Johannes Gillhoff
Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer
Johannes Gillhoff

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Wir haben uns ein schönes, neues Schulhaus gebaut. Das Bild schicke ich dir im nächsten Brief. Die Bänke sind zweisitzig und zum Klappen eingerichtet. Es wurde auch Zeit. Das alte Schulhaus wollte zusammenfallen. Es war unsre alte Blockhauskirche. Die Orgel hatten wir runtergenommen und unten aufgeschlagen. Nun wollte die Nordwand umfallen. Sie dachte: Ich habe lange genug gestanden. Ich bin müde geworden. Ich will mich hinlegen und ausruhen. Die andern Wände dachten auch so. Der Fußboden war wackelig. Die Jungs kannten die Stellen, die am besten quiekten und knarrten. Da traten sie nicht vorbei. Das ist so die Gewohnheit von den Jungs in aller Welt. Die Bretter hatten große Löcher. Die Kinder blieben mit den Füßen darin stecken, und der Lehrer mußte sie wieder loseisen. Dazu brauchte er sein Messer, ein paarmal auch die Axt. Davon wurden die Löcher nicht kleiner.

Der Ofen sprach: Mir wird heiß. Ich will meinen Rock ausziehen. Er knöpfte sich auf. Die Steine waren zehn Zoll, aber dazwischen große Ritzen. Das Feuer war neugierig. Es kuckte in die Stube rein, was die kleinen Kinder da wohl machten. Aber der Rauch sprach: Hier ist es mir zu eng; ich muß mich mal ordentlich ausrecken. Er zog in die Schulstube. Sie war ganz blau. Unser Lehrer hatte keine Schuld. Das Holz war naß und qualmte. Es war mürrisch und knackte. Es sprach: Wo kann ich lustig brennen, wenn ich Wasser im Bauch habe. Die Stube war schon morgens voll Rauch und Qualm. Man mußte zweimal ziehen, wenn man einmal Luft holen wollte. Der Lehrer mußte schon um fünf anheizen. Etliche Kinder wohnen fünf bis sechs Meilen ab. Bei nassem Wetter war nicht durchzukommen. Die Wege waren noch schlimmer als auf Schröders Ecke am Lasen, wo der Weg nach dem Püttberg runtergeht. Die meisten Schüler trugen Gummistiefel. Man bloß, sie blieben oft stecken in der Maratz. Manchmal fuhren wir sie auch hin. Sechs Jahre zurück, da war ein Winter, da hab ich unsre Gören ein paar Wochen lang im Schlitten hingezogen. Ich hab mir das als Jung auch nicht träumen lassen, daß ich auf meine alten Tage in Amerika noch mal Pferd spielen sollte. Aber den Kindern gefiel das. Wenn ich keine Zeit hatte, spannte Wieschen sich vor. War nicht durchzukommen, dann blieben sie zu Hause. Das gefiel ihnen auch. Aber nach und nach ist alles anders geworden und besser. Jetzt haben wir auch feste Straßen.

 

Nun kommt das Beste, was ich dir erzählen will. Solche Freude hab ich lange nicht erlebt. Wer trat da in die Tür, und wer saß da an meinem Tisch? – Siehe, das war dein Enkelkind Magdalene. Wat seggst nu? – Nu stopp di man irst de Piep und sett di orndlich fast in'n Lehnstauhl. – So, nu les man wieder!

Unser Pastor war auf eine andre Stelle verzogen, und sein Nachfolger an Gottes Wort stammt aus dem Priesterhause Serrahn, so dein Ältester seine Frau her hat. Wie das nun so kommt. Kinder sind wie junge Vögel; wenn sie flügge sind, dann fliegen sie aus dem Nest, und sie ist von Bremen gleich nach Amerika geflogen. Hier hat ihr Onkel sie gleich in der Schule angestellt, und das ist mir extra zur Freude geschehen. Man bloß, ähnlich sieht sie dir nicht. Sie sagt, ähnlich sieht sie bloß ihrer Photographie und ihrem Großvater in Serrahn. Na, das schadet ihr weiter nicht in meinen Augen. Sie ist oft zu uns gekommen, und wir haben viel von der alten Heimat gesprochen und von dir.

Sie ist ein rankes, frisches Mädchen, binnen und buten gesund. An ihren Augen sehe ich das. In der Schule hat sie sich bald in Achtung gebracht, und hinter ihrem Rücken hab ich ihr so'n bißchen dabei geholfen. Was ich so bei fünf Meilen rund an Gören traf, zu denen hab ich gesagt: Gnad euch Gott, wenn ihr die nicht lieb habt! – Aber das Beste hat sie doch selbst dabei getan, und Heiligabend bin ich richtig stolz auf sie gewesen. Vorher hab ich sie bloß gern gehabt und leiden gemocht.

Von dem Heiligabend will ich dir erzählen, wo du doch der Großvater über sie bist und draußen viel Schnee liegt. Wir fuhren alle zur Kirche. Unterwegs hab ich viel an die Weihnachtsfeier gedacht, die du den Kindern im Dorf all die Jahre her in der Schule machst. Da kamen die Alten auch, und die Schulstube war proppenvoll, und viele standen noch draußen im Garten. Aber inwendig brannte der Tannenbaum.

Als ich das gedacht hatte, da dachte ich noch was: Siehe, da hinter dem Walde, da macht nun sein Enkelkind die Weihnachtsfeier für die Farmerskinder. Es geht doch nirgend sonderbarer zu als auf dieser Welt. Aber sie ist im fremden Lande, und Mädchens sind manchmal bange. So mußt du ihr ein wenig Trost in ihr Herz hineinsprechen.

Als ich das zu Ende gedacht hatte, ließ ich die Pferde laufen und kam vor den andern an. Da war in ihren Augen wahrhaftig etwas von Angst. So hab ich zu ihr gesagt: Wesen Sie man nicht bange, Fräulein Magdalene. Wir sind hier beinah lauter Meckelbörger, und Sie können sich auf uns verlassen. Und wenn ich hier so vor Ihnen stehe, dann denken Sie man, Ihr Großvater steht vor Ihnen und sieht Sie freundlich an. Der hat uns viel Gutes getan; siehe, so tun wir dir wieder Gutes. Und nun mach man wieder deine blanken Augen. Das mit der Feier, das wird grade so schön als wie zu Hause.

Da hat sie mir die Hand gegeben und gesagt: Das ist ein gutes Wort für mich, und bange will ich auch nicht mehr sein. Man bloß zu Anfang ist das nicht leicht. Darauf hab ich ihr auch die Hand gegeben und gesagt: So mag ick di lieden, lütt Dirn, un nu kiek di hier mal bloß üm! Luter Volk ut Meckelborg, un wi stahn nu hier, un ick bunn in de Eldenaer Kirch döfft und du in de Serrahner. Hest du di dat dunn woll drömen laten, dat wi hier noch beid' tausammen stahn würden an'n Heiligabend. – Da kuckte sie mich ganz ernsthaft an; dann lachte sie und sagte: Nein, das hätte sie sich bei ihrer Taufe wirklich nicht träumen lassen, und es täte ihr leid, daß sie damals nicht daran gedacht habe. Da mußte ich auch lachen, und es war alles gut.

Die Kirche war voll von Menschen. Auch aus dem Town waren viele da. Denn am Weihnachtsabend in der Staatsschule, da ist von Weihnacht nicht viel zu merken. Dafür gibt es lebende Bilder mit bengalischer Beleuchtung und viel albernen Kram und Hokuspokus, der mehr auf den Jahrmarkt paßt und in die Hanswurstbuden. Darum kommen viele zu uns raus, und unsre Feier war eine richtige Weihnachtsfeier. Die Kinder sangen: Ehre sei Gott; Es ist ein Ros' entsprungen; O du fröhliche; Vom Himmel hoch – und all die Lieder, die wir bei dir auch gesungen haben. Dazwischen aus der Bibel die Weissagungen und die Weihnachtsgeschichte. Auch Fragen aus der Schrift und aus dem Verstand. Zuletzt noch Gemeindegesang und eine kurze Ansprache vom Pastor. Aber die Kinderfeier war doch das Haupt, und sie antworteten laut und deutlich, daß es man so schallte.

Lieber Freund, ich kann dir mitteilen, dein Enkelkind hat großes Lob und Dank geerntet von allen Eltern, und das ist gut, denn die Weihnachtsfeier ist hier der Exam für die Lehrerin. Das ist so die Gewohnheit in diesem Lande. Taugt die Feier nichts, dann taugt auch die Lehrerin nichts. Hier aber war lauter Lob, und alle haben sich bei ihr bedankt. Aber als sie zurückkam, da riß der Pastor die Tür weit auf vor ihr und machte eine große Verbeugung, als wenn Teddy seine Tochter da reinkäme, und er sagte zu uns: So fein hab ich mir das selbst nicht gedacht! – Dann fuhren wir im Mondschein wieder nach Hause und waren stolz und glücklich. Und das hat der Mensch gern in seinem Herzen, wenn er da glücklich in sein kann. Erst recht am Heiligabend.

 

Nun will ich weiterschreiben. Nun ist sie fort. Sie ist zu einem andern Onkel gereist. Der ist Pastor in Wisconsin. Bis Ostern wollte sie auch man hierbleiben. Es tut mir leid. Denn es ist ein Unterschied, ob man mit einem großen schönen Mädchen spricht, oder ob man sich mit Pferden und Kühen unterhält. Es ist nicht dasselbe. – Zwischen Neujahr und Ostern hat sie uns oft besucht. Abends fuhr ich sie zurück. Ich hab sie bloß einmal umgeschmissen. Der Schlitten kippte um, weil der Weg schlecht war. Da hat sie sich mit Lachen wieder aufgesammelt und mir ein paar Hände voll Schnee an den Kopf geworfen. Das hat ein alter Mann gern.

Im Schummern saßen wir oft zusammen und erzählten uns was von gestern und heut. Ich am liebsten von gestern. Sie am liebsten von heut. Ich am liebsten von unserm Dorf. Sie am liebsten von hier. So sind wir ganz gut miteinander fertig geworden. So sind wir auch zum Dusagen gekommen, wie das so zu gehen pflegt im menschlichen Leben. Sie hat mich ordentlich Onkel genannt. Sie hat mich dabei angelacht und gesagt. So, nun hab ich ein halbes Dutzend voll. Das sagt sie so, als wenn sie tausend Dollars auf der Sparbank voll hat. – Welches halbe Dutzend? – Das halbe Dutzend Onkels hier in Amerika! – Da haben wir beide gelacht. Sie ist ein verständiges Mädchen und nicht so wie viele im Lande. – Ausbenommen Berti, sagt Wieschen, als ich ihr das vorlese. Das muß wahr sein, Wieschen, sage ich, das will ich ihm gern schreiben. – Es mag auch noch andre geben, aber die meisten haben Flausen im Kopf und warten bloß darauf, daß ihnen ein Mannsmensch in den Weg läuft. Und das kommt bloß von der Liebe, wie sie das so nennen, und da kann kein Mensch was bei tun. Na, unser Herrgott mag die Sorte ja auch wohl gern haben, denn siehe, seine Welt ist bunt.

So haben wir oft über dies Land gesprochen, und ich hab tüchtig gescholten auf dies und das. Da macht sie ihre blanken Augen und meint: Warum bist du denn hergezogen? Es geht dir doch ganz gut auf deiner Farm, und du hast gar nicht nötig zu schelten. Dabei lacht sie mir noch ins Gesicht. So sage ich: Ich will dir mal was sagen, Magdalene. Jeder Deutsche muß was zu schelten haben; sonst fühlt er sich nicht gemütlich in seinem Fell. Sein inwendiger Mensch ist nun einmal so getrachtet. Und warum ich ausgewandert bin, das will ich dir auch sagen. Ich wollte frei werden und eigen Grund und Boden unter den Füßen haben. Nicht bloß ein paar hundert Ruten Pachtland, sondern was zu vererben für die Kinder. Denn es ist dem Menschen eingeboren, daß er eigen Hüsing haben will, und das ist was Gutes, was dem Menschen da eingeboren ist.

Da hat sie nicht mehr gelacht. Sie hat gesagt: Onkel, das ist eine Idee, was du da von der Freimachung sagst, und das gefällt mir. Ich sage: Ob das eine Idee ist, weiß ich nicht. Ich mag die fremden Wörter nicht leiden, wenn ich mir nichts dabei denken kann. Mit einer Idee, wie du das nennst, bringe ich es auch nicht zu einer Farm. Der Weg geht durch viel Arbeit. Aber gerade der kleine Mann, der Tagelöhner, wird hier eher selbständig als drüben. Weil die Deutschen hier scharf arbeiten und das Land hochbringen, darum gelten sie auch was in den Staaten. Wir könnten hier noch mehr gelten; aber da sind etliche, wenn die rüberkommen, dann verachten sie ihr altes Land und wollen nichts mehr von ihm wissen. Es muß wohl erst eine Zeit der Not oder ein Jahr des großen Zorns für die Amerikadeutschen kommen. Dann werden sie sich mehr zusammenschließen. Dann werden sie auch mehr gelten in den Staaten und im Weißen Haus.

Es gibt ja Leute, die gehen leichter durchs Leben, wenn sie ihre Erinnerungen über Bord werfen und ihren deutschen Rock an den Nagel hängen. Mir geht das nicht so. Vielen andern auch nicht. Wir tragen alle etwas Erde aus unserm Heimatdorf in den Stiefeln mit uns. So lange, bis wir sie ausziehen. Der eine Sand, der andre Lehm. Das macht unsern Gang hier nicht leichter; aber ich möchte die Heimaterde an meinen Stiefeln nicht missen.

So ungefähr hab ich zu ihr gesagt, und sie hat ganz nipping zugehört und genickköppt. Das hast du gut gesagt, Onkel; aber darum bist du doch gut vorwärtsgekommen im neuen Lande. – Darum doch? Ne, Kind, grad darum und deswegen. Jetzt geh ich hier auf breiter Erde, aber zu Anfang war es man ein schmaler Steig. Ich bin mein Leben lang durch tiefen Sand und schweren Lehm gegangen, und davon kriegt man einen schweren Schritt und langsame Gedanken. Aber man ackert sein Leben und seine Gedanken auch ganz anders durch, als wenn man so die Chaussee langtrödelt. Hier im Lande ist das Korn ja bloß eine Handelsware. Aber aus der Heimat und aus meinem Anfang her weiß ich, wieviel Schweiß und Arbeit in ein Brot hineingebacken ist. Vom Pflügen und Säen an bis zum Mähen, Dreschen und Backen. Und daß ich das in meinem Herzen weiß, das hab ich der Heimat zu verdanken.

Mit das Beste in meinem Leben ist doch die alte Heimat. Sie war arm und hart für mich, aber der Gedanke daran ist mir wie die Ruhe am Feierabend. Tagsüber bei der Arbeit hab ich keine Zeit dazu, aber für die Schummerstunde ist das gut. Da kann man auch besser in sich hineingehen als am hellen Tage. – So ungefähr hab ich in den Wochen zu ihr gesagt, und so sage ich es auch zu dir.

Sie meinte noch: Onkel, dann wirst du auf deine alten Tage wohl in dein Dorf zurückkehren und dich da zur Ruhe setzen?

Ne, das werde ich darum doch nicht tun, denn das Dorf und die Menschen sind heute nicht mehr die alten. Ich aber will das alte Bild in meinem Herzen festhalten. In die Stadt ziehen will ich auch nicht, wenn ich meine Farm abgebe. Erst recht nicht nach Chicago. Da laufen die Menschen wie verrückt durcheinander. Ich wollte da nicht wohnen. Zu viel Erde an den Stiefeln, das ist nichts für die Stadt. Da ziehen die Menschen alle paar Mond oder alle paar Jahre um in eine andre Straße. Die Häuser, die Gesichter, die Nachbarn, die Handwerker – das wechselt alles, wie wenn der Mensch sein Hemd wechselt. Dabei können auch die Kinder nicht fest werden.

Siehe, das ist auch ein Grund, warum ich am alten Dorf hänge. Wo der junge Diehn heut auf der Guhls mäht, da hat sein Großvater auch schon die Sense geführt, und die Kinder von dem jungen Saß spielen in demselben Strohkaten, in dem schon der Urgroßvater als kleiner Jung in der Wiege gelegen hat. Friels Kinder schütteln die Äpfel von den Bäumen, die der Großvater pflanzte, und die Störche, die nun bald wieder auf Brünings Haus klappern, sind wohl die Nachkommen von dem Adebar, zu dem der Alte sich schon als Kind gefreut hat so bei 1800 rum. Ich hab ihn noch so eben gekannt. Und du – du lehrst heute noch die Kinder in demselben Dorf, in dem schon dein Vater und dein Großvater als Lehrer arbeiteten, und das Amt ist auch schon über hundert Jahre in der Familie.

Ich kann dir das nicht sagen, wie ich das richtig fühlen tu in meinem Herzen; aber du wirst mich wohl auch so verstehen. Das ist es, was uns hier fehlt. Was hier seine zehn Jahre im Lande sitzt, das ist schon eine sehr lange Zeit. Hier wachsen keine Geschichten und Erinnerungen aus alter Zeit, die mit unsern Vätern und mit der Erde unter unsern Füßen verbunden sind. In unsern Städten wachsen sie erst recht nicht. Es mag sein, daß zu viel Erinnerungen auch vom Übel sind, ebenso wie zu viel Ballast. Das gilt auch wohl für ein ganzes Volk. Wer vorwärts will, der muß helle Augen haben, der darf nicht zu viel über den Rücken sehen, der muß sich mal gründlich über die Augen wischen und alten Staub wegwischen. Das gilt auch wohl für ein ganzes Volk. Wer vorwärts will und siegen will, der muß jung sein und Glauben haben. Wenn man alt ist, siegt man nicht mehr. Dann ruht man sich aus bei seinen Erinnerungen. Aber mir sind meine Erinnerungen etwas Schönes und Heiliges.

Siehe, das sind alles solche Gedanken, die im Schummern aus den Winkeln und Ecken der Stuben und des Herzens aufsteigen. Darauf borgt mir hier keiner einen Cent. Man sagt so was auch selten, und wenn man es sagt, dann kommt es verdwas heraus. Mit der Feder geht es auch man ungeschickt. Ja, so sünd de Meckelbörger: dat Best seggen sei meist nich, und wenn sei dat doch seggen, denn is dat gewöhnlich tau lat, odder sei kamen dormit verdwas tau Platz. Meiner alten Mutter sagte ich so was auch mal in den Tagen, als es mit ihr zu Ende ging. Da hat sie mich mit großen und merkwürdigen Augen angesehen. Wenn ich heute daran denke, muß ich sagen: es waren hungrige Augen. Aber dann stieg mir was in der Kehle rauf, und ich konnte ihr man bloß über ihre Backe straken und über ihre Hand. Na, sie hat mich doch wohl verstanden, denn es war meine Mutter. Es ist eben so: Inwendige Sachen behält der Norddeutsche meist für sich.

Ich mußte das mal auspacken. Das ist alles lebendig geworden durch dein Enkelkind, wo ich nun Onkel über bin. Und weil noch Frost in der Erde sitzt und ich grade beim Auspacken von solchen Sachen bin, die man sonst nicht leicht aus seiner Kommode vorholt, so will ich aus der untersten Schublade auch noch was rausholen. Das sind die alten, frommen Lieder, die wir bei dir in der Schule gelernt haben. Siehe, sie sind mit uns über das große Wasser gefahren. Auf dem Ochsenkarren sind sie mit uns in den Busch gezogen, und im Blockhaus haben sie bei uns gewohnt. Sie sind verdeckt gewesen unter Schweiß und Arbeit, aber sie sind wieder aufgewacht. Sie sind mit uns ins neue Haus gezogen, und jetzt spielen unsre Kinder sie auf der Orgel, und wir singen sie abends zur Andacht. Ach, Herr, laß dein lieb Engelein – weißt du, was so hoch anfängt! Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden. Schreib meinen Namen aufs beste. Laß mich diese Nacht empfinden. Soll diese Nacht die letzte sein – und die andern all. Und unsere Kinder beten auch die alten Verse, die wir in der Schule gebetet haben.

Lieber Freund, ich kann dir mitteilen, wenn wir das hier so singen und beten tun, dann geht mir das manchmal ganz sonderbar. Dann mach ich bloß die Augen zu, und dann bin ich nicht mehr in Amerika als alter Farmer mit müden Knochen. Dann bin ich wieder ein kleiner Jung, und wir sitzen bei dir in der Schule auf den langen Bänken und singen die Lieder nachmittags vier Uhr, wenn die Winterschule aus ist. Und ich sehe die ganze Schulstube vor mir. Es wird schon dunkel in der Stube. Die Fenster sind beschlagen, daß die Tropfen runterlaufen. Die Wände sind auch beschlagen, und links in der Ecke steht der braune Kachelofen. Hinter dem Pult hängt die schwarze Wandtafel, und du stehst davor und siehst auf uns, und wir sehen auf dich. Aber an den Wänden hängen viele Bilder und die Kränze und Girlanden vom letzten Weihnachten her. Das sehe ich alles ganz genau, als wenn ich das mit meinen Händen greifen kann. Und das ganze Bild wird wieder lebendig bloß von dem Singen der alten Lieder, und es ist doch schon viele, viele Jahre her. Ist das nicht sonderbar?

Wieschen sagt das auch. Sie sagt, ihr geht das grade so. Als sie bei euch diente, da habt ihr die Verse abends zur Andacht gesungen, und wenn wir sie nun hier so singen, dann sieht sie eure ganze Stube: oben rechts auf dem Bücherbord das Andachtsbuch, das sie dann runterholte. Neben dem Sofa steht die große Wanduhr mit den roten Rosen auf dem Zifferblatt. Links der Schrank mit den grünen Gardinen, aber am Fenster dein Schreibtisch. So malen ihr die Verse beim Singen die ganze Wohnstube aus und euch mit euren Kindern darin. Es mag ja sein, daß die Verse heut nicht mehr so recht gelten bei dem jungen Volk, wie es jetzt ist. Aber wir vergessen sie nicht. Wir sorgen auch dafür, daß unsre Kinder sie nicht vergessen, sondern sie lieb und wert halten. – Un nu will ick de Schuwlad' man wedder rinschuwen, und den Slätel stek ick in de Tasch.


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