Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Abschnitt.

Schlitzwang unter den christlichen Brüdern.

An einem Bergabhange und in geringer Entfernung von dichten Waldungen umgeben liegen die Häuser und Hütten eines ärmlichen altsächsischen Dorfes, weit zerstreut um das Herrschaftshaus oder vielmehr um die Gruppe von Häusern und Gebäuden, welche den herrschaftlichen Hof bilden. Heinrode heißt das Dorf, und es ist nicht schwer zu erkennen, daß die Stelle, auf der es steht, früher ebenfalls von Waldung bedeckt war und daß erst mühsam eine Menge von Bäumen ausgerodet und gefällt werden mußte, bevor die Menschen dort sich ansiedeln konnten. Nun zieht sich das Dorf ziemlich weit am Waldessaum hin; fast jedes Haus und jede Hütte ist von einem Stückchen Land umgeben, auf welchem im Sommer der Hafer grünt und im Winde auf und ab wogt, während einzelne Blumen in bunten Farben dazwischen hervorlugen.

Ziemlich am Ende des Dorfes liegt ein kleines Häuschen. Es gehört einer armen Witwe, die kaum etwas andres ihr eigen nennen kann, als einen etwa 4 zehnjährigen, von Kindheit an ziemlich schwächlichen Knaben, welcher daher von der Mutter mit besonderer Sorgfalt gehütet wurde. Da die körperliche Kraft schon unter den Kindern als das Höchste galt, so mußte sich der Knabe von jeher von seinen Altersgenossen manche Zurücksetzung und Mißhandlung gefallen lassen, was ihn von früh an scheu und zurückhaltend machte. Seine Mutter war in früheren Jahren auf dem Herrenhofe im Dienst gewesen und wurde noch immer von der Herrin, Frau Ilse, und den andern Frauen dort gern gesehen. So oft sie irgend etwas daselbst zu schaffen hatte, brachte sie ihrem Knaben einen rotbackigen Apfel oder eine getrocknete Kernfrucht mit, und dieser vermeinte dann immer, daß es auf der ganzen Welt nichts Köstlicheres zu schmecken geben könne.

Wenn er auf diese Weise frühzeitig die süßen Früchte zu kosten bekam, welche auf dem Herrenhofe reiften, so wurde ihm doch auch eines Tages ein Erlebnis zu teil, das sehr geeignet war, ihn eindringlich über die Bitterkeit des Unterschiedes zu belehren, welcher zwischen den Bewohnern des Herrenhofes und den Leuten des Dorfes bestand. Eines Tages im Herbste, als die Blätter schon bunt wurden und die Eicheln und Buchnüsse reif waren, hatte er gleich andern Knaben im Gehölze nach Haselnüssen gesucht und war eben im Begriffe, mit einer ziemlich reichlichen Ausbeute zu seiner Mutter zurückzukehren, als er von der Seite des Hofes her zwei Menschen zu Pferde auf dem Waldwege ihm entgegenkommen sah. Da man alles, was auf dem Herrenhofe vorfiel, sofort im Dorfe ausführlich besprach, so wußte er bereits, daß die Herrenleute Besuch hatten und daß die jüngste Schwester der Frau Ilse zum erstenmal in Heinrode war. Bevor solch ein Kind einigermaßen sicher zu Pferde saß, war an eine Reise nicht zu denken, und es war begreiflich, daß das junge Wesen sich nun mit großer Lust in der neuen Kunst übte. Nachdem die beiden reitenden Gestalten deutlicher sichtbar geworden, bemerkte der Knabe, daß es wirklich die kleine Schwester der Herrin war, die an der Seite ihres erwachsenen Bruders, des jungen Herrn Krodo von Krodenburg, einen Ritt durch den Wald machte.

Die Bewohner in Heinrode waren nicht an allzurohe Behandlung von seiten der Herrenleute gewöhnt, sonst würde der Knabe sich sofort aus dem Staube gemacht und im Waldgebüsche versteckt haben. Nun blieb er an der Seite des Weges stehen und betrachtete sich ganz genau die Nahenden.

Die Kinder im Dorfe waren allesamt Flachsköpfe, und bei den Erwachsenen ging die helle Haarfarbe dann meistens in etwas dunklere Schattierung über, aber niemals bis dahin hatte der Knabe eine so wunderbare Haarfarbe gesehen, wie die der kleinen Herrentochter von Krodenburg. Von einem zierlichen Reif auf dem Kopfe zusammengehalten, floß das lange Haar über den Rücken des etwa achtjährigen Kindes herunter und glänzte und flimmerte wie die Strahlen der Sonne. Der Knabe blickte ganz erstaunt auf die überraschende Erscheinung und es ist wohl möglich, daß er, wie er so mit vorgebeugtem Oberkörper und offenem Munde dastand, recht albern aussah.

5 Mit einem Male waren die beiden dicht bei ihm. Da schallte es mit rauher Stimme an sein Ohr: »Was gaffst du, Schaf!« und im Nu hatte der junge Herr ihm mit der dünnen Reitgerte einen Schlag ins Gesicht versetzt, daß er vor Schrecken und Schmerz laut aufschrie, seine schöne reiche Haselnußausbeute fallen ließ und selbst zu Boden taumelte.

Trotz seines Schmerzes bemerkte der Knabe, wie das kleine Mädchen den erwachsenen Bruder erzürnt ausschalt, und wie sie, als dieser etwas erwiderte, rasch das Pferd umwandte, um trotz der noch unsichern Kenntnis des Reitens sofort zur Heinburg zurückzukehren, während der junge Herr scheltend und drohend weiterritt.

Für den Geschlagenen galt es jedoch die höchste Eile, daß er zu seiner Mutter kam; denn der heftige Schlag mit der dünnen Gerte hatte ihm die Wange aufgerissen, so daß das Blut geradezu herunterströmte. Seine Mutter bekam einen argen Schreck, aber sie verstand sich etwas auf die Heilkunde und wußte die Wunde so gut mit Schneckenschleim zu verkleben, daß sie in kurzer Zeit heilte. Daß der Wundsegen, den sie dazu sprach, die Heilung fördere, waren beide fest überzeugt. Aber eine Narbe blieb Zeit seines Lebens. Wenn ihn später irgend etwas aufregte, zeigte sich ein roter Strich auf seiner Wange und er fühlte das Brennen der Narbe.

Blieb ihm so die äußere Mahnung an jene Mißhandlung, so schwand auch niemals der Eindruck, den sie auf sein Gemüt gemacht hatte. Mit Bitterkeit erkannte er den Unterschied zwischen den Herrenleuten und dem Volke, und da er von jeher ein nachdenklicher Knabe war, so grübelte er oft über diese Verhältnisse nach.

Woher hatten die Herren das Vorrecht, andre Menschen zu mißhandeln und zu verachten? Daß sie Waffen besaßen, gab ihnen Macht über das Volk und machte sie stärker als dieses. Darum war auch der Schmied der angesehenste Mann in allen Dörfern des Landes, der das Edelste, was die Herren besaßen, die Schwerter und Speere und außerdem noch viele andre nützliche Dinge, herzustellen verstand.

Die Urväter waren nicht so glücklich, Waffen zu besitzen. Wenn sie in den wilden Waldungen hausten, wo sie sich von den Tieren der Wildnis nur durch die Mannigfaltigkeit ihrer Instinkte unterscheiden, mußten sie ihre Wohnungen mit Baumstämmen verrammeln, oder in Höhlen und zwischen Felsgestein Schutz suchen; denn der Wolf, der Auerochs, der Bär und das wilde Schwein bedrohten sie fortwährend und die Werkzeuge und Waffen, die sie sich aus Holz und Steinen verfertigten, konnten ihnen nur wenig helfen.

Wenn einmal im Winter ein Rudel Wölfe oder eine Herde Auerochsen durch das Dickicht brach, so war gewiß der Jammer und das Elend groß und es mag nicht selten vorgekommen sein, daß menschliche Niederlassungen mit 6 Stumpf und Stiel vertilgt wurden, so daß derartige Vorfälle nicht viel anders anzusehen sind, als wenn die Wut der Elemente eine Gegend entvölkert und jede Spur menschlichen Daseins zerstört.

Dann kam eine Zeit, wo dies alles anders werden sollte. Fremde Menschen erschienen in größerer und kleinerer Anzahl und durchzogen bald hierhin, bald dorthin das Land. Wer sie waren und woher sie kamen, darüber konnten sich die unwissenden Bewohner der Wälder keine Auskunft geben; denn sie wußten nichts von der Welt, und wer ihnen gesagt hätte, daß diese fremdartig gekleideten Wesen, welche unbekannte Tiere mit sich führten, aus der Luft oder dem Wasser oder der Erde gekommen wären, sie würden es auch geglaubt haben.

In Wahrheit kamen jene fremden, höher entwickelten Menschen von einem fernen Weltteile, Asien genannt, aus dem Lande Indien in die deutschen Gauen, weil sie sich neue Wohnplätze suchen wollten, um der Übervölkerung in ihrer eignen Heimat zu entgehen. Wo es einem von ihnen gefiel, da ließ er sich mit seiner Sippschaft nieder und machte sich zum Herrn des Bodens und alles dessen, was derselbe trug. Wie Götter mußten diese Ankömmlinge den Ureinwohnern des Sachsenlandes erscheinen. Sie brachten Waffen und Werkzeuge, Pferde und Rindvieh mit, und wo sich einer mit seinem Gefolge niederließ, da wurde die Gegend bald vollständig umgewandelt. Die verständigeren Bewohner fügten sich den Anordnungen des neuen Herrn und seines Gefolges, und wer sich nicht fügen wollte, mußte immer weiter in die Wälder zurückweichen.

Die neuen Ankömmlinge fällten und zerschnitten die Bäume und bauten sich behagliche Wohnungen. Wer ihnen dabei behilflich war, erhielt Anweisung und Werkzeuge, um sich gleichfalls Häuser und Hütten zu errichten. Eine immer größere Strecke Waldes wurde ausgerodet und zu Ackerland umgearbeitet. Manche Versuche zur Züchtung der Tiere und zum Anbau von Pflanzen mögen anfänglich mißglückt sein, aber jedenfalls waren die Segnungen, welche die fremden Ansiedler dem Lande brachten, ganz unberechenbar. Mit ihnen kam das nützliche Pferd in jene Gegend und die Züchtung und Verwertung des Rindviehes. Der Herr, welcher Schlitzwangs Heimatsdorf gründete, war Heino geheißen; sein Sohn und nach ihm alle Erstgebornen seines Geschlechts oder deren Stellvertreter trugen denselben Namen; daher hieß das Dorf, welches auf der Stelle steht, wo sie zuerst den Wald ausrodeten, Heinrode und die Herrenwohnung die Heinburg.

Wie es in der Natur der Menschen liegt, so suchten die neuen Herren des Landes untereinander in freundschaftlicher Verbindung zu bleiben, und wo sich nicht Grenzstreitigkeiten erhoben, gelang dies auch sehr gut, so daß im Laufe der Zeit sich die Familien verschwägerten und in Leid und Freud, in Frieden und Streit, eine besondere Kaste für sich bildeten, die sich allein gleichberechtigt hielt und die Nachkommen der mit eingewanderten Menschen sich am nächsten stellte. Die übrigen Bewohner waren ihnen unterthan und mit Leib und Leben verpflichtet.

7 Bei der Abgeschlossenheit des Lebens, welches der sächsische Volksstamm im ganzen führte, blieb auch das Schicksal der einzelnen Menschen in friedlichen Zeiten ziemlich gleich, und wenn einmal irgend ein Vorkommnis ungewöhnlicher Art sich einstellte, so wurde dies sofort viel besprochen und bewirkte häufig einen viel dauernderen Eindruck, als dies unter andern Verhältnissen der Fall gewesen wäre. So ging es mit dem armen Knaben aus dem Dorfe Heinrode, den der junge Herr Krodo auf rohe Weise mißhandelt hatte. Der derbe Volkshumor bemächtigte sich dieses Ereignisses, und noch bevor der Riß in seinem Gesichte vollkommen vernarbt war, hatte er bereits unter seinen Spielgenossen einen Spottnamen erhalten, der bald seinen wahren Namen in den Hintergrund drängte.

»Schlitzwang« nannten sie ihn und so mußte er noch den Hohn zu dem Schaden nehmen, wie es in jener derben Zeit gebräuchlich war. Übrigens wuchs er wie die andern Knaben unter Scherz und Ernst zum Jüngling heran. Der Scherz bestand in den Spielen der Jugend, die immer roher und gefährlicher wurden, je größer und stämmiger das kleine Volk heranwuchs, im Ernste half er seiner Mutter im Hause und auf dem Felde, sammelte Beeren und Holz für sie und ging ihr im Winter beim Anfertigen von allerlei Flechtwerk aus Bast zur Hand; denn darin war sie besonders geschickt, und ihre Matten fanden auch auf dem Herrenhofe zuweilen willige Abnehmer, da man sie zu Fußdecken und zum Schutze gegen Wind und Kälte gut verwenden konnte.

So hatte Schlitzwang wohl schon neunzehnmal und mehr den Frühling wiederkehren sehen, als ein andres Ereignis in seinem Leben eintrat, welches alles Vorherige gänzlich verdrängte und ihn zu einem völlig neuen Leben umschuf.

Eines Tages erschien im Dorfe ein Mann von so seltsamer Erscheinung, daß die Kinder zuerst schreiend vor ihm davonliefen und Männer und Frauen ihn mit offenem Munde und besorgten Blicken anstarrten. Seiner Kleidung nach war er nicht Mann, nicht Weib, denn er trug nichts als ein braunes Gewand, welches vom Hals bis zu den Fußknöcheln ging und um die Hüften mit einem einfachen Strick gegürtet war. An den Füßen trug er gewöhnliche Holzsandalen, die mit Lederriemen festgeschnallt waren. Er war ein noch junger Mann mit den einnehmendsten Gesichtszügen, die man sich denken kann. Ernst und Milde und eine tiefe Trauer sprachen daraus. Haare und Bart hatte er wachsen lassen, und letzterer reichte bis in die Mitte der Brust. – Zuerst suchte er sich an die Kinder zu wenden und rief ihnen mit freundlicher Stimme liebevolle Worte zu. Es war ihre Sprache, aber es klang doch etwas fremdartig und es dauerte eine ganze Weile, bevor man ihn verstand. War anfänglich alles scheu zurückgewichen, so näherten sich nun nach und nach zuerst die Frauen und die größeren Kinder, denen sich bald alt und jung anschloß, so daß sich ein ganzer Kreis um den Fremden bildete. Er fragte dann, ob sich Kranke und mit Gebresten behaftete Menschen im Dorfe befänden und verlangte zu diesen geführt zu werden.

8 Nun war es gerade in bezug auf die Kranken von jeher dort eine üble Sache. War jemand gefallen oder hatte er sich sonst schwer am Körper verletzt, so heilte man ihn so gut wie möglich; das bewiesen die Lahmen und sonstigen Krüppel im Dorfe. Die Weiber stillten eben das Blut und verbanden das verletzte Glied. Unter den alten Frauen befanden sich immer einige, die durch lange Erfahrung etwas mehr von der Sache verstanden, und manche darunter sollten sogar geheimnisvolle Kräfte und Mittel besitzen, um den Kranken zu helfen. Im Grunde bestand ihre ganze Kunst darin, daß sie leichte Verletzungen und Verstauchungen einzurichten verstanden, den Wundsegen hersagten und einige Kenntnis von Kräutern besaßen, die den Schweiß trieben oder auf die Verdauung wirkten. Daß die meisten Kranken und namentlich die Kleinen, welche man nicht über die Art ihrer Schmerzen befragen konnte, elend dahinstarben, wurde ganz natürlich gefunden, und die rüstigen und gesunden Menschen waren zum teil zu roh oder hatten selbst zu viel mit dem Kampfe um das Dasein zu thun, um sich lange über die Toten zu grämen. Holz war genug da, um die Leichen zu verbrennen, und der Töpfer machte wertvollere oder geringere Aschenkrüge, wie man es wollte.

Die meisten Kranken, wenn sie noch bei Besinnung sind, blicken jeden Menschen hilfesuchend ins Auge, und als man den Fremden an das erste Krankenlager führte, sah man zwar die Furcht, aber zugleich auch die Hoffnung über die abgemagerten Züge ziehen. Der fremde Mann machte zuerst das Zeichen des Kreuzes über den Kranken, daraus beugte er sich zu ihm nieder, befühlte seinen Kopf, seine Hände und ließ ihn Atem holen. Dann richtete er mit seiner milden wohllautenden Stimme einzelne Fragen über die Natur seines Leidens an ihn und ließ sich endlich ein Gefäß mit Wasser geben. Er goß dasselbe bis auf einen kleinen Rest aus, zog dann ein Fläschchen aus der Seitentasche seines Gewandes und mischte etwas von der darin enthaltenen Flüssigkeit unter das Wasser. Dem Kranken schien schon die Stimme des Fremden und die sanfte Berührung seiner Hand wohl zu thun; er ließ sich daher willig das Tränklein einflößen und erwartete vertrauensvoll die Wirkung. – Ähnlich ging es auch in andern Wohnungen, wo sich Kranke fanden. Der Fremde reichte verschiedene Mittel und namentlich bei einigen schon fast aufgegebenen Kindern thaten dieselben geradezu Wunder.

Nach einiger Zeit, als der Abend dämmerte, entfernte sich der Fremde und einige Knaben und junge Burschen folgten ihm eine ganze Strecke.

Nach und nach aber kehrten sie zurück, da sie neugierig waren, zu erfahren, was man im Dorfe von der fremden Erscheinung halte.

Dort wurde das Ereignis lebhaft besprochen. Die Männer und Weiber kamen vom Felde und sonstiger Arbeit zurück; es fanden sich auch, wie an jedem schönen Abend, einige Wehrmänner aus der Burg ein. Nun wurden Vermutungen ausgetauscht, Hoffnungen, Befürchtungen, ja sogar Drohungen ausgesprochen für den Fall, daß der Fremde sein Versprechen halten und wiederkehren werde.

10 Und wirklich kam er am andern Tage wieder und nicht nur an diesem, sondern auch am folgenden und mit wenig Unterbrechungen an vielen andern Tagen. Die Kinder liefen ihm bald entgegen und die Kranken erwarteten ihn mit Sehnsucht. Er brachte einigen Heilung und sehr vielen verschaffte er Linderung. Die Berührung seiner Hand hatte etwas so Schonendes; wenn er das Lager verbesserte oder den Kranken durch warme Umschläge und andre Mittel zu Hilfe kam, blickten sie ihn dankbar an, und wer im Dorfe zu schwach war oder durch ein Gebrechen von der Arbeit abgehalten wurde, hatte nun ein bestimmtes Ziel der Hoffnung, und es bildete sich stets eine Versammlung von Krüppeln oder sonstigen unglücklichen Menschen um den Fremden, der wunderbare Dinge zu sagen wußte, und obgleich ihm die Sprache Schwierigkeiten bereitete, dieselbe doch bald besser beherrschte als die Bewohner selbst.

Schlitzwang war von jeher kein allzu kräftiger Bursche gewesen und überall zurückgesetzt worden; denn wenn die Alten und Jungen des Abends sich unter der großen Linde, die mitten im Dorfe stand, versammelten, wollte jeder der Kräftigste sein, und es wurden oft die unglaublichsten Beispiele von körperlicher Stärke erzählt. Namentlich die Wehrmänner und diejenigen, welche ihnen nahe standen, rühmten sich der merkwürdigsten Proben ihrer Kraft und die jüngeren Knaben suchten ihnen darin nachzuahmen. Kein Wunder, daß unser Freund wenig unter ihnen galt. Sie verhöhnten und schlugen ihn, wo sie ihm beikamen, und deshalb floh er ihre Gesellschaft und hielt sich abseits und zu seiner Mutter, bei der er immer Schutz fand.

Gleich beim ersten Erscheinen des fremden Mannes fühlte er sich seltsam zu diesem hingezogen und schon am zweiten oder dritten Tage lief er nicht nur mit den andern, die jenem folgten, hinter ihm her, sondern als diese im Leichtsinn ihrer Jugend bald wieder lärmend und jubelnd zurückeilten, blieb er still an der Seite des Fremden und hatte sich vorgenommen, zu erforschen, wohin derselbe seine Schritte lenke.

Der Fremde sprach milde und freundliche Worte zu dem jungen Sachsen, aber endlich forderte er selbst ihn auf, zu den Seinigen umzukehren, da es zu spät würde, und als jener ihm schüchtern das Verlangen aussprach, zu wissen, woher er komme und wohin er gehe, da sagte er freundlich: »Du sollst es erfahren, mein junger Freund, aber nicht heute und nicht ohne den Willen der Deinigen, denn ich will dich nicht verlocken gegen ihren Wunsch.«

Damit ließ er ihn gehen. Schlitzwang hatte ihm vorher noch gesagt, daß nicht alle im Dorfe seine Freunde seien und daß namentlich die Wehrmänner von der Burg nicht gut von ihm sprächen. Auch unter den alten Frauen habe er Feindinnen, da diese ihr Ansehen durch ihn geschädigt glaubten.

Der Fremde legte seine Hand auf den Kopf des jungen Sachsen und sagte ruhig:

11 »Wo ich bin, stehe ich in Gottes Hand. Was er über mich verfügt, gereicht mir zum Heil.«

Er hatte schon an den Lagern der Kranken und sonst von seinem Gott gesprochen, dem man vertrauen müsse und der alles zum Guten lenke. Auch von dem Sohne seines Gottes hatte er geredet, der die Menschen erlöst habe und sein Blut für sie vergossen. Niemand hatte ihn recht verstehen können. Nun fragte ihn Schlitzwang, wer sein Gott sei und ob er bei ihm wohne.

»Gott ist überall«, entgegnete jener, »und hat die ganze Welt, hat dich und mich geschaffen. Wo wir sind, sind wir bei ihm, denn niemand kann vor seiner Nähe entfliehen.«

Der junge Sachse hatte diese Worte mit sprachlosem Erstaunen angehört und machte sich nun auf den Heimweg. Aber niemals war ihm so seltsam zu Mute gewesen. Gott sei überall, hatte der wundersame Fremde gesagt, also war er auch jetzt in seiner Nähe und er konnte nicht vor ihm entfliehen. Jeden Augenblick sah er sich erschreckt um, denn er glaubte immer, jetzt müsse der fremde Gott hinter ihm sein. Thörichte Furcht – aber was wußte er von dem unsichtbaren Herrn des Himmels und der Erde!

Daß er in der darauf folgenden Nacht wenig und unruhig schlief, konnte nicht anders kommen. Wüster Aberglauben herrschte von jeher unter den Sachsen, und wenn im Winter die alten Mütterchen bei den Herdfeuern saßen, so wußten sie viel zu erzählen von Menschen, die sich in Wölfe vewandeln konnten und allerlei schrecklichen Ungeheuern. An alles dies dachte er jetzt. Bald glaubte er im Dunkeln eine große Gestalt vor sich zu sehen, bald war es, als flüstere ihm jemand ins Ohr, und immer und immer dachte er an die Worte des Fremden in bezug auf seinen Gott.

Es gab ja unter den Sachsen so mancherlei Märchen und Geschichten von ganz großen und ganz kleinen Menschen, vom wilden Jäger, der zur Nacht auszog und dergleichen. Namentlich wurde der Donner für die dröhnende Stimme des höchsten Wesens gehalten und die Erde wurde die Allmutter genannt. Auch dachten sie sich die Sonne und den Mond, ja selbst die Felsen und Bäume wie etwas Lebendiges; aber ein Gott, der überall ist und dem man nicht entfliehen konnte, das war für einen Kopf, der die Dinge nur nach ihrer Außenseite zu beurteilen verstand, völlig unfaßbar. Aber so viel stand sofort bei ihm fest, daß er mehr von der Sache erfahren müsse, und daß des Fremden Wissen für ihn eine Fundgrube neuer Gedanken sein werde.

Auch am folgenden Tage besuchte der Fremde seine Kranken und wußte jedem etwas Tröstliches und Ermutigendes zu sagen. Einem Greise, dem nicht mehr zu helfen war, legte er ein einfaches Kreuz von Holz, das er im Gürtel trug, auf die Brust, segnete ihn und redete ihm dann zu, daß er getrost sterben möge, da seine Seele nach dem Tode zu Gott in sein himmlisches Reich kommen werde.

12 Aber die Menschen waren damals noch so unfähig, sich irgend etwas bei diesen Worten zu denken, daß sowohl der Sterbende wie die andern ihn groß anblickten, als habe er in einer ganz fremden Sprache geredet. Nur Schlitzwang durchfuhr es wie ein Blitz, daß diese unbegreiflichen Worte im Zusammenhang mit dem, was der Fremde gestern gesagt hatte, stehen müßten.

Als dieser den Heimweg antrat, folgte ihm wieder eine kleine Anzahl von Knaben und jungen Burschen, die ihn um mancherlei fragten, worauf er ihnen teils freundliche Auskunft gab, teils aber auch lächelnd erwiderte, daß er es nicht wisse; denn die Burschen glaubten in der That, der Mann sei allwissend oder allgegenwärtig und es war nichts Seltenes, daß sie Dinge von ihm verlangten, welche nur die größte Thorheit ersinnen konnte.

Als alle wieder umgekehrt waren, blieb Schlitzwang bei ihm. Der junge Sachse fühlte, daß die Zuneigung, die er zu dem Fremden gefaßt hatte, diesem nicht zuwider war und so kamen sie bald in ein lebhaftes Gespräch. Der Fremde erzählte, er sei ein Diener oder Priester des allmächtigen und allwissenden Gottes, der im Himmel wohne und sich durch seinen Sohn den Menschen offenbart habe. Schlitzwang verstand noch immer das wenigste von dem, was jener sagte, aber er fühlte doch, daß ein geheimnisvoller Sinn in seinen Worten liege und prägte sie sich alle andächtig in das Herz. Jener erzählte weiter und bereitete den Jüngling vor, daß er in dem Hause, zu welchem er ihn führe, noch sechs Männer seiner Art finden würde, von denen täglich drei oder vier gleich ihm nach den nahen Dörfern gingen, um die Kranken zu besuchen und die Lehre des Heils zu verkündigen. Es lagen nämlich in der Umgegend noch einige Dörfer, die aber alle kleiner waren als Heinrode und die gleichfalls dem Herrn von Heinrode gehörten.

Sie hatten einen tüchtigen Weg zurückzulegen, bis sie endlich zu dem Hause der christlichen Brüder, wie jene sich nannten, gelangt waren. Es erschien wie ein stattliches Gebäude von Baumstämmen, und man konnte bemerken, daß noch daran gearbeitet wurde. Auch ein Garten war abgegrenzt und überall sah man die Spuren rüstigen Schaffens. Der Führer begrüßte seine Genossen in einer fremden Sprache und schien ihnen Auskunft über seinen Begleiter zu geben; denn sie wendeten sich darauf freundlich zu diesem und sprachen ihn in seiner Redeweise an. Sie waren von verschiedenem Alter und trugen sämtlich Bart und Haar ungekürzt.

Der Abend verging unter mancherlei Gesprächen, bei denen sich der junge Sachse die größte Mühe gab, alles zu verstehen. Dann wurde ein kleines Mahl von Haferbrot und Beeren genossen, worauf sie sich durch ein gemeinsames Gebet, in welchem sie ihrem Gott dankten und ihn um Vergebung ihrer Sünden baten, zur Nachtruhe vorbereiteten. Das Haus war in mehrere Räume abgeteilt und dasjenige Gelaß, in welchem sie ihr Gebet verrichteten, war durch einen Altar, auf welchem sich ein großes Kreuz erhob, besonders bezeichnet.

13 Schlitzwang wurde gleich allen andern ein einfaches Strohlager mit einer Matte zum Schlafen angewiesen und er versank bald in tiefen Schlummer.

Am andern Morgen wurde er durch einen seltsamen Klang erweckt. Er fuhr empor und wußte im ersten Augenblicke nicht, wo er sich befand. Alles war noch finster. Einer der Priester forderte ihn auf, der Morgenandacht beizuwohnen, und so gingen sie in den Raum, wo der Altar sich befand. Wie war Schlitzwang überrascht, als er den Raum mit Ampeln erleuchtet fand und vor dem Altar seinen Freund und Führer, den er von den andern Anselmus hatte nennen hören, stehen sah. Ihn erinnerte der Anblick an die Winterfeier, die sie zu Hause in der Zeit der kürzesten Tage zu begehen pflegten.

Denn die Sachsen hatten drei große Jahresfeste, an welchen mehrere Tage lang alle Arbeit ruhte und Lust und Jubel überall herrschte. Da war zuerst das Fest der ersten grünen Blätter, an welchem jedes Haus und jede Hütte mit grünen Zweigen geschmückt wurde und alt und jung Zweige in den Händen trug. Die starken Bursche fällten junge Bäume und schleppten sie jubelnd umher, denn an solchen Festtagen war alles erlaubt.

Das zweite Fest wurde nach der Haferernte gefeiert, da galt es, die Stoppeln zusammenzutragen und zu verbrennen. Große Feuer wurden allenthalben angezündet und ganze Nächte hindurch in Brand erhalten. Jubelnd sprangen Bursche und Mädchen um die Feuer herum und erstere schwangen sich an langen Stöcken hoch darüber hinweg. Bei diesem Feste gab es den meisten Unfug, und es ging selten ohne Brandwunden und noch seltener ohne blutige Köpfe ab.

Das dritte Fest wurde im Winter innerhalb der Häuser und Hütten gefeiert. Da richtete man grüne Tannenbäume auf, die man vom Walde hereingeholt hatte. Unter die Kinder wurden Buchnüsse und Mispeln verteilt und man schnitzte ihnen allerlei Dinge aus Holz, den Knaben Pferde und den Mädchen kleine Kinder, um damit zu spielen, solange sie in den dumpfen, schwach erhellten Stuben weilen mußten. Auch gab es mancherlei tolle Mummereien.

Im Frühling hüllten sich einige Bursche in grüne Zweige, im Sommer umwickelten sie sich mit Stroh und im Winter kleideten sie sich in Pelze, um die Kinder zu erschrecken und tausend Tollheiten zu treiben.

Schlitzwang war es nun wie im Traume, als er die Lichter sah und den Bruder Anselmus an dem Altare; er fühlte sein Herz wie von kindlichen Schauern ergriffen; aber bald verwandelte sich dies Gefühl in geheimnisvolle Andacht, als er vernahm, wie Bruder Anselmus in einer fremden Sprache allerlei Fragen that und Gebete sprach, auf welche die andern antworteten. Oft auch wurden die Worte zu Gesang und das klang dann so wunderbar ergreifend, daß er fast bis zu Thränen gerührt wurde. Auch der seltsame Ton, der ihn erweckt hatte, drang wieder an sein Ohr, und er sah nun, daß es ein Glöcklein war, ein ihm bisher unbekanntes Ding, welches Bruder Anselmus erschallen ließ.

Im Hause der christlichen Brüder

14 Nachdem der Morgengottesdienst beendet war, wurde ein einfaches Frühstück eingenommen und dann ging es an die Arbeit. Schlitzwang erfuhr an diesem Tage eine Menge Dinge, von denen er vorher keine Ahnung hatte. Das Merkwürdigste aber von allem schien ihm ein Buch zu sein, welches Bruder Anselmus aufschlug und worin der Jüngling eine Menge Zeichen erblickte, von denen er im Anfang gar nicht wußte, was er davon halten sollte. Er begriff jedoch ziemlich rasch, daß die Zusammensetzung dieser Zeichen Worte und Sätze vorstellte, und die Sache schien ihm gar nicht so schwierig, wie sie den meisten andern im Dorfe später erschien, von denen einige durchaus nicht fassen konnten, wie es möglich sei, daß die Schrift etwas ausdrücke. Manche hielten es für Zauberei und die Gegner der christlichen Brüder fanden gerade in deren Kenntnis der Schriftzeichen eine schwere Schuld, und so wurde etwas, was der ganzen Menschheit zur größten Ehre gereicht, diesen guten Männern zum Verderben.

Wie dem Jüngling die Stunden dieses Tages vergingen, er wußte es nicht. Am Nachmittage gingen vier der Brüder nach den verschiedenen Dörfern und die andern blieben bei ihrer Arbeit zu Hause. Unterwegs erzählte der Bruder, daß sie in die Gegend geschickt seien, um die Lehre des Heils hier zu verbreiten. Auf Schlitzwangs meist recht kindische Fragen erklärte er, daß alle Anhänger der christlichen Lehre dazu verpflichtet seien, dieselbe nach Kräften zu verbreiten; was aber ihn und seine sechs Genossen gerade in diese Gegend geführt habe, werde er ihm später mitteilen, wenn er im stande sei, ihn besser zu verstehen.

Als sie im Dorfe ankamen, wurde der junge Sachse umringt und befragt, was er alles gesehen und erlebt hätte, und obgleich er bemerkte, daß die meisten ganz andre Dinge zu hören erwartet hatten, so gab es doch wieder einige, welche den Entschluß faßten, sich die seltsame Niederlassung der Priester auch einmal zu besehen.

Es währte nicht lange, so stellte sich ein förmlicher Verkehr zwischen den umliegenden Dörfern und der Niederlassung der christlichen Brüder her. Da Schlitzwangs Vater längst gestorben war, so fiel es diesem nicht schwer, von seiner Mutter die Erlaubnis zu erhalten, daß er sich ganz an Bruder Anselmus anschloß und später sogar völlig in das Haus zog. Nachdem das Auftreten der Brüder nicht mehr das Erstaunen der Bevölkerung erweckte, fingen sie an, in ihren Zwecken weiterzugehen. Sie veranlaßten ihre Anhänger, an einem bestimmten Tage zu ihnen zu kommen und ihren Andachtsübungen beizuwohnen. Was ihnen aber ganz besonders am Herzen lag, war die förmliche Aufnahme in ihren Bund, und wo sie daher ein Verständnis für ihre Lehre vermuteten, forderten sie auch die Menschen auf, sich taufen zu lassen. 15

 


 


 << zurück weiter >>