Johannes Gillhoff
Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer
Johannes Gillhoff

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Jürnjakob, das ist Heimweh!

Lieber Freund! Alle meine Briefe waren Winterbriefe. Nun kommt ein Sommerbrief. Der hat einen dünnen Leib. Wenn du ihn siehst, dann wirst du dich wundern und sagen: Der Alte wird doch nicht krank geworden sein? Denn das ist gegen seine Natur und Angewohnheit. – Es ist keine Krankheit von der Sorte, wobei man den Doktor holt. Aber es ist etwas in mir, das hat mich unruhig gemacht und will nicht untergehen. Da ist was sitzen geblieben. Darum muß ich dir davon schreiben.

Am letzten Sonntagnachmittag saßen Wieschen und ich am Tisch und sprachen über dies und das, wie das so zu gehen pflegt. Und es dauerte nicht lange, da waren wir mit unserm Sprechen wieder im alten Dorf, wie das auch so zu gehen pflegt. Da fiel mir was ein, und ich sagte: Was ist das, Wieschen, und woher kommt das, daß wir mit unserm Sprechen immer so bald im alten Dorf sind? Da hörte Wieschen auf mit ihrem Strumpfstopfen und sah mich still an und sprach: Jürnjakob, das ist Heimweh! – Was soll das sein? – Heimweh, sagt sie und sieht mich wieder still an, Heimweh nach unserm alten Dorf. – Das soll Heimweh sein? Das haben wir doch nie nicht gehabt. Woher soll das nun mit einmal kommen, wo wir hier doch alt geworden sind? Wie kann das Heimweh sein, wenn wir bloß dann und wann von zu Hause reden tun? – Jürnjakob, sagt sie und sieht mich wieder still an, du hast es all die Jahre gehabt und ich auch. – Und das sagt sie so still vor sich hin, als wenn einer abends sagt: Die Sonne geht auch bald unter.

Ich war so verdutzt und erschrocken, daß ich kein Wort mehr sagen konnte. Ich nahm meine Mütze und Vaters eichen Gundagstock und lief ein paar Stunden auf den Feldern rum. Ich sprach zu mir: Jürnjakob Swehn, das soll Heimweh sein? Heimweh ist doch bloß eine Krankheit für die Alten, die hier nicht mehr fest werden können; aber du bist doch bald achtundvierzig Jahre hier. Wie kann einer nach der Zeit und auf seine alten Tage das noch kriegen? – Ich mußte mal stillstehen und mich verpusten. Dann ging ich weiter: Du hast es all die Jahre gehabt und ich auch; so sagt sie. – Da mußte ich wieder stillstehen: Wie kann das Heimweh sein, wo Wieschen doch bei dir ist, und die Kinder sind hier geboren und groß geworden? Du hast hier eigen Hüsung, du hast hier gesät und geerntet auf eigen Grund und Boden. Ich hob meine Augen auf und ging weiter: Wie kannst du da Heimweh kriegen? Du bist hier vorwärtsgekommen und nicht drüben; hier wohnen beinah lauter Landsleute um dich her, und Gottes Sonne scheint hier ebenso gut wie drüben. Wonach sollst du da Heimweh haben? Doch nicht nach dem alten Katen mit seiner Armut oder nach den jungen Gesichtern, von denen du keins mehr kennst?

So fragte ich weiter, und an dem vielen Fragen merkte ich, daß doch was an dem war, was sie gesagt hatte. Und das hatte mit dem Vorwärtskommen hier und mit der Armut in dem Katen dort nichts zu tun. Ich habe mich dagegen gewehrt, aber es war stärker als ich. Das war etwas Inwendiges und nicht in Dollars umzurechnen.

Ich stand wieder still: An dem alten Tagelöhnerkaten hängst du doch mit deiner Seele. Und dann sind da noch die alten Leute. Mit denen hast du als Junge gespielt auf dem Brink, in der Drift, auf dem Plahst und unten im Dannenkamp. Dann seid ihr größer geworden und habt zusammen die Kühe gehütet auf der Guhls und in der Strichel. Und nun sitzen sie in ihrem Dorf hinter dem Ofen oder vor der Tür und schmöken, und wenn sie dich hier sehen könnten, dann würden sie sagen: Nu löppt hei as unklauk dor up sin Feld rüm un trampelt sinen schönen Klewer (Klee) dal. Hei ded ok beter, wenn hei herkem un en beten bi uns sitten güng. Denn künnen wi wedder mal von olle Tieden klöhnen. – Und dann die alten Strohkaten der Bauern. Die stehen da so breit und behäbig und gemütlich wie kein Haus in den Staaten. Was wissen die für Geschichten zu erzählen! Und die Jungen, die nun da aus und ein gehen, ob die wohl nach den Alten schlachten? Und dann erst dein alter Lehrer!

Die Strohkaten und die Menschen sind alt geworden, und du bist auch alt geworden; aber du kannst das Dorf nicht vergessen. Jahr für Jahr ist es lebendiger geworden in dir, und du hast dich ausgeruht bei dem Gedanken an deine Heimat, und manchmal hat es dich ordentlich wieder jung gemacht auf deine alten Tage und auf deine müden Stunden. Da ist etwas, das läßt sich nicht mit den Händen greifen; aber es ist doch da. Land Amerika hat sein Gutes, aber das hat es auch nicht. Es hat keine Zeit, sich zu besinnen. Darum ist es dir inwendig fremd geblieben.

Dann stand ich wieder still: Wenn das Heimweh ist, dann ist Heimweh keine Krankheit. Dann ist Heimweh das Beste, was der Mensch mitnehmen kann von Hause. Dann ist Heimat das Beste, was der Mensch auf Erden hat. Und wenn er Flügel der Morgenröte nimmt oder wenn er über die halbe Erde fährt und an die fünfzig Jahre als Farmer in Iowa arbeitet, er reißt sich doch nicht von ihr los. Sie hält ihn fest wie ein starkes Seil, und keine Macht der Erde bindet mehr, als die Heimat bindet.

Ich ging wieder zurück. Als ich meine Farm liegen sah, da kamen die Fragen wieder. Die Sonne war untergegangen, und ich war müde geworden. Wieschen wartete schon an der Fenz. Sie sprach: Es ist man gut, daß du wieder da bist. Es wird Abend, und da macht man, daß man nach Hause kommt. – Ja, sagte ich und nahm sie bei der Hand, es wird Abend, und da macht man, daß man nach Hause kommt. Aber wo ist unser Zuhause? Ich habe geglaubt, hier auf der Farm, wo du bei mir bist. Aber siehe, nun bin ich in Not und weiß den Weg nicht. – Sie sprach: Hans wird in diesen Tagen das Heu allein reinbringen, es sind ja nur noch die paar Fuder unten am Drifthill. Und du bleibst zu Hause und schreibst in den nächsten Tagen an unsern alten Lehrer. Das Grübeln nützt nichts. – Ja, das will ich tun, das ist ein guter Gedanke. Aber vorher will ich noch in der Bibel nachschlagen, ob da was über das Heimweh steht. – Lieber Freund, ich habe nichts gefunden. So mußt du noch einmal unser Lehrer sein, und wir sind deine alten Schüler. Du mußt uns das mit dem Heimweh ausdeuten und uns den rechten Weg weisen.

Es ist am Ende ganz gut eingerichtet im Leben, daß der Mensch manchmal inwendig einen Puff kriegt, wenn er alt wird. Er muß sich dann sowieso öfter hinsetzen und sich verpusten. Er hat dann auch mehr Zeit, nachzudenken über inwendige Sachen. Wieschen und ich haben das auch schon oft getan, und in den letzten Jahren sind wir manchmal dann so sachte dabei eingeschlafen. Aber diesmal ist es eine inwendige Not, und sie ist groß, und unsre Augen sind alt geworden, und wir wandeln im Dunkeln. So mußt du uns den Weg weisen.


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