Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

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Achter Abschnitt.

Aufenthalt bei dreien vereinsamten Waldgenossen.

Schlitzwang blieb noch über Nacht in Worms und brach am andern Morgen vor Aufgang der Sonne auf, um den Weg, der ihm genau beschrieben war, nach dem Schwabenlande zu verfolgen.

Noch war er nicht weit von der Königspfalz entfernt, als ein seltsamer Anblick sein Auge fesselte. Er sah ein Pferd an einen Baum gebunden, und nicht weit davon gewahrte er einen Mann, der mit dem Gesichte nach der aufgehenden Sonne gekehrt, fortwährend mehrere Schritte vorwärts und dann wieder rückwärts ging und dabei halblaut Worte vor sich hinsprach, während er ein Band durch seine Hände zog, die er ebenfalls in fremdartiger Weise auf und ab bewegte.

Hätte der junge Sachse an Zauberei geglaubt, so würde er auf den Gedanken gekommen sein, daß der Mann eine geheimnisvolle Beschwörungsformel ausführe. Gelassen wartete er jedoch ab, bis das geheimnisvolle Treiben zu Ende gegangen war, und als er sah, wie der Mann endlich das Band zusammenrollte und einsteckte, und sich zu seinem Pferde verfügte, ritt er näher, um ihn anzureden.

118 Jener kam ihm zuvor, begrüßte ihn und fragte, wohin die Reise so früh schon gehen solle. Schlitzwang nannte ihm die Richtung seines Weges, und es stellte sich heraus, daß jener gleichfalls nach Schwaben wolle. Sehr erfreut sagte er:

»Es ist in solcher Zeit erwünscht, wenn man Gesellschaft findet, denn sobald der König in den Krieg zieht, sind die Wege unsicher und es treibt sich allerlei Gesindel umher.«

Wißbegierig wie der Schreiber war, zögerte er nicht länger, den Reisenden zu fragen, wer er sei und was sein seltsames Treiben von vorhin zu bedeuten gehabt hätte. Er war auf die Erklärung um so mehr gespannt, als er jetzt, als er dicht neben dem Manne ritt, den auffallenden Unterschied bemerkte, der zwischen seinen Gesichtszügen und denen der Bewohner dieser Gegend sich bemerkbar machte. Die krausen Haare und die lebhaften Augen waren tiefschwarz, die Nase stark gebogen und die Lippen wulstig. Seine Gesichtsfarbe war so dunkel, wie man sie etwa noch bei den Gauklern traf, von denen jedoch der edlere Gesichtsschnitt wieder stark abwich.

Der Mann hatte etwas Lauerndes und Demütiges in seinem Wesen. Er sagte, daß er zu den Kammerknechten des Königs gehöre und vom Stamme der Hebräer sei. Was Schlitzwang eben beobachtet hätte, sei die Morgenandacht gewesen, die er vor der aufgehenden Sonne verrichtet habe.

Der junge Sachse hatte während seines Aufenthalts im Frankenlande, sowohl in Fulda wie in Worms, mancherlei Kenntnisse über die Völker und ihre Vergangenheit gesammelt. Namentlich hatte er die Bücher des Testaments durchstudiert, um die Überlieferungen des Volkes kennen zu lernen, aus dessen Mitte der Heiland hervorgegangen war. Noch war es nicht lange her, seit der falsche Prophet Mohammed in diesen heiligen Landen eine neue Irrlehre gestiftet und sie mit Feuer und Schwert verbreitet hatte. Er wußte ferner, daß die Juden in die ganze Welt versprengt waren und daß auch in Worms einige mit Erlaubnis des Königs als seine Kammerknechte wohnen und Handel treiben durften. Aber er hatte noch keinen von ihnen gesehen, denn sie lebten streng abgesondert und hielten weder mit den Christen noch mit den Heiden Gemeinschaft. So oft die Rede von ihnen war, konnte man bemerken, daß sie gehaßt wurden, obgleich des Königs Schutz ihnen Duldung gewährte. Da Schlitzwang selbst noch ein neugetaufter Christ war, so war ihm das Vorurteil gegen die Hebräer fremd, auch reizte der Mann an seiner Seite seine Wißbegierde in hohem Grade. Aber es kostete Mühe, ihn zum Sprechen zu bringen, so gewandt er seine Zunge zu gebrauchen wußte, wenn die Rede sich um den Krieg oder um Handel und Wandel drehte.

Die Gegend, durch welche beide ritten, bot bald die herrlichsten Ausblicke auf den schönen Rheinstrom und seine sanft gewellten Ufer. Es ist etwas Lachendes und Herzerquickendes um diese gesegneten Fluren, die von milden Lüften 119 umweht und von einem sanftblauen Himmel überdacht sind. Nach und nach wurde auch der Jude zutraulicher, und nachdem er selbst seiner Neugierde genügt und den Begleiter um seine Herkunft befragt hatte, sprach er sich ziemlich offen gegen diesen aus. Daß man in einem Lande, wohin noch nicht einmal die Lehre von dem alleinigen Gott gedrungen war, den Glauben an den Schöpfer der Welt, selbst wenn derselbe als Christentum oder Mohammedanismus auftrat, der Verehrung blinder Naturgewalten oder großer Waldbäume vorziehen müsse, ließ er gelten, aber es war wunderbar zu hören, wie er sich diesen Gott und sein Verhältnis zu den Menschen dachte. In seinen Augen war nur der wahrhaft gläubige Jude, der das Gesetz, wie es Moses seinem Volke vermittelt hatte, bis in die kleinsten Einzelheiten beobachtete, ein Freund und Liebling Jehovahs, den er sich als ein unerbittlich strenges Wesen dachte, welches das geringste Vergehen gegen das Gesetz mit bestimmten Strafen ahndete und die Untreue oder Abgötterei durch ganze Generationen hindurch rächte.

Die Unterhaltung mit seinem Reisebegleiter zog den jungen Sachsen außerordentlich an und er konnte nicht müde werden, mit ihm die verschiedensten Gegenstände zu besprechen. Die Sache wurde jedoch sehr erschwert, weil immer klarer und schroffer die Meinung bei jenem hervortrat, daß nur die Juden das einzig und allein auserwählte und bevorzugte Volk Gottes auf der Erde seien. Jehovah wandte sich stets nur dem Volk der Hebräer zu, ihm und seinen Führern verhieß er die Ausbreitung ihrer Nachkommen wie der Sand am Meere, bis endlich alle andern Völker verdrängt seien. Dagegen verheißt die christliche Lehre allen Nationen der Erde Heil und Beseligung; denn ihr Stifter sagt: »Gehet hin, lehret und bekehret alle Welt und erlöset die Menschen aus der Knechtschaft.« Dem Juden dagegen erschien die übrige Menschheit als unrein und jede Gemeinschaft mit ihr galt ihm als Sünde, die sich nur durch Waschungen, Fasten und Gebete sühnen ließ. Als Schlitzwang die Rede auf den Messias brachte, war der Jude nach der einen Seite hin fest überzeugt, daß der christliche Heiland ein Irrlehrer sei, auf der andern Seite hielt er mit der zähesten Überzeugung an dem Glauben fest, der verheißene Messias der Juden werde bald kommen und sein Volk zur Herrschaft über die ganze Erde führen.

Sie hatten mehrmals unterwegs Rast gemacht, und Schlitzwang beobachtete jedesmal, mit welchen Umständlichkeiten der Jude seine mitgenommenen Speisen zu sich nahm. Wie überall, waren auch hier die Rastplätze an den Wegen in der Nähe frischer Quellen gewählt, und so fehlte es nicht an Wasser, welches der Jude zu seinen Waschungen benötigte.

Gegen Mittag langten sie an dem Flusse Neckar an und trafen dort am Ufer ein Dorf mit einer Herberge, wo sie längere Rast machten, um den Pferden etwas Ruhe zu gönnen. Für sich selbst verlangte der Jude nichts, aber der 120 Herbergswirt kannte ihn und fragte nach Neuigkeiten aus Worms. Bald versammelten sich noch mehr Männer, die etwas über den begonnenen Krieg wissen wollten. Da der junge Sachse ihre Sprechweise nur schwer verstehen konnte, so mischte er sich nicht in die Unterhaltung, sondern schwieg stille, bis der Neugierde der Leute Genüge geschehen war. Jetzt nahm der Jude das Gespräch mit seinem Reisebegleiter wieder auf, und da er bemerkt hatte, daß dieser die Leute nicht verstand, belehrte er ihn:

»Hier hört man das unverfälschte Alemannisch reden. Ist das ein Volk, diese Deutschen! Jede Tagereise ein andrer Stamm, der andre Gebräuche, eine andre Sprache hat und sich allein für den richtigen Urstamm hält. Wir Juden lernen rasch die Sprachen der Menschen, mit denen wir in Handel und Verkehr leben, aber wir haben doch unsre eigne hebräische Sprache, die jeder von uns kennt und versteht. Hier aber wird nicht eher einer den andern verstehen, bis sie eine gemeinsame Schriftsprache haben und dann in dieser verhandeln.«

Dies und noch mancherlei andres besprachen sie miteinander. Der Wirt und die Gäste erkundigten sich bei dem Juden, wer sein Begleiter sei und wohin er wolle. Beide setzten sich dann wieder zu Pferde und ritten noch eine Strecke am Ufer des Neckar zusammen, bis sich ihre Wege trennten, da Schlitzwang den Weg durch einen dichten Wald vorzog, um auf diese Weise ein rascheres Weiterkommen herbeizuführen. Der Jude nahm freundlich Abschied von ihm; er meinte, es sei nicht recht geheuer, mit ihm den Wald zu durchreiten, da sich hier öfter gefährliches Volk umhertreibe, zwar nicht im Innern des Waldes, wo es nichts zu holen gebe, wohl aber an den Pfaden, wo das Gesindel lagere und auf den Wanderer lauere. Der Schreiber hatte des Juden ängstliches Wesen genugsam beobachtet und ward durch dessen Besorgnis keineswegs erschreckt; doch ritt er rasch fürbaß, um noch vor Anbruch der Nacht an seinem Bestimmungsorte anzulangen.

Der Überfall

Der herrliche Wald und die köstlichen Durchblicke auf den fern schimmernden Fluß erheiterten sein Herz und machten ihn fröhlich. Er war weit entfernt, irgend eine Gefahr zu ahnen, als plötzlich aus dem Dickicht zwei zerlumpte, verwildert aussehende Menschen auf ihn zustürzten, und ehe er sich von der Überraschung erholen und an Gegenwehr denken konnte, sein Pferd anhielten und ihn mit mächtigen Holzkeulen bedrohten. Als sie sahen, daß er Miene machte, sein Schwert zu ziehen und sich zu widersetzen, rissen sie ihn mit roher Gewalt vom Roß hernieder, ließen dieses in scheuer Eile entlaufen und bedrohten ihr Opfer aufs neue mit ihren Keulen. Schlitzwang dachte in diesem Augenblicke nur an Widerstand, und die Gefahr gar nicht erwägend, suchte er sich mit Aufwendung aller Kraft ihren Händen zu entreißen. Dadurch reizte er aber die schlimmen Gesellen noch mehr. Ein paar heftige Schläge dröhnten ihm im Kopfe nach, und er verlor die Besinnung.

123 Wohl brachten die heftigen starken Schmerzen den unglücklichen jungen Mann noch einigemal zu sich, aber er fühlte sich außer stande, ein Glied zu rühren oder einen Laut auszustoßen. Er wußte nur, daß die Räuber seine Taschen durchsucht, dann ihn unter Schmerzen und Pein tiefer in den Wald hineingeschleppt, dort aller seiner Kleider beraubt und völlig nackt seinem Schicksal überlassen hatten. Noch einigemal kehrte in ihm ein Schimmer des Bewußtseins zurück; überzeugt, daß sein Tod nahe sei, lag er nun da, ohne eine Spur von Gefühl oder Bewußtsein im tiefen, einsamen Walde.

Was ihm nachher begegnete, erfuhr er erst später aus dem Munde seines Retters, der ihn am andern Morgen an jener Stelle fand und noch ganz schwache Zeichen des Lebens in ihm entdeckte. Er war nicht lebensgefährlich verletzt, wohl aber hatten die wuchtigen Hiebe gegen seinen Kopf eine so starke Erschütterung des Gehirns bewirkt, daß er mehrere Tage lang besinnungslos blieb.

Schlitzwang dachte später oft darüber nach, wie wunderbar die menschliche Natur organisiert ist. Es gibt Fälle, in denen die Seele nur noch durch ganz schwache Fäden mit dem Körper verbunden und jeden Augenblick bereit ist, denselben völlig zu verlassen. Nur durch größte Vorsicht und sorgsamste Pflege erstarken diese Fäden nach und nach wieder, die Seele erwacht aus dem Schlaf, in welchen sie während der Zeit der Unentschiedenheit ihres Schicksals versenkt war, sie wird sich ihrer Beziehungen zu dem Körper immer deutlicher wieder bewußt, tritt nach und nach auch in das frühere Verhältnis zu den Außendingen, und oft bleibt nichts von der Wirkung übrig, welche mit jener Störung verbunden war. Ungläubige Gemüter finden gerade in solchen Zuständen eine Berechtigung zum Zweifel am Fortleben der Seele heraus, aber diese haben einen geringen Begriff von der göttlichen Weisheit. Wo bliebe die Kraft des Glaubens, wenn wir Gewißheit hätten? Ein einziger Fall, in welchem einer Menschenseele, bevor jeder Zusammenhang mit der irdischen Körperwelt völlig gelöst ist, ein untrüglicher sicherer Blick in das Leben jener Welt gestattet wäre, würde Glauben und Hoffnung überflüssig machen und den ganzen Schöpfungsplan umwandeln.

Die Seele Schlitzwangs war also mehrere Tage hindurch von wohlthätiger Nacht umhüllt, und diese wich nur ganz allmählich dem stückweise wiederkehrenden Bewußtsein. Wie Schlitzwang später erfuhr, konnte er längere Zeit weder die Stimmen, welche sein Ohr trafen, unterscheiden, noch weniger sich in seiner neuen Lage zurecht finden.

Zu schwach, um den Zusammenhang zwischen sonst und jetzt zu begreifen, genügte es ihm, daß er ruhig daliegen konnte und daß die dumpfen Schmerzen, welche ihn zuweilen noch immer betäubten, nach und nach dahinschwanden. Der Raum, in welchem er sich befand, war nicht sehr groß; da der Winter jedoch noch nicht begonnen hatte, behielt die Luft fortwährend freien Zutritt und dies that ihm wohl. Daß erste Bedürfnis, das er empfand, war Durst, und die Hand, 124 die ihm einen erquickenden Trunk reichte, leitete seinen Blick auf Gesicht und Gestalt des Mannes, der sein Lebensretter war und in dessen Pflege er sich befand. Dieser hatte ein ehrwürdiges Aussehen und trug den braunen Rock der Mönche. Kaum hatte sich Schlitzwang über diese Erscheinung Gewißheit verschafft, so berührte sein Ohr der Ton einer flüsternden Stimme, die ebenfalls seine Aufmerksamkeit erregte. Es war die Stimme eines Kindes und er besann sich nun, daß er sie schon öfter gehört hatte. Zwischen seinem Pfleger und dem Kinde entwickelte sich ein Gespräch, von dem er jedoch nichts verstehen konnte, da es flüsternd geführt wurde.

Am folgenden Tage ereignete sich dasselbe; und nun war der Schreiber schon im stande, den Kopf zur Seite zu wenden und sich die Gruppe zu betrachten. Sein alter Wohlthäter saß auf einem Holzstuhle und neben ihm stand ein Knabe von etwa acht bis neun Jahren, ein Bild von Frische und Gesundheit. Er lauschte und flüsterte mit dem Alten in wichtig thuender Geschäftigkeit, wie es oft Knabenart ist. Das Kind bemerkte sofort, daß der Kranke nach ihnen hin blickte und hielt erschreckt, den Finger auf dem Munde, die großen hellen Augen erstaunt auf ihn gerichtet, im Gespräche ein. – Schlitzwang schloß die Augen bald wieder, denn jeder neue Eindruck rief Schmerzen im Kopfe hervor und brachte Betäubung im Gefolge. Seine Genesung machte jedoch gute Fortschritte, und nach und nach erfuhr er alles, was ihm geschehen war und wo er sich befand. Das Schicksal hatte ihn eigentümlicherweise zu einem Klausner geführt, wie sie vor Zeit vielfach in der Wildnis lebten, daselbst ein beschauliches Leben führend. In jener Zeit hausten überhaupt noch gar viele samt ihrer Familie, aber auch ganz für sich allein, in Wäldern und Einöden und sie kamen dann gar nicht, oder doch nur sehr selten mit Menschen, die ihnen der Zufall in den Weg führte, häufiger zusammen.

Der Mann, welcher Schlitzwang in die Klause aufgenommen hatte, hieß Medardus und war in gewissem Sinne jenem Kloster beigeordnet, welches das eigentliche Reiseziel des jungen Sachsen bildete; das Oberhaupt der nicht nur in mancherlei Kunstfertigkeiten, sondern auch in der Heilkunde wohlerfahrenen Klosterinsassen hatte früher dasselbe Einsiedlerleben wie Vater Medardus, mit welchem er seit Jahren befreundet war, geführt. Dessen Klause lag jedoch vom Kloster ziemlich entfernt, und so vergingen öfter Wochen, ja Monate, ohne daß Medardus sich in dem Aufenthaltsorte der werkthätigen Brüder blicken ließ. Mancherlei Umstände bewirkten jedoch, daß zeitweilig die Verbindung eine etwas regere ward. Denn bei aller Hinneigung zur Einsamkeit und zum Versenken in fromme Betrachtungen durften jene Einsiedler doch nicht den wichtigen Grund aus dem Auge verlieren, welcher die meisten derselben zur Wahl ihrer Wohnstätte bestimmt hatte und in deren Umgebung festhielt.

Bei der großen Entfernung der Kirchen und Klöster hätten die weit voneinander zerstreuten einzelnen Höfe und Hütten und die Mehrzahl der vereinzelt 125 umherwohnenden Leute gar keinen Mittelpunkt gehabt, wenn nicht dann und wann ein frommer Bruder aus seiner einsamen Klause zu ihnen herangetreten wäre, ihnen geistlichen Zuspruch gebracht und auf solche Weise eine geistige Vereinigung gepflegt hätte. Die höheren Bedürfnisse der armen, in der Weltabgeschiedenheit lebenden Menschen waren so einfacher und geringfügiger Art, daß selbst ein beschränkter Waldbruder sie genügend befriedigen konnte. Es war doch immer der Anfang eines Zusammenhaltes, der erste tappende Schritt zum großen gemeinsamen Wirken, wie der Schreiber es in seiner höheren Vollendung für jene Zeit am Hofe des Königs kennen gelernt hatte.

Mancherlei Erfahrungen konnte Schlitzwang auch in der nächsten Zeit, während seiner Abgeschiedenheit von der Welt, machen, als er nach und nach genas und mit frohem Gefühle die Wiederkehr seiner Kräfte empfand. Nicht nur die allmähliche Zurückkehr ins regere Leben, sondern auch andre Eindrücke versetzten ihn öfter in die Tage seiner Kindheit. Gab es doch auch in seiner Heimat, in der Tiefe der Wälder Niederlassungen, wo vereinzelte oder versprengte Menschen, die sich von der Berührung mit andern absonderten, hausten und welche nur durch die Not oder durch das Naturbedürfnis zu ihren entfernter wohnenden Nachbarn geführt wurden. Der Unterschied war freilich auffallend genug; denn was er in dieser Beziehung in seiner Heimat kennen gelernt hatte, stand auf einer viel tieferen Stufe, und er mußte sofort erkennen, daß der Einfluß der christlichen Lehre im Süden Deutschlands bereits günstig gewirkt hatte.

Der schreckliche Überfall, den der junge Sachse erlebt hatte, konnte nicht als Zeugnis für die Fortdauer barbarischer Zustände angeführt werden, denn an dergleichen Vorgängen hat es zu keiner Zeit bis auf den heutigen Tag gefehlt. Auch in gesitteteren Landen hausten solche räuberische Gesellen, brachen aus ihren Verstecken in Felsenhöhlen, wo sie sich sicher wähnten, hervor und überfielen an den Waldwegen und den Landstraßen den arglosen Wanderer.

Nur wenige Tage, nachdem Schlitzwang den lebensfrischen Knaben zuerst erblickt hatte, kam dieser eines Morgens in Begleitung einer Frau wieder, die er seine Mutter nannte und deren herzliche und aufrichtige Freude über die Besserung des Kranken, ihr sofort dessen Freundschaft gewann. Sie und der Knabe boten dem jungen Sachsen in zierlich geflochtenen Körbchen eine Auslese der schönsten Waldbeeren, und außerdem erklärte sich die Frau bereit, ihm noch andre Arten von Erquickungen zu bereiten. Sie erzählte dann, daß ihr Gottfried, so hieß der Knabe, fast täglich in die Einsiedelei komme und ihr daher auch alsbald Nachricht von der schweren Verwundung des Fremden, welchen Bruder Medardus im Walde gefunden, gegeben habe. Sie sei dann selbst sofort und später noch einmal hier gewesen, habe aber erkannt, daß ihre Hilfe vorläufig nicht von nöten sei, weil er bei Medardus wohl aufgehoben war. Nun aber, setzte sie hinzu, müsse man ihr gestatten, daß auch sie das Ihrige dazu beitrage, um seine Genesung zu befördern.

126 Daß die Frau kein gewöhnliches Waldweib war, merkte Schlitzwang sofort. Was mochte sie zu ihrer Lebensweise in solcher Abgeschiedenheit veranlaßt haben? In allen Wäldern Deutschlands traf man allerdings wohl vereinzelt lebende Frauen, welche entweder von den Ihrigen verlassen oder alleinstehend geblieben waren. Auch in des Sachsen Heimat gab es deren, und gleich andern Weibern wurden sie zuweilen bei Krankheiten um Rat gefragt, denn sie verstanden sich auf die Zubereitung von Heilmitteln aus Wurzeln und Kräutern. Manche dieser Frauen wußten dem Volke Furcht einzuflößen, und auch in der Gegend, in welcher er jetzt lebte, standen sie, trotz der Einführung des Christentums, noch immer im Ansehen; man nannte sie »Alraunen«. Zu diesen konnte die junge, schöne Frau nicht gehören, und so blieb es ihm ein Rätsel, wer sie war. Sie trug ein ganz schlichtes Kleid von derbem Stoffe, ihre Haare fielen, in zwei Zöpfe geflochten, am Rücken herunter. Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck großer Festigkeit, ohne der Milde zu entbehren. Auch an ihren Händen und Füßen konnte man sehen, daß sie nicht zu den gewöhnlichen Waldbewohnern gehörte. Sie behandelte den Bruder Medardus mit großer Ehrfurcht, und dieser, der bei gesundem, heiterem Aussehen hoch in Jahren stand, was schon das weiße Haar und der weiße Bart verriet, hegte offenbar für die Frau und ihren Knaben wahrhaft väterliche Gefühle.

Schlitzwang dachte, daß hier wohl ein Geheimnis obwalte, und suchte nicht weiter danach zu forschen. Von nun an kam der kleine Gottfried jeden Nachmittag, und jener merkte gar wohl, wie erwünscht seine Anwesenheit dem Knaben sein mochte. Wahrscheinlich hatte derselbe bisher nur mit Medardus und seiner Mutter und mit keinem Menschen weiter verkehrt; das bewies die atemlose und dabei scheue Aufmerksamkeit, mit welcher er den jungen Sachsen fortwährend beobachtete und auf jedes seiner Worte lauschte. Sie wurden jedoch rasch miteinander bekannt und schon vertraut. Gottfried wurde Schlitzwangs Führer, als dieser wieder die ersten Schritte aus der Klause ins Freie wagen durfte und bald wußte er auch alles, was der Knabe über sein und der Mutter Leben erzählen konnte. Der Kleine kannte nichts weiter als den Wald und konnte sich gar nicht denken, daß dieser ein Ende nähme. Innerhalb des Waldes hatte er jedoch von jeder Einzelheit Kenntnis erlangt. Die einzelnen Bäume, von denen er erzählte, die Felsengruppe, an welche sich die Hütte seiner Mutter lehnte, der kleine Fluß dicht daneben, in welchem er das ganze Jahr hindurch täglich badete, alles dies schilderte er mit der größten Lebhaftigkeit. Am meisten aber geriet er in Erregung, als er von den Tieren sprach, die in der Nähe seiner Heimatstätte sich umhertrieben und von denen er einzelne so genau kannte, als könne er sich mit ihnen in Naturlauten verständigen. Das Klettern hatte er von dem Eichkätzchen gelernt. Daß einige Male im Winter sich vereinzelte Wölfe gezeigt hatten und ein andres Mal ein weißer Hirsch in jenem Teile des Waldes erschienen, waren 127 Ereignisse in seinem Leben, bei deren Beschreibung er in große Aufregung geriet. Daß die Persönlichkeit des Sachsen und der Umgang mit ihm schon jetzt die Bedeutung eines wichtigen umwandelnden Erlebnisses für ihn erlangt hatte, war ganz unzweifelhaft. Er konnte den Augenblick nicht erwarten, bis jener so weit gekräftigt war, um mit ihm zu seiner Mutter zu gehen. Es sollte dies für ihn gleichsam ein Festtag werden.

Endlich traute sich Schlitzwang zu, den ziemlich weiten Weg dahin zu unternehmen. Der verschlungene Pfad ließ sich übrigens nicht so leicht von jemand anderm verfolgen als von dem Knaben, seiner Mutter und Medardus. Der Sachse war erstaunt über die Sicherheit, mit welcher Gottfried jeden einzelnen Baum zwischen der Klause des Medardus und der Hütte seiner Mutter zu bezeichnen vermochte. Man konnte deren Wohnstätte jedoch nicht eher bemerken, als bis man dicht bei ihr angelangt war, denn sie war von zwei Seiten von Felsen umgeben und außerdem durch ein drittes überragendes Felsstück geschützt.

Medardus hatte Gottfrieds Mutter Frau Waldtraut genannt. Sie saß vor der Hütte, damit beschäftigt, den Winteranzug ihres Knaben auszubessern, eine Arbeit, die bei den spärlichen Hilfsmitteln gewiß viel Zeit und Mühe kostete. Gottfried trug jetzt einen einfachen Rock von demselben Stoffe, wie das Kleid seiner Mutter, und für den Winter hatte sie ihm ein eng anschließendes Gewand von Tierfellen verfertigt. Wie sie sagte, handelte sie die notwendigsten Dinge, die sie sich nicht selbst verschaffen konnte, durch Vermittelung des Bruders Medardus ein, der ihr überhaupt in allen Angelegenheiten mit Rat und Hilfe zur Seite stand.

Die Hütte der Frau Waldtraut war von zwei Seiten aus rohen Baumstämmen gezimmert und um dieselbe befand sich noch einmal ein dichter Zaun von grünem Strauchwerk. Selbstverständlich war die Wohnung eng und klein. Frau Waldtraut hatte sich nach und nach einen zureichenden Hausrat angeschafft. Wenn das Wetter nicht gar zu arg tobte und die Kälte nicht zu heftig war, verlebte sie die meiste Zeit im Freien, und es fand sich immer genug zu thun, für die täglichen Bedürfnisse zu sorgen und Vorkehrungen zu treffen, daß die schwere Zeit des Winters sie nicht unvorbereitet traf. Eine tiefe Höhlung unter einem der Felsen diente zur Vorratskammer; im Wohnraum war weiches Moos ausgebreitet, und außer einfachen Tischen und Bänken, deren auch im Freien an mehreren Stellen angebracht waren, fehlte es auch nicht an Töpfen sowie an Werkzeugen, um sich mancherlei Gerät selbst anzufertigen.

Im Laufe des Gesprächs und bei späteren Zusammenkünften erfuhr Schlitzwang, daß die bescheidene Einrichtung erst nach und nach unter Beistand und durch Vermittelung des Bruders Medardus hatte erlangt werden können. Aus der lebhaften Dankbarkeit, mit welcher Frau Waldtraut dieser Hilfe gedachte, ließ sich entnehmen, wie ohne dieselbe ein Aufenthalt in der Wildnis wohl ganz unmöglich gewesen wäre, oder doch nur zu einem jammervollen Dasein sich gestaltet hätte.

128 Die Einsiedlerin zeigte dem Gaste ihre Vorräte für den nahen Winter, die aus einer großen Menge von Eicheln, Buchnüssen, allerhand nahrhaften Wurzeln und zubereiteten Früchten, wie getrocknete Heidelbeeren und Hagebutten bestanden. Alles war sorgfältig gesondert und aufgeschichtet, und Gottfried hörte mit großem Stolze zu, als seine Mutter ihm das Lob spendete, daß er ihr getreulich beim Einsammeln und Einheimsen geholfen habe. Auch von trockenem Holz waren Vorräte aufgestapelt.

Schlitzwang mußte alles sehen und bewundern; was er aber am meisten bewunderte, war der Mut und die Entschlossenheit des jungen Weibes, deren ganzes Denken und Schaffen Ziel und Zweck in der Kundgebung ihrer Mutterliebe fand. Das kräftige, blühende Aussehen ihres Knaben, sein unbedingter Gehorsam und die klugen Worte, die er zuweilen sprach, gaben das beste Zeugnis ab für die Tüchtigkeit und den klugen Sinn der jungen Mutter. Als der Gast sich verabschiedete, geschah dies mit dem Gefühle der höchsten Verehrung; in dieser Abgeschiedenheit war ihm das schönste menschliche Gefühl in reinstem Ausdruck entgegengetreten. Der kleine Gottfried begleitete ihn noch eine weite Strecke und ging dann, in der frohen Erwartung des Wiedersehens am folgenden Tage, zurück.

Es konnte nicht ausbleiben, daß der Sachse auch mit dem Vater Medardus zuweilen über Waldtraut sprach. In den einfachsten Menschenseelen spricht sich die Ahnung innerer Zusammengehörigkeit am stärksten aus; und wie der Knabe Gottfried mit voller Neigung dem Fremden zugethan war, wie Frau Waldtraut diesem das weltverborgene Geheimnis ihrer stillen Häuslichkeit anvertraut hatte, so trug auch der ehrwürdige Medardus dem von ihm Geretteten väterliches Wohlwollen entgegen, welches noch durch den Umstand erhöht wurde, daß Schlitzwang ihn an Kenntnissen weit überragte. Aber trotz allen guten Zutrauens hütete der Alte das Geheimnis der Frau Waldtraut auch dem Gaste gegenüber; dieser entnahm aus seinen Andeutungen nur, daß ein hartes Schicksal das junge Weib in die Wildnis getrieben habe, wo sie monatelang ganz für sich gelebt und dann erst, als die Geburt des kleinen Gottfried bevorstand, die Vermittelung des Einsiedlers in Anspruch genommen habe, um für einige Zeit in der Hütte eines, in einer andern Gegend wohnenden einsamen alten Weibes Unterkunft zu finden. Sie hatte von Hause nur mitnehmen können, was sie auf dem Leibe trug, doch befanden sich einige Schmucksachen dabei, womit sie das alte Weib belohnen und sich die notwendigsten Einrichtungsgegenstände anschaffen konnte. Durch kluges Zusammenhalten besaß sie sogar bis zu diesem Augenblick noch einige geringe Mittel, um sich zuweilen ein Kleidungsstück zu erhandeln.

Kaum fühlte sich Schlitzwang wieder etwas gekräftigt, so erwachte in ihm der angeborne Trieb zur geistigen Thätigkeit, und da sich ohnehin noch nicht an eine längere Wanderung denken ließ, so gewährte es ihm einige Abwechselung, eine Art Unterricht mit dem kleinen Gottfried zu beginnen.

130 Er bemerkte jedoch, daß Frau Waldtraut ihrem Knaben bereits mancherlei Kenntnisse beigebracht und ihm namentlich auch die Grundzüge des christlichen Glaubens eingeprägt hatte. Um dem lebhaften Knaben eine Freude zu machen, versprach der Sachse ihm einen Bogen zu schnitzen, der bis zum folgenden Tage fertig sein sollte. Mit Wehmut gedachte er während der Arbeit, wie nahe der Augenblick der Trennung sei, weil er schon in den nächsten Tagen die trauliche Waldeinsamkeit verlassen wollte, und es freute ihn, mit dem Geschenk des Bogens wenigstens etwas gefunden zu haben, womit sich die Seele des Knaben beschäftigte, so daß er sich darüber die trüben Abschiedsgedanken aus dem Kopfe schlug.

Am folgenden Tage kam Gottfried nicht allein; seine Mutter begleitete ihn, da sie sich vergewissern wollte, ob der Sachse wirklich gesonnen sei, die Klause schon so bald zu verlassen.

»Allerdings«, entgegnete ihr dieser, »denn meine Pflicht ruft mich wieder aus der stillen, friedlichen Einsamkeit in das Getümmel der Welt zurück. Wie viele Nächte mögen wohl verflossen sein, seitdem Bruder Medardus mich im Walde fand und hierher brachte. Bereits sind lange Wochen darüber hingegangen, und wie manches mag sich seitdem zugetragen haben!«

»Lebt es sich aber nicht besser in unsrer Wildnis«, versetzte Waldtraut, »als draußen in der Welt, wo die Menschen einander bekriegen und morden? Nur ungewiß sind von fernher schwache Kunden von König Karls Kriegszügen zu uns gedrungen, und wenn du uns nicht von den großen Ereignissen im Sachsenlande Mitteilung gemacht hättest, wir wüßten wohl bis heute noch gar nichts davon.«

Inzwischen hatte Schlitzwang dem kleinen Gottfried den fertigen Bogen mit den dazu geschnitzten Pfeilen übergeben und zeigte ihm, wie er ihn gebrauchen müsse. Der Knabe jubelte vor Freude und jauchzte auf, so oft es ihm gelungen war, als Ziel einen entfernten Baum oder einen Stein mit den Pfeilen zu treffen.

»Du hast dem Knaben da ein gefährliches Geschenk gemacht«, sagte Frau Waldtraut, »obgleich du nichts Besseres hättest ersinnen können, um ihn über die Trennung zu trösten. Er wird nun stundenlang Arm und Auge üben, denn sein Sinn neigt sich hin zum Spiele mit Waffen. Nun, wie Gott will! Wird doch auch für uns die Stunde kommen, wo wir wieder unter Menschen leben dürfen, und da ist es gut, wenn mein Knabe in solchen Dingen nicht unerfahren ist.«

»Das höre ich gern«, entgegnete Schlitzwang, »denn es wäre schade, wenn so viel kräftiger Trieb sich nicht im Wirken unter den Menschen bewähren sollte. Mich würde es von Herzen freuen, wenn ich den prächtigen Knaben und seine edle Mutter noch einmal in andern Verhältnissen wiedersehen könnte.«

Gottfrieds erster Meisterschuß

Kaum hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, als Gottfried laut jammernd und weinend in die Klause zurückkam, in der einen Hand den Bogen, in der andern ein Vögelchen tragend, das blutend und zuckend eben verendete. 131 Mit Schluchzen erzählte er, daß er auf den Vogel geschossen, ohne zu wissen, welche Wirkung der Pfeil ausüben werde. Er bat seine Mutter flehend, das Tierchen wieder lebendig zu machen, und es bedurfte vieler Liebkosungen und Schmeichelei, um ihn zu beruhigen und zur Fortsetzung seiner Schießübungen aufzumuntern.

Als er sich entfernt hatte, sagte der alte Medardus:

»Da haben wir das Bild der reinen, unverdorbenen Menschennatur, die ihre Kraft üben und damit doch keinem Geschöpfe etwas Böses zufügen will. Welch ein Abstand zwischen dem bitteren Kummer dieses unschuldigen Kindes und den blutigen Fehden und wilden Kriegen draußen in der Welt, wo gar oft Väter ihren Kindern und Kinder ihren Eltern den schmerzenden Pfeil in die Brust stoßen.«

Frau Waldtraut sah nachdenklich auf das tote Vögelchen, das sie im Schoße hielt, und seufzte bei den Worten des Klausners tief auf.

»Da hast du recht«, versetzte der Sachse, »aber ich verlange danach zu erfahren, was sich inzwischen alles in der Welt zugetragen hat. Vielleicht ist König Karl bereits wieder zurückgekehrt, nachdem seine Scharen meine arme Heimat mit Feuer und Schwert verwüstet haben. Vielleicht ist er aber auch nicht vom Glück begünstigt gewesen, und meine Landsleute haben die Edelsten seines Gefolges erschlagen. Wie manche Thränen würden dann nicht fließen – – indes weiß ich doch einen tapfern Herrn, dem solch ein Los willkommen wäre. Vielleicht kennt auch Ihr ihn, Vater Medardus, denn sein Stammsitz liegt nicht weit von hier – es ist der Graf Eschburg, den ich meine.«

Frau Waldtraut war bleich wie ein Marmorbild bei Nennung dieses Namens geworden und blickte nun starr und sprachlos vor sich nieder. Medardus aber fragte:

»Kennst du selber den Grafen Eschburg?«

Der kleine Gottfried kam eben munter herbeigesprungen. Er war längst getröstet, aber es müde geworden, seine Kunstfertigkeit ohne Zeugen zu üben. Er verlangte, daß die Mutter die Sicherheit seiner Pfeile bewundern solle. Als er ernste Gesichter sah, lehnte er den Bogen an die Wand, schmiegte sich an die Seite seiner Mutter und nahm das tote Tierchen aus ihrem Schoße, um es zu streicheln und aufmerksam zu betrachten.

Der Sachse hatte unterdessen begonnen, die Frage des Einsiedlers zu beantworten, indem er erzählte, auf welche Weise er den Grafen Eschburg kennen gelernt und was er aus seinem Munde vernommen hatte. Der Bericht nahm Zeit in Anspruch, denn Schlitzwang mußte weit ausholen und vorher mitteilen, was er von dem Bruder Anselmus wußte und wie er gleichsam Vollstrecker von dessen letztem Willen geworden war.

Je weiter er in seiner Erzählung vorschritt, um so mehr mußte er über die Wirkung derselben betroffen werden. Der würdige Medardus sah öfter ängstlich auf und machte mehrmals ein Zeichen, als wolle er dem Sachsen bedeuten, nicht weiter fortzufahren, Frau Waldtraut dagegen schien jedes Wort verschlingen zu wollen, blickte den Sprecher mit weit geöffneten Augen und bebenden Lippen in atemloser Spannung an und war nach und nach noch blasser geworden.

Als Schlitzwang geendet hatte, sprang sie empor und eilte hinaus ins Freie. Medardus wollte den Knaben, der ihr nachstürmte, zurückhalten, aber dieser riß sich los, und den Männern in seltsamer Erregung zornige Blicke zuwerfend, ergriff er den Bogen und die Pfeile und eilte seiner Mutter nach.

So erschütternd der ganze Vorfall auch war, hatte das Gebaren des Knaben doch etwas rührend Komisches, denn obgleich er kein Wort gesprochen hatte, so sagten seine Blicke und Gebärden doch deutlich, daß er seine Mutter gegen jedermann, selbst gegen die Freunde, zu verteidigen gesonnen sei.

Was Schlitzwang bereits ahnte, bestätigte Medardus mit wenig Worten. Waldtraut war die Tochter des Grafen Eschburg und Gottfried das Kind des Märtyrers Anselmus.

Langsam folgten die beiden tiefbewegt der Spur der hocherregten Frau. Sie war nicht weit entfernt unter einem Baume in das herbstliche Laub niedergesunken, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend und ihr heftiges Schluchzen begleitete ein krampfhaftes Beben. Gottfried kauerte neben ihr, streichelte ihr Haar und flüsterte ihr Schmeichelworte zu.

Sie hörte die nahenden Tritte und zog die Hände vom Gesicht. Zuerst wendete sie sich mit zärtlicher Liebkosung ihrem Knaben zu und sagte ihm, daß er folgsam sein und mit Bruder Medardus in die Klause zurückkehren solle. Dort habe er das tote Vögelchen zurückgelassen, das er nun mit des Medardus Hilfe vergraben müsse. Auf diese Weise entfernte sie den Knaben und konnte sich nun noch einmal von dem Sachsen alles wiederholen lassen, was er vorhin erzählt hatte. In tiefem Sinnen hörte sie zu, nickte zuweilen oder unterbrach ihn mit einer kurzen Frage. Als er geendet hatte, sagte sie mit bestimmtem Tone:

»Des Vaters Härte hat mich in die Wildnis getrieben, denn ich mußte für das Leben des Kindes fürchten, dessen Geburt bevorstand; nun aber, da er sich nach mir sehnt, Reue empfindet, alt und verlassen dasteht, hält mich keine Macht der Erde hier mehr zurück. Ich muß zu ihm und zu seinen Füßen Verzeihung erbitten für mich und das Kind des Mannes, dem er mich durch seinen Widerstand um so unlösbarer in die Arme trieb. Armer Anselmus, teurer Mann! Arm durch die Liebe zu mir, aber selig und glorreich durch den Märtyrertod unter den Heiden. Lange Jahre habe ich friedlich in der Einsamkeit zugebracht und still auf die Zukunft gehofft, aber nun ist der Augenblick gekommen, wo ich nicht länger weilen darf, denn mich ruft die Pflicht an das Herz des Vaters, um ihn mit mir und seinem Enkel zu versöhnen.«

133 Eine merkwürdige Entschlossenheit leuchtete hierbei aus ihren Zügen. Sie kehrten in die Klause zurück, wo Frau Hedwig dem Bruder Medardus ihren Entschluß mitteilte. Dieser erbot sich sofort, am folgenden Tage selbst nach dem Kloster zu Heilbronn zu wandern, um sich zu erkundigen, ob der Krieg mit den Sachsen beendet und der Graf Eschburg zurückgekehrt sei. Zugleich wollte er sich darüber vergewissern, was unter den obwaltenden Umständen das Ratsamste sei. Während es feststand, daß die Gräfin Hedwig mit ihrem Sohne zu ihrem Vater zurückkehrte, war es doch zweifelhaft, ob Schlitzwang sie an den Hof zu Worms in das Kloster Heilbronn begleiten oder weiter wandern solle.

Als Frau Waldtraut an diesem Abend in der herbstlichen Dämmerung sich ihrer stillen Hütte zuwendete, bedrängte sie der Knabe Gottfried unterwegs mit hundert Fragen, aber viel schwerere Fragen scheuchten in dieser Nacht den Schlaf von ihrem Lager.

In aller Frühe am andern Morgen begab sich Bruder Medardus auf die Wanderschaft, und er mußte sich beeilen, wollte er am Abend wieder zurück sein. Er fand gute Aufnahme bei den befreundeten thätigen Insassen des Klosters, und während diese fortfuhren, sich mit den begonnenen Kunstarbeiten oder mit ihren Studien zu beschäftigen, beriet sich der Eremit mit dem Prior, welchen Rat und welche Förderung man seiner Pflegebefohlenen zu teil werden lassen könne. So ging alles nach Wunsch von statten. Medardus brachte die Nachricht zurück, daß man die Absichten des hilfbereiten Bruders gutheiße; dann erfuhren die eifrig Lauschenden, daß der Krieg gegen die Sachsen fast beendet und der siegreiche König wieder nach Worms zurückgekehrt sei. Graf Eschburg jedoch befinde sich noch in Feindesland, da er auf seinen eignen Wunsch bis zur vollständigen Beendigung des Feldzugs gegen den Feind kämpfen wolle.

Am folgenden Tage vergewisserte sich Frau Waldtraut in eigner Person von der Willfährigkeit der Brüder und der Richtigkeit der eingezogenen Nachrichten; dann bat sie den Prior, dem frommen Bruder Medardus beim Verkauf ihres Schmuckes und allem, was sie sonst noch von Wert besaß, behilflich sein zu wollen. Der alte treue Berater versprach ihr, so rasch als thunlich ihre Einrichtung und ihre Vorräte zu Gelde zu machen. Medardus hatte für solche Fälle seine Leute an der Hand, und so gelang es wirklich, eine zur Reise nach Worms ausreichende Summe zusammenzubringen. Schlitzwang freilich besaß weniger als nichts, denn selbst das Gewand, welches er trug, war ein abgelegtes Kleidungsstück des guten Bruders.

Der Tag der Abreise war angebrochen. Alle drei lebten viel zu sehr in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, um die Wehmut des Abschiedes überhand nehmen zu lassen. Namentlich erging sich die junge Seele des kleinen Gottfried in Hoffnungen und Plänen für die Zukunft, so daß eine trübe 134 Stimmung nicht aufkommen konnte. Bruder Medardus begleitete die Scheidenden bis zum Rande des Waldes, von wo aus das Gebirgsland zum Neckar abfällt und eine weite lachende Gegend sich vor den Augen ausbreitet. Hier würde nun der Augenblick gewesen sein, um in dankbarer Rührung einen Blick rückwärts auf vergangene Tage zu werfen, aber gerade hier trat wieder der stürmische Jubel und das maßlose Entzücken des staunenden Knaben so sehr in der Vordergrund, daß alles andre zurückweichen mußte. Als sie in das Thal hinabstiegen, sah Medardus ihnen noch lange nach, und sie blickten oft zurück und winkten ihm grüßend zu. Ihm war das Leben in der Einsamkeit kein Zwischenfall oder Übergang, sondern Zweck und Ziel, und darum mußte er von jeher darauf gefaßt sein, daß ihm liebgewordene Verbindungen sich wieder lösten und andre dafür sich knüpften.

Lebhaft angeregt und ergötzt durch die tausenderlei Eindrücke, welche Gottfried fortwährend empfing und denen er Worte verlieh, gelangten sie an das erste Dorf am Neckar, wo Schlitzwang vormals mit dem Juden Rast gemacht hatte. Der Wirt erkannte den Fremden nicht wieder, denn er hatte ihn bei dessen Einkehr wenig ins Auge gefaßt und der Sachse trug jetzt die Kutte des Einsiedlers. Die Reisenden bestellten und erhielten zwei Pferde, die natürlich wieder das Staunen des Knaben hervorriefen. Schlitzwang setzte denselben vor sich auf das Roß, und es währte nicht lange, so fand Gottfried das größte Vergnügen am Reiten und begriff rasch alles darauf Bezügliche. 135


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