habe und der König selbst gern den jungen Sachsen anhören werde. Er, Eginhard, müsse den Brief des Abtes von Fulda dem Könige selbst vorlesen, und wenn Schlitzwang einen Augenblick warten wolle, werde er bald wieder hier sein. Er begab sich hierauf durch die Thür nach den inneren Gemächern und ließ den Sachsen allein zurück. 101

 


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