Otto Gildemeister
Essays - Erster Band
Otto Gildemeister

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Der Kampf gegen die Fremdwörter

(1886)

I.

»Gebrauche nie ein Fremdwort, wenn du es durch ein gutes deutsches Wort ersetzen kannst.« So lautet heute das Gebot der gemäßigten Sprachreiniger, nachdem bei näherer Überlegung sich doch herausgestellt hat, daß der Kampfruf der Fanatiker: »Weg mit allen Fremdwörtern!« Unmögliches begehrt. Die Regel, wie sie heute aufgestellt wird, wäre sehr zu loben, wenn es feststände und für jedermann deutlich wäre, welche Fremdwörter denn durch deutsche ganz und gar vertreten werden können. Im Grunde bedeutet die Regel nicht viel mehr als: »Schreibe wie ein guter Schriftsteller schreiben würde«, oder »wende immer den besten Ausdruck an, der sich für deinen Gedanken darbietet«. Wenn ein guter Schriftsteller ein Fremdwort vorzieht, so hat er gewiß einen guten Grund dafür; er findet, daß es seinen Gedanken am klarsten ausdrückt oder daß es dem Ausdruck gerade die gewollte besondere Färbung verleiht oder daß es Ideenreihen mitvibrieren läßt, von denen er wünscht, daß sie gerade jetzt mitvibrieren sollen. Er wählt zwischen fremden und einheimischen Worten genau nach demselben Prinzip, nach welchem er auch zwischen mehreren deutschen Worten wählt: »Beherrschet alles und verwendet das Beste.« Das Prinzip zu lernen ist leicht; die Schwierigkeiten und Zweifel beginnen bei der Anwendung. Da tritt der Schulmeister zurück, und die Leitung geht über an das eigene Urteil, den eigenen Geschmack. Über das Prinzip sind so ziemlich alle einig, der Streit fängt erst an, wo es sich um den besonderen Fall handelt. Und gerade da läßt jene allgemeine Regel uns im Stiche.

Über das Prinzip sind wir einig; ohne besondere Nötigung sollen wir nicht borgen. Gleichwohl besteht eine Art von Parteiung in der literarischen Welt (zu der ich hier auch die Leser rechne), eine Parteiung, welche immer noch auch die gemäßigten Puristen von der Mehrzahl der Praktiker, das heißt der Schriftsteller, und der naiven Leser trennt. Auf der einen Seite ist, bei aller Mäßigung, Feindseligkeit und Abneigung gegen die eingewanderten Fremdlinge das vorwiegende Gefühl; auf der andern Seite herrscht die Duldsamkeit vor. Ich für meinen Teil neige mich mehr auf die letztere Seite, wennschon ich zugebe, daß die Duldsamkeit häufig zu weit geht und daß sie in Schranken zu halten nützlich ist. Was ich an den Puristen auszusetzen habe, ist zweierlei: erstlich, daß sie das Vermögen der deutschen Sprache überschätzen und im Grunde ihres Herzens meinen, wir könnten, wenn wir nur ernstlich dahin strebten, sehr wohl ohne alles Borgen auskommen; zweitens daß sie lehren, das Borgen, wenn auch zur Zeit durch die Not entschuldigt, sei doch an sich verwerflich, eine Versündigung an der nationalen Ehre, eine Untugend, deren kein stolzes und selbstbewußtes Volk sich schuldig mache, deren wir Deutschen uns mithin gründlich zu schämen hätten. Beides scheint mir ein Irrtum und eine Übertreibung, und ich möchte die Gründe vortragen, auf die meine Ansicht sich stützt.

Wer das Borgen verteidigt, nimmt deshalb keineswegs das leichtsinnige Schuldenmachen in Schutz. Die verwerflichen Anleihen, welche in wüster Jugendroheit die Trägheit und die Renommisterei aufgenommen haben, sind nicht auf gleiche Linie zu stellen mit der Benutzung fremden Kapitals, die dem gereiften Manne die volle Entfaltung seiner Kräfte erleichtert. Die geschmacklose Sprachmengerei, die im siebzehnten Jahrhundert in unserer Literatur vorherrschte, gebe ich ohne weiteres der Verdammnis preis, wie alle anderen häßlichen Erscheinungen der damaligen Verwilderung und Zerrüttung. Ich rede von der Gegenwart, von den Zuständen, wie sie seit dem Auftreten unserer Klassiker sich herausgebildet haben. – Wie steht es um die Sprache Deutschlands in unserem Jahrhundert?

Der erste Blick lehrt, daß diese Sprache von zahlreichen aus der Fremde eingeführten Worten durchsetzt ist. Ein Irrtum aber ist es, zu glauben, daß dies eine Eigentümlichkeit Deutschlands sei. Vielleicht sind wir minder sparsam und minder geschmackvoll in der Verwendung erborgten Gerätes; in der Hauptsache, in der Aneignung ausländischer Hilfsmittel, folgt unsere Sprache nur dem Beispiel, das die anderen modernen Nationen gegeben haben.

Freilich, wer sich einbildet, jedes Wort, das im französischen Dictionnaire stehe, sei ein französisches Wort, der wird nicht begreifen, wie man den Franzosen umfänglichen Gebrauch von Fremdwörtern zuschreiben könne. Allein im französischen Dictionnaire stehen zu Hunderten, vielmehr zu Tausenden nichtfranzösische Wörter, namentlich griechische und lateinische, lediglich deshalb, weil sie in Frankreich gebraucht werden, Begriffe zu bezeichnen, für die es in der Landessprache an Ausdrücken fehlt. Auf einem einzigen Blatte der »des deux mondes« fand ich folgende nichtfranzösische Wörter: le diocèse, dogmatique, hypocrisie, problème, économie, physiolgique, philosophique, la métaphysique, apoligie, éphémère, la postulat, sidéral, phraséologie, stoïcien, caractères, idées, scientifique, critique, puéril, virilité. Daß die griechischen unter diesen Vokabeln in Frankreich ebensowohl wie in Deutschland Fremdlinge seien, wird man nicht bestreiten, und man wird zugeben, daß solche Vokabeln massenweise in guten französischen Schriftstellern vorkommen. Dagegen wird vielleicht mancher die lateinischen Wörter, wie sidéral, scientifique, postulat, puéril, virilité, als echt französische ansprechen, weil ja das Französische aus dem Lateinischen herstamme. Allein mit diesen lateinischen Wörtern verhält es sich doch etwas anders. Sie stammen nicht, wie die eigentlichen französischen Wörter (wie père, mère, sœur und fils, wie nître, vivre, aimer und mourir), sondern sie sind entlehnt aus der lateinischen Sprache, zu einer Zeit, als die letztere bereits abgestorben, die französische bereits fertig war. Nicht auf dem Wege volkstümlicher Entwicklung sind sie aus dem Provinzialdialekt der römischen Gallier oder gallischen Römer in die Landessprache übergegangen, sondern aus den lateinischen Büchern haben gelehrte Männer sie ausgelesen und in den Schulen ihren Landsleuten in Frankreich gedeutet und beigebracht. Auch irrt man, wenn man meint, der Franzose fühle den ausländischen Ursprung solcher Wörter nicht; die Stammesverwandtschaft habe ihre völlige Verschmelzung mit dem einheimischen Sprachschatze erleichtert. Die dem Latein unmittelbar entlehnten Wörter tragen deutlich das Gepräge ihrer Herkunft, während dies Gepräge sich bei den »gewachsenen« Wörtern verwischt hat. Die unbewußte Sprachbildung machte aus magister maître, aus cavallus cheval, aus canis chien; die klassische Form ist ganz aufgelöst und umgestaltet. Die Lehnwörter bewahren die klassische Form; nur die Endung ist französisch zugestutzt. Auch stehen sie meistens in gar keiner Beziehung zu dem echtfranzösischen Sprachschatze da, wie Eingewanderte, ohne Vettern und Verwandte im Lande. Virilité z. B. ist an sich dem Franzosen ebenso unverständlich wie dem Deutschen; seine Muttersprache lehrt ihn nicht, daß vir Mann, virilis männlich heißt. Ebenso sidéral und puéril. Keine sidera stehen am Himmel Frankreichs, und kein französischer Junge heißt puer. Ein Gelehrter hieß von je dem französischen Volke un savant, ein »Wissender«, ganz in naivem Volkston. Aber den abstrakten Begriff der Gelehrsamkeit hat die Volkssprache nicht ausgeprägt; als man für ihn ein Wort brauchte, holte man es aus den lateinischen Büchern, érudition. Wörter dieser Art sind dem nichtlesenden Volke noch heute fremd, es vermag sich nichts dabei zu denken. In der Schriftsprache sind sie zwar völlig eingebürgert, aber ihre allzuhäufige Wiederkehr verletzt gleichwohl den feineren Geschmack, ähnlich wie bei uns die Menge der Fremdwörter. Und ebenso wie wir durch unrichtigen Gebrauch von Fremdwörtern komische Wirkungen erzielen, bedienen sich zu gleichem Zwecke französische Witzblätter und Possendichter jener gelehrten Wörter lateinischen Ursprungs, der beste Beweis, daß das Gefühl für den Unterschied zwischen dem Einheimischen und dem Erborgten noch lebendig ist und noch augenblicklich, ohne Überlegung, operiert. Als vor einiger Zeit viel von der Auflösung der Deputiertenkammer die Rede war, fragte im Charivari ein alter Bauer einen jungen, was denn eigentlich die dissolution sei, und der junge antwortete: »Der Herr Pfarrer sagt, das sei, wenn wir abends hinter die Hecken gingen.«

Mit der Reinheit der englischen Sprache ist es nicht anders. Dem Wortschatze, den die germanischen und die normannisch-französischen Eroberer zusammengetragen und mit unverkennbarem Stempel bezeichnet haben, fügten die Gelehrten der späteren Jahrhunderte Tausende von Fremdwörtern hinzu, lateinische, griechische, französische, Fremdwörter, die nicht den sächsisch-normannischen Stempel tragen, die vielmehr von der Volkssprache deutlich sich abheben, wie von einer gotischen Kirchenmauer die hineingearbeiteten antiken Fragmente. Wer zu gebildeten Lesern oder Hörern spricht, gebraucht solche Fremdwörter ohne Bedenken, aber der durchschnittliche Engländer hat vor ihnen den Respekt, den das Unbegreifliche dem Menschen einflößt. Sie imponieren ihm, aber er gebraucht sie nicht, oder, wenn er es tut, falsch. Die Politik hat ihm einen ungefähren Begriff von monarchy, aristocracy, democrasy u. s. w. beigebracht, redet man ihm aber von coagulability, concatenation, decrepitude, evolation, myopy, obesity, prevarication wird er kaum merken, daß man englisch mit ihm spricht. Wenn er's merkt, wird er denken »hang these foreign terms!« Und auch den literarisch gebildeten Engländer muten solche Wörter als Fremdlinge an. Aber er verpönt sie deshalb nicht blindlings, sondern nur da, wo sie sich anmaßlich an die Stelle eines echt englischen Worts, a good Saxon word, drängen. Man tadelt an Gibbon, an Dr. Johnson u. a. die Vorliebe für vielsilbige Wörter romanischen Ursprungs; man rühmt »das reine Englisch«, das heißt die sparsame Verwendung solcher lateinischen Einwanderer, an Milton und an der Bibelübersetzung; aber man ist nie auf den Gedanken gekommen, daß man, um gutes Englisch zu schreiben, sich aller seit Chaucer eingeführten gelehrten oder eleganten Ausdrücke zu enthalten habe. Am allerwenigsten hat man jemals aus einer Frage des Geschmacks eine Frage nationaler Gesinnung gemacht. Wie wäre es auch möglich gewesen, den stockenglischen Doktor Samuel Johnson der Ausländerei zu bezichtigen? In der komischen Literatur Englands, von Shakespeare bis zum »Punch«, spielt die mißbräuchliche und die mißverständliche Verwendung der Fremdwörter eine große Rolle, aber immer tritt dabei nur die lächerliche Seite der Sache zu Tage; nie vernimmt man den Ton patriotischer Entrüstung. Die patriotische Entrüstung ist eine Eigentümlichkeit Deutschlands, die Sache selbst nicht. Ein gleiches geistiges Bedürfnis hat allen Völkern das gleiche Mittel des Borgens an die Hand gegeben, in verschiedenem Maße, das gebe ich willig zu.

Wie kommt denn ein Volk überhaupt dazu, die Dinge mit Wörtern einer anderen Zunge zu benennen? Seine eigenen sind ihm doch bequemer und verständlicher. Wenn sie ihm das Mittel bieten, ohne Beschwer seine Gedanken mitzuteilen, so fehlt jeder Anlaß, sie mit fremden, schwierigen Lauten zu vertauschen. Der regelmäßige Hergang besteht aber keineswegs in solchen Vertauschungen; das fremde Wort rückt nicht an die Stelle eines einheimischen, sondern es setzt sich fest an einem Platze, der bis dahin leer war. Die fremden Wörter wandern ein mit den fremden Dingen.

Alle europäischen Völker mit Ausnahme der Hellenen haben einen erheblichen, vielleicht den erheblichsten Bestandteil ihrer Kultur von außen her empfangen und während der christlichen Ära das Empfangene gemeinschaftlich, unter Vermittlung einer allgemeinen Schulsprache, später auch des Französischen, weiter gebildet. Zuerst lernten sie eine Menge neuer Gegenstände und Begriffe von den Römern, hernach eins vom anderen kennen. Für alle diese neuen Dinge neue Namen zu erfinden, war der Sprachtrieb nicht im stande, oder, wenn er es war, so fühlte er sich zu eigener Zeugung nicht angeregt, weil es einfacher und leichter schien, das Ding so zu nennen, wie der ausländische Lehrer es nannte. Von einem sprachlichen Selbstgefühl wußte die barbarische Unbefangenheit nichts. Sie nahm das fremde Wort, machte es sich mundgerecht durch Ausstoßung unbequemer Laute, durch Abwerfung der Flexionssilben und behandelte es hinfort ganz und gar wie ein eingeborenes. Auf diesem Wege haben unsere Vorfahren eine große Anzahl lateinischer und griechischer Wörter der deutschen Sprache so einverleibt, daß man den fremden Ursprung kaum mehr erkennt, wie z. B. die Namen aller Obstarten mit Ausnahme des Apfels, die Bezeichnungen der kirchlichen Ämter vom Papst bis zum Küster und viele andere. Die ersten Versuche einer wirklichen Verdeutschung machte man mit den neugelernten abstrakten Begriffen, und auch dabei ging man nicht von Abneigung gegen das Fremde aus, sondern vom praktischen Bedürfnisse. Es kam darauf an, den Barbaren die kirchlichen Lehren deutlich zu machen, und dies konnte offenbar nur geschehen, wenn man die darin enthaltenen Begriffe in die Sprache der Barbaren übertrug. Seltsam genug mögen anfänglich den Goten und Franken diese Neubildungen, gewöhnlich peinlich genaue Übersetzungen des lateinischen Ausdrucks, geklungen haben, aber unter dem mächtigen Einflusse der Kirche lernten sie dieselben gebrauchen und verstehen. Wir im neunzehnten Jahrhundert benutzen manches Wort, das ein Ulfilas oder ein Columban einst mühsam geprägt haben, um ihren wilden Zeitgenossen einen Gedanken der Apostel zugänglich zu machen. Für unsere Sprache ist dieser Verlauf der Sache vorteilhaft gewesen. Eine derartige Bereicherung des Wortvorrats aus einheimischem Material war nur möglich unter der dreifachen Voraussetzung, daß die fremden Wörter wegen der niedrigen Bildungsstufe des Volkes unbrauchbar, die Verdeutscher sehr einflußreich und ihre Jünger sehr willig waren, die Neuerungen anzunehmen. Man denke sich – per impossibile – das Christentum wäre tausend Jahre später, etwa zur Zeit Friedrichs des Großen, unter den Kulturverhältnissen des achtzehnten Jahrhunderts zu uns gekommen: ist es nicht mehr als wahrscheinlich, daß wir uns nicht erst die Umstände gemacht hätten, die religiösen Kunstausdrücke (wenn wir so sagen dürfen) zu verdeutschen, sondern mit den einmal überlieferten lateinischen uns würden begnügt haben, wie wir es mit den politischen Kunstausdrücken getan haben, darauf vertrauend, daß, wer sich für die Sache interessiere, auch die Terminologie bemeistern werde? Wir würden von Konversion, Justifikation, Regeneration, Mediator, Karitas, Karnalität und Resurrektion reden, wie wir konservativ, liberal, Reaktion und Absolutismus sagen. Warum haben die politischen Apostel die Arbeit des Übersetzens verschmäht, der die kirchlichen Apostel so viel Sorgfalt zuwandten?

Dies führt uns geradeswegs zur Sache. Wenn ein Volk auf schon vorgeschrittener Bildungsstufe, ausgerüstet bereits mit literarischen Mitteln und Gewöhnungen, in Schulen eingeübt auf Aneignung neuen Stoffes, plötzlich mit einer noch höheren Bildung zusammentrifft, einen weiteren Gesichtskreis gewinnt, neue Anschauungen und Begriffe auf sich eindringen sieht, so wird ein solches Volk zunächst bemerken, daß seine eigene, von all dem Neuen nichts ahnende Sprache ihm die Mittel versagt, die fremden Begriffe zu bezeichnen und mit ihnen zu operieren. Nun wäre es ja denkbar, das Volk machte es wie die Apostel des frühen Mittelalters und fertigte zuvörderst deutsche Ausdrücke für den fremden Inhalt an. Aber mittlerweile, bis das Glossarium fertig wäre, könnte doch der Inhalt nicht unberührt liegen bleiben. Er vor allem fesselt ja die Gemüter; an ihm liegt ja weit mehr als an der Namengebung. Man wird sich also augenblicklich mit dem Inhalt beschäftigen, ihn studieren, überdenken, weiter mitteilen, erläutern, vielleicht vertiefen, alles das vorläufig und notgedrungen mit Hilfe der fremden Wörter, für welche ein Ersatz noch nicht gefunden ist. Angenommen nun selbst, der Ersatz würde nach einigen Jahren gefunden, und es würde (was sehr wahrscheinlich ist) allgemeines Einverständnis darüber erzielt, so würde doch inzwischen die fremde Terminologie durch den Gebrauch sich so eingelebt haben, daß alle Welt sich gegen ihre Abschaffung sträuben würde. Wort und Gedanken wären bereits zusammengewachsen; sie wieder trennen wollen, hieße einen Umdenkungsprozeß fordern. Und wer stände dafür ein, daß Leser und Hörer bei dem neugemünzten Worte genau und ebensoschnell das nämliche denken werden wie bei dem gewohnten fremden, welches gerade als fremdes, durch den bloßen Klang, ankündigt, daß es in einem scharf begrenzten Sinne verstanden sein will? Wahrscheinlich hat in diesem Falle das einmal rezipierte Fremdwort vor dem deutschen Ersatzworte gewisse »nützliche Eigenschaften« voraus, die ihm im Kampfe ums Dasein den Sieg verschaffen.

Geschichtlich ist die Einbürgerung der Fremdwörter so vor sich gegangen, daß von einem Kampfe um das Dasein gar nicht zu reden ist. Sie haben sich festgesetzt, ohne auf Widerstand zu stoßen; erst nachdem sie lange Zeit in unserer Mitte gewohnt hatten, ist jener Versuch, den ich oben als Hypothese verwertet habe, wirklich gemacht und von Zeit zu Zeit wiederholt worden. In patriotischen Vereinen und in sinnreicher Abhandlung ist auf die Reinigung der Sprache eifrig und nachdrücklich hingewirkt worden, aber es hat wenig gefruchtet. Und das ist begreiflich genug. Die Ärzte irrten sowohl in der Diagnose als in der Wahl der Heilmittel. Sie hielten, irregeleitet durch ihren Eifer für deutsche Ehre, eine durch geschichtliche Entwicklung herbeigeführte Erscheinung an sich für krankhaft, während in der Tat nur ein krankhaftes Übermaß in Betracht kam. Und sie glaubten durch lehrhafte Abhandlungen und tote Verzeichnisse bekehren zu können, wo nur das lebendige Beispiel auf den lebendigen Trieb wirken kann.

II.

Wie es zugeht, daß unter gewissen Umständen das fertig geprägte Fremdwort in Umlauf kommt und darin sich behauptet, habe ich zu erklären versucht. Es verhält sich damit wie mit ausländischen Groschen, wenn die Landesmünzanstalt zu langsam oder für den Verkehr unzweckmäßig arbeitet. Die ausländischen Groschen gehen von Hand zu Hand und sind hernach schwer zu verdrängen. Am schwersten, wenn die Landesmünzstätte nicht nur langsam, sondern auch schlecht arbeitet, plumpe Stücke mit grobem Gepräge. Da zieht man die sauberen fremden Geldstücke, die alle Welt schon gewohnt ist, vor. Die deutschen Wortprägeanstalten haben meistens ungefällige Arbeit geliefert und deshalb wenig Erfolg gehabt. Fragt man nach den Ursachen dieses Mißlingens stets erneuter Bemühungen, so ergibt sich, glaube ich, die Antwort, daß um die Zeit, wo die Sprachreiniger zuerst auftraten, die Triebkraft der Sprache selbst bereits zu schwach geworden war, um zu leisten, was man von ihr erwartete.

Der sprachbildende Trieb, welcher wie die Natur unbewußt seine wundervollen Werke schafft, schwächt sich ab, wenn die geistige Kultur steigt, wie alle Instinkte schwächer werden, je stärker das überlegungsfähige Bewußtsein sich entwickelt, und absterben, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Daher erklärt sich die sonst unbegreifliche Tatsache, daß die Sprachen regelmäßig die höchste Stufe ihrer Entwicklung hinter sich haben, wenn die Völker, die sich ihrer bedienen, sie künstlerisch oder wissenschaftlich zu verwerten anfangen, und daß bei reicherer Begriffsentfaltung und geistiger Verfeinerung eine allmähliche Vergröberung ihres Organismus sich einstellt. Seine großen Schöpfungen hat der Genius der Sprache sämtlich im Dunkel der Urzeit vollbracht: die Entstehung der Wurzelwörter, die Ableitung der Sprachstämme, Äste und Zweige, Fasern und Fäserchen aus jenen, die Bildung der Redeteile, die Flexion der Verba, Substantiva und Adjektiva, die Gesetze der Syntax, alles das, ein von tiefer Logik geordneter, von hoher Zweckmäßigkeit geleiteter Bau, steht fertig da, ehe die Geschichte beginnt. Die vollkommenste Sprache, grammatisch betrachtet, ist auch die älteste, das Sanskrit, und innerhalb der einzelnen Sprachen ist wiederum die ältere Form die vorzüglichere. Die attische Mundart, in welcher Sophokles schrieb und Demosthenes redete, zeigt dem Forscher fossile Reste untergegangener feinerer Sprachformen. Aus den Bruchstücken der gotischen Bibel erkennen wir, daß die germanischen Barbaren der Völkerwanderung sich im Besitze einer Sprache befanden, mit der verglichen die Sprache Goethes und Schillers, was Reinheit, Feinheit und Fülle der Laute und Formen betrifft, arm und kümmerlich erscheint. Schritt für Schritt beinahe vermögen wir es zu verfolgen, wie neben der Geschichte dieser Barbaren, aufwärts zu immer höherer Kultur, zu Bürgertum und Rittertum, zu Reformation und Gelehrsamkeit, zu erhabener Dichtung und tiefsinniger Weltbetrachtung, eine Geschichte der Sprache, abwärts zu immer flacherer Dürftigkeit und Verschwommenheit der Formen, einhergeht, wie das Ohr und die Zunge stumpf und immer stumpfer werden, das Sprachgefühl schwächer, der Schönheitssinn unzuverlässiger.

In den Jahrhunderten, wo die deutschen Stämme zuerst mit der antiken Welt und dem Christentum in Berührung kamen, war in ihnen der Sprachinstinkt, der ja seine höchste Aufgabe bereits erfüllt hatte, nicht mehr mächtig genug, für alle die fremdartigen Dinge, die sich dem erstaunten Blicke zeigten, neue Namen zu schaffen. Wohl aber besaß er noch die Fähigkeit energischer Assimilierung. Er entlehnte das römische und das griechische Wort, aber er schmolz es um und machte es deutsch von Klang und Gepräge. Fenster, Kammer, Keller, Estrich, Pflaster, Kloster, Münster, Kirche, Pfalz, Pflaume, Birne, Kirsche, Kohl, Pappel, Abt, Mönch, Priester, Propst, Bischof, Kelch, Kreuz, Messe, Predigt, – in den Wörtern dieser Art sieht man noch das fremde Metall schimmern, aber ein deutscher Stempel hat sie mit scharfem Schlage in unser Eigentum umgewandelt. Man fühlt, daß sie nicht in der Stube des Gelehrten zurechtgefeilt wurden, sondern daß sie aus der Werkstatt einer noch lebendigen, sicher stilisierenden Naturkraft hervorgingen. Wie würden jene Wörter wohl aussehen, wenn es unserem Geschlechts zugefallen wäre, sie bei uns einzuführen? Wir würden vermutlich von Monasterien, Palatien und Claustren, vom Herrn Präpositus und Episkopus, von Calicen und Prädikationen sprechen.

Der Trieb zu assimilieren ist ein Teil des Sprachinstinkts; wie dieser stirbt er ab auf den höheren Stufen bewußten Geisteslebens, wenn auch später. Wir können sein Walten noch in das spätere Mittelalter, immer seltener werdend, verfolgen; ganz vereinzelt zuckt er vielleicht auch in unseren Tagen noch auf, aber seine wahre Kraft ist erloschen seit vierhundert Jahren. Die alten Deutschen vermochten das römische scribere in ein deutsches »schreiben« (noch dazu mit starker Konjugation) umzugießen, wir können nicht einmal das englische to strike, Bein von unserem Bein, bewältigen, da es doch nur in »streichen« umgesetzt zu werden brauchte, um ganz unser zu sein. Bezeichnend aber ist es, daß wir nicht im Stande waren, ein eigenes Wort für einen so wichtig gewordenen Begriff zu schaffen. Der Sprachinstinkt striket eben auch.

Seit vierhundert Jahren, meine ich, ist der Umbildungs- und Aneignungstrieb der Sprache erloschen. Dem gegenüber vergegenwärtige man sich die ungeheure Fülle neuer Anschauungen und Begriffe, die gerade während dieser vier Jahrhunderte auf die Nation sich ergossen hat. Nicht nur natürlich, sondern unvermeidlich war es, daß die Deutschen mit ganzer Kraft sich dem Inhalte der neuen Kulturschätze zuwandten und, anstatt sich in impotenten Versuchen unmöglich gewordener sprachlicher Zeugungen zu erschöpfen, mit den übernommenen ausländischen Namen sich behalfen, dieselben notdürftig für den täglichen Gebrauch zustutzten und, unbekümmert um die seltsam bunten Klänge, nur darauf bedacht waren, den jungen Reichtum geistig sich anzueignen und aus ihm das Rüstzeug zu höherer nationaler Arbeit sich zu bereiten. Welche Mannigfaltigkeit zuvor ungeahnter Zufuhren aus den Gebieten alter und gleichzeitiger europäischer Zivilisation! In diesen vier Jahrhunderten erwächst der moderne Staat mit seinen Dikasterien und Kanzleien, das stehende Heer und die moderne Kriegskunst, die Wissenschaft auf dem Grunde des klassischen Altertums und der methodischen Naturbeobachtung, die Geld- und Kreditwirtschaft an der Hand des Welthandels und der großen Industrie, die Literatur, Kunst und Musik Italiens, die Philosophie und Schriftstellerei Englands und Frankreichs, das Studium und die Pflege des römischen Rechts; die Sitten, der Reiseverkehr, der Umgangston, die Gegenstände des täglichen Lebens, zuletzt die politischen Anschauungen und Bestrebungen erfahren eine tiefgreifende Umwälzung. An allen diesen Erregungen und Bewegungen nimmt Deutschland Anteil, an den meisten zunächst mehr empfangend und lernend als gebend und leitend, fast auf jedem Gebiete zunächst eine höhere Kultur jenseits der Grenze erblickend, bald in Rom und Hellas, bald in Venedig und Florenz, in Paris, in den Niederlanden, in England, spät erst durch Fleiß, Gründlichkeit, Lust an allem Guten, auch dem fremdländischen, den Nachteil ausgleichend, in den Ungunst des Klimas, der Lage und des politischen Schicksals es, anderen Völkern gegenüber, versetzt hatten. Dieser Bildungsgang unseres Volks macht es begreiflich, daß in seine literarische, seine gesellschaftliche und seine geschäftliche Sprache die fertigen, scharf bestimmten Ausdrücke der klassischen Schriftsteller, der feiner gebildeten romanischen Nachbarn, der großen auswärtigen Börsenplätze, der glänzenden Gesellschaft des Südens und Westens eindrangen; er überzeugt uns aber zugleich, daß mit den fremden Klängen auch wirklicher Reichtum, ein Reichtum an Gedanken und Begriffen ins Land kam, der ohne sie – wer weiß wie lange – draußen geblieben wäre. Es ist müßig, zu untersuchen, ob unter anderen Umständen unsere Sprache ohne Einbuße von Gedankeninhalt sich von den Eindringlingen hätte freihalten können und ob sie dann nicht schöner und würdiger einherschreiten würde. Die anderen Umstände sind eben nicht eingetreten; die Eindringlinge haben sich fest angesiedelt, haben das Aufkommen heimischer Benennungen verhindert und sind dadurch im Laufe der Zeit unentbehrlich geworden.

Hier bin ich nun auf einem Punkte angelangt, wo ich den Puristen einige Schritte entgegengehen kann. Es scheint mir nämlich, daß der Deutsche neben der vorurteilslosen Empfänglichkeit für den ausländischen Bildungsstoff eine üble Geschmacksrichtung hat, die vielleicht mit seinem Lerneifer zusammenhängt, die Vorliebe nämlich für den Schall und Klang fremder, vorab romanischer Zungen. Nicht allein der Not gehorchend, sondern auch dem eigenen Triebe, hat er die ihm angestammte Rede mit lateinischen und französischen Brocken verbrämt, weil er eine kindliche Freude an den klangvollen und zierlichen, den feierlichen und einschmeichelnden Tönen als solchen hatte. Wie er bescheiden zu dem geistigen Gehalt und dem fachlichen Reichtum der fremden Kultur emporschaute, so blickte er bewundernd auf ihr glänzendes Kleid. Es erschien ihm stattlicher, vornehmer und geschmackvoller als das Gewand der Muttersprache. Eine Zeitlang galt es fast für unschicklich, in gelehrtem und feinem Verkehr sich dieser letzteren zu bedienen, und wenn es geschah, suchte man sie wenigstens mit fremdem Flitterstaat so herauszuputzen, daß sie schon von weitem sich von der gemeinen Rede des Dorfes und des Marktes unterscheide. Man gebrauchte das fremde Wort nicht bloß da, wo das heimische fehlte, sondern man drängte das eigene in die Ecke, um das fremde vorführen zu können. Die Theologen und Juristen schämten sich, Schmidt, Schneider und Becker zu heißen, und schrieben sich Fabricius, Sartorius und Pistorius; die Titelsucht, dies echtdeutsche Laster, heftete vor die geschmacklosen lateinischen Namen noch geschmacklosere lateinische Kanzleiprädikate; die Rechtspflege bewegte sich fast nur noch in römischen Phrasen; das Familienleben vergaß die uralten Verwandtschaftsbezeichnungen, um Cousin und Cousine, Neveu und Nièce lispeln zu dürfen; schließlich gab es kaum einen Raum im Hause, ein Gerät in der Stube, ein Stück der Kleidung, ein Gericht auf dem Tische, das noch seinen ehrlichen deutschen Namen führte. Diese Verirrung, die am Schlusse des siebzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, kann man wohl erklären, aber nicht gutheißen; sie völlig zu beseitigen – denn ansehnliche Reste haben sich bis auf unsere Tage erhalten – ist ein löbliches Bestreben. Hätten die Sprachreinigungsgesellschaften, die schon vor zwei Jahrhunderten auftauchten, sich darauf beschränkt, diesen Unfug zu bekämpfen, und nicht versucht, die unentbehrlich gewordenen Fremdwörter durch unverständliche und meistens schauderhafte Deutschwörter eigner Mache zu verdrängen, so hätten sie vielleicht einigen Nutzen gestiftet. Sie verurteilten sich zur Erfolglosigkeit, indem sie das Unmögliche unternahmen, und diesem Schicksale sind auch die Späteren verfallen, welche – wie Campe – die systematische, ausnahmslose Tilgung der Fremdwörter anstrebten. Alle diese Sprachreiniger zeichnen sich durch dieselben Mängel aus: Blindheit für die Macht geschichtlich gewordener Zustände, Überschätzung des Einflusses literarischer Belehrung, Unfähigkeit, die feineren Schattierungen des Ausdrucks zu fassen, Ungeschicklichkeit in der Anfertigung vaterländischer Ersatzwörter.

Auf die abenteuerlichen Deutschmeister der Perückenzeit will ich nicht weiter zurückgreifen; auch an Beispielen jüngeren Datums läßt es sich deutlich machen, wie sehr die meisten Sprachreiniger über Weite und Höhe ihrer Aufgabe sich täuschen. Sie haben geglaubt, es genüge, den ungefähren Sinn des Fremdwortes durch Zusammensetzung einiger deutscher Wörter wiederzugeben, und sie sind ungehalten, wenn Schriftsteller und Publikum sich nicht herbeilassen, ihre Erfindung in Gebrauch zu nehmen. Warum, haben sie zürnend gefragt, sagen wir nicht Tonkunst anstatt Musik, Schauspiel statt Drama, Trauerspiel statt Tragödie? Wozu hat unsere Sprache den Vorzug, durch Zusammensetzung jeden beliebigen Begriff bestimmen zu können? In einem Wörterbuche scheint wirklich der vorgeschlagene Ersatz ganz annehmbar. Aber im Gebrauche stellt sich die Sache anders. Wenn wir von der Musik der menschlichen Stimme, der Goethischen Gedichte, der italienischen Sprache, des Waldes, der Wellen sprechen, wenn wir den Gedanken ausdrücken wollen, daß es eine Musik gab, ehe eine Tonkunst entstanden war, so müssen wir wohl oder übel das griechische Wort beibehalten oder den Gedanken verschlucken. Noch weniger können wir für musikalisch tonkünstlich oder tonkünstlerisch setzen. Für Melodie haben wir das gute und einfache Wort Weise, aber nie wird es gelingen, das griechische Wort zu verdrängen. Es hat zwei Vorzüge, die ihm im Kampfe um das Dasein den Sieg sichern: es bedeutet erstens nicht bloß, es ist Melodie, und zweitens, es ist uns schneller verständlich. Wenn man uns sagt: die Melodie ist uralt, so wissen wir augenblicklich, was gemeint ist; die Weise ist uralt, verstehen wir zwar auch, aber erst eine Sekunde später. Eine Sekunde ist in diesen Dingen sehr viel. Das Wort Melodie erregt unser Gehirn selbst zu melodischen Schwingungen, das Wort Weise höchstens mittelbar. Und wie wollen wir gar das Adjektiv melodisch entbehren, das doch mit dem Substantiv über die Klinge springen müßte? Ähnliche Proben kann man mit den Wörtern Poesie, Harmonie, Phantasie, Plastik, Skulptur, Architektur und hundert anderen anstellen, die Campe mit einem Federstriche hinrichtete und die trotzdem fortleben.

Für Drama sollen wir Schauspiel sagen. Aber nicht jedes Schauspiel ist ein Drama, z. B. ein Sonnenaufgang, eine Parade. Und nicht jedes Drama ist ein Schauspiel. Man kann sehr wohl sagen, daß eine Sinfonie uns ein Drama kämpfender Seelenstimmungen vorführe, unmöglich aber ein Schauspiel. Auch ist es etwas ganz anderes, wenn wir von einem geschichtlichen oder gerichtlichen Drama und von einem geschichtlichen oder gerichtlichen Schauspiel reden. Ein politisches Drama kann möglicherweise unsichtbar vor sich gehen, ein politisches Schauspiel kann das Gegenteil eines Dramas sein. Den Untergang der Stuarts mag man ein Drama, die Hinrichtung Karls des Ersten ein Schauspiel nennen, aber nicht umgekehrt. Auch hier zeigt sich das Adjektiv noch unersetzlicher als das Substantiv. Den Begriff dramatisch können wir mit deutschen Wörtern vielleicht umschreiben, obgleich auch das nicht jedermanns Sache sein wird; ihn mit einem deutschen Worte zu bezeichnen, so daß der Hörer ihn sofort mit dem Worte denkt, ist unmöglich. Ebenso unmöglich aber ist es, auf diesen Begriff zu verzichten.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriffe tragisch, für den keine Sprache der Welt außer der griechischen eine Bezeichnung gefunden hat. Wenn jemand meint, man könne dafür »trauerspielmäßig« sagen, so macht er das Tragische komisch. Tragik wäre dann Trauerspielmäßigkeit. Schon Trauerspiel ist ein mangelhaftes Auskunftsmittel für Tragödie und daher auch nie recht durchgedrungen. Auf den Theaterzetteln lesen wir es häufiger als in ästhetischen Abhandlungen. Die Zusammensetzung mit »Trauer« gibt dem Worte etwas Schiefes; es führt den Gedanken auf einen Punkt, der nicht der entscheidende ist. Eine Begebenheit kann sehr traurig sein, ohne im mindesten tragisch zu sein, z. B. wenn ein Boot umschlägt und die Leute ertrinken. Von einem schlechten Stücke könnte man sagen: dies Trauerspiel ist keine Tragödie. Und umgekehrt kann man von einer Tragödie sprechen, welche kein Trauerspiel, sondern schreckliche Wirklichkeit ist. Man sagt Familientragödie, Hoftragödie. Wie seltsam klänge da Familientrauerspiel, Hoftrauerspiel! Die Trauer ist viel zu vordringlich für die Strenge des Begriffs. Gerade die Durchsichtigkeit und Deutlichkeit des deutschen Worts ist hier vom Übel, weil sie einen einzelnen Bestandteil des Begriffs fälschlich als Hauptsache erscheinen laßt. Die Schule lehrt, das griechische Wort bedeute ursprünglich »Bocksgesang«, aber das stört uns nicht, weil wir nicht griechisch denken. Tragödie hat für uns eine ganz bestimmte Bedeutung gewonnen, die uns unmittelbar einleuchtet, als wenn es ein deutsches Wort wäre, und kein anderes Wort hat für uns genau dieselbe Bedeutung, keins wirkt auf uns genau ebenso. Wenn wir das Wort »tragisch« hören, denken wir den Begriff »tragisch« und nur ihn; keine mitvibrierenden Nebentöne wecken Nebenbegriffe von Trauer oder von Spiel oder von Gemäßheit. Und deshalb bleibt das deutsche Volk, bleiben alle Völker Europas bei dem griechischen Worte.

III.

Von allen Sprachreinigungsunternehmern hat der Staat es am leichtesten und die meiste Aussicht auf Erfolg. Er braucht nur zu befehlen, daß in den amtlichen Erlassen dieses Wort vermieden und dafür jenes gebraucht werden soll, so geschieht es. Die Gewöhnung des Publikums folgt schnell nach, da in solchem Falle ein oppositioneller Sprachgebrauch fehlt. Der Staat hat außerdem die Abfassung der Gesetze in der Hand und damit die Herrschaft über ein weites Gebiet der wissenschaftlichen Rechtssprüche. Wenn sein Strafgesetzbuch nur »Vergehen«, »Versuch«, »Strafrichter« u. s. w. kennt, so wird bald auch aus den Lehrbüchern »Delikt«, »Konat« und »Kriminalrichter« verschwinden. Das löbliche Bestreben der deutschen Gesetzgeber und mancher Behörden, sich tunlichst mit deutschen technischen Ausdrücken zu behelfen, hat zu der Erfahrung geführt, daß es recht wohl geht. Man könnte dreist noch weiter gehen und in organischen Gesetzen auch auf die deutsche Benennung der Beamten und Behörden hinwirken. Es ist nicht recht harmonisch, wenn man das verhältnismäßig harmlose Wort Porto verpönt und die Postdirektionen und Agenturen verschont. Mit Hauptpostämtern, Postämtern, Nebenpostämtern könnte man die Abstufungen des Dienstes schon unterscheiden, und an der Spitze des Ganzen würde ein Reichspostmeister sich mindestens ebenso stattlich ausnehmen wie ein Staatssekretär. Freilich etwas Gesundes läßt sich auf diesem Gebiete nur durchführen, wenn man darauf verzichtet, die Beamten jedes Ranges mit ihrem Amtscharakter anzureden, was Engländer und Franzosen, von einigen Ausnahmen abgerechnet, nicht tun. Nur der Deutsche hat die Geduld, einen Titel wie »Provinzialsteuerdirektor« durchs Leben zu schleppen.

Aber, getreu dem Grundsatze, das geschichtlich Gewordene und Befestigte mit Achtung und Schonung zu behandeln, befürworte ich selbst auf diesem dankbarsten Gebiete keine plötzliche und rücksichtslose Umwälzung. Man lasse stehen, was zu tief gewurzelt ist, aber man beseitige, was ohne Kampf fallen würde. Der Staat hat viele überflüssige Verwelschungen auf dem Gewissen; die Zeit ist günstig für Minderung der alten Schuld. Ist er die Gendarmen losgeworden, wird er die Auskultatoren, Auditoren, Referendarien, expedierenden Sekretäre, Kalkulatoren, Assessoren, Inspektoren und Direktoren los werden können. Wie gesagt, er hat nur zu befehlen.

Eine ganz besonders hohe Schuldenlast hat der Kriegsdienst aufgehäuft. Er bewegt sich fast ausschließlich in Fremdwörtern, obwohl ein Teil seiner Einrichtungen auf deutschem Boden erwachsen ist. Kein anderer Zweig des öffentlichen Dienstes redet ein so buntscheckiges Kauderwelsch; man stutzt förmlich, wenn man einmal auf ein militärisches Fachwort deutschen Klanges, wie auf einen weißen Raben, stößt. Die Armee teilt sich in Korps, Divisionen, Brigaden, Regimenter, letztere in Bataillons und Kompanien, in Schwadronen oder Batterien; sie umfaßt Infanterie, Kavallerie, Artillerie, Genie und Train; sie wird geführt von Generalen, Majoren, Premier- und Sekondleutnants, Sergeanten, Korporalen, zwischen denen allerdings wie Überreste einer anderen Welt Feldmarschälle (in Österreich auch Feldzeugmeister), Obersten, Hauptleute, Rittmeister, Fähnriche, Feldwebel und Wachtmeister sich bewegen. Die Führenden sind Offiziere, auch Chargierte, Führer und Geführte sind Militärs und Soldaten. Die Waffengattungen sind Grenadiere, Musketiere, Füsiliere, nur Jäger und Schützen mit deutschem Namen dazwischen, Kürassiere, Dragoner, Ulanen, Husaren, in Bayern sogar Chevauxlegers. Der Militär wohnt in Kasernen, liegt in Quartier, steht in Garnison, befindet sich im Kantonnement; er steht auf bei der Reveille, kleidet sich in Uniform, speist von der Menage, exerziert, marschiert, manöveriert, zieht auf Parade, salutiert seinen Chef, empfängt Orders, kommandiert, avanciert. Er bezieht Servis und Fourage, er hat Ordonnanzen und Equipierung. Er beginnt als Rekrut oder als Kadett oder als Avantageur, und er beendet seine Laufbahn vielleicht à la suite der Armee oder »zur Disposition«. Wenn mobil gemacht wird, hat er Aussicht, eine Kampagne mitzumachen, und dabei entweder der Tete oder der Arrieregarde oder einem Detachement anzugehören. Dann wird er biwakieren, rekognoszieren, patrouillieren, observieren, namentlich die coupierten Terrains und die Lisieren der Waldungen, debouchieren, deployieren, forcieren, bombardieren, auch nach Umständen retirieren. Man könnte in dieser Weise ganze Seiten anfüllen. Nun bin ich weit entfernt, es für möglich oder auch nur für wünschenswert zu halten, die ganze technische Sprache auf den deutschen Leisten zu schlagen. Ich gestehe sogar, daß ich für den energischen Klang mancher dieser Wörter eine gewisse Vorliebe hege. Ich möchte nicht die Kürassiere zu Panzerreitern und die Bataillone zu Haufen werden sehen. »Feuerschlünde« klingt mir zu gespreizt für die schlichte Kanone; »Heerführer« oder »Feldherr« ist zu erhaben (mit der bekannten gefährlichen Nachbarschaft), wenn man sich den braven Durchschnittsgeneral – zumal im pensionierten Zustande – dabei denken soll. Feldherr a. D. würde sich spaßhaft ausnehmen. Aber bei alledem wäre es wohl zu wünschen, daß der deutsche Offizierstand, der in anderen Beziehungen eine stolze Zierde des Vaterlandes ist, auch im Punkte der Sprache der Höhe sich etwas mehr nähere. Unleugbar lassen viele militärische Begriffe sich ebenso gut, ebenso kräftig, verständlich und bequem im Deutschen ausdrücken wie in der hergebrachten lingua franca. In vielen Fällen braucht man gar nicht neue Ausdrücke zu erfinden, sondern vorhandene nur wieder hervorzuholen. Es ist nicht abzusehen, weshalb man nicht ebensogut den Saum eines Waldes sollte beobachten können, wie seine Lisiere observieren, weshalb ein marschierendes Korps nicht statt der Tete eine Spitze haben, Vorhut und Nachhut nicht die Avant- und die Arrieregarde ablösen könnte. Den »Leutnant« (wie man schreiben sollte) werden wir schwerlich je los, aber man könnte unbedenklich statt Premier- und Sekond- Ober- und Unterleutnant sagen.

Diese militärischen Verhältnisse sind übrigens recht geeignet, die Schwierigkeiten anschaulich zu machen, die der Sprachreinigung entgegenstehen, die festen Wurzeln, welche manches Fremdwort geschlagen hat, die Verlegenheiten, in die man gerät, wenn man auf einmal Ersatz für alle schaffen will.

Eine gefährliche Klippe für die amtliche wie die außeramtliche Sprachreinigung ist die den Deutschen im allgemeinen und den Juristen insbesondere anhaftende weitschweifige Neigung, die Gegenstände durch eine Häufung von bestimmenden Zusätzen gegen jede denkbare und selbst gegen jede undenkbare Verwechslung mit anderen Gegenständen zu schützen. Vor etwa zehn Jahren wurde höheren Ortes den Eisenbahnbeamten anbefohlen, die Coupés künftig »Eisenbahnwagenabteilungen« zu nennen. Sofort entstand der Zweifel, ob ein Damencoupé Eisenbahnwagendamenabteilung oder Dameneisenbahnwagenabteilung heißen müsse. Wie die Verwaltung den Streit entschieden hat, weiß ich nicht; ich glaube, sie hat später sich mit dem Worte »Wagenabteilung« begnügt, aber das Publikum und die Schaffner sagen nach wie vor Coupé. Coupé ist kurz und handlich; gegen diesen Vorzug fällt der Makel seines französischen Ursprungs beim Volke leider gar nicht ins Gewicht. Wollte man den Fremdling vertreiben, so müßte man ein ebenso bequemes Wort der Landessprache ins Feld führen, wie die Holländer es mit ihrem Vak (Fach) gemacht haben. Die Fähigkeit, Zusammensetzungen zu bilden, deren unsere Sprache sich erfreut, ist sehr wertvoll, aber sie kann auch, wenn der gute Geschmack sie nicht begleitet, üble Folgen haben. Wir verdanken ihr so schöne Ausdrücke wie Morgenrot und so holzklotzpflastermäßige wie Kleinkinderbewahranstalt. Die deutsche Gründlichkeit sagt Kleinkinderbewahranstalt, damit um des Himmels willen niemand auf den Gedanken komme, es würden auch »Großkinder« aufgenommen, oder die Anstalt solle die Kinder nicht bewahren, sondern zu Grunde richten. Der oberflächliche Franzose nennt solche Anstalten crêches, Krippen, ohne zu befürchten, daß man sie mit Stallkrippen verwechseln möchte. Die preußische Bureaukratie hat uns mit dem Worte »Unterstützungswohnsitz« beschenkt, bloß weil sie das Wort Heimat vor unrichtigen Deutungen zu wenig gesichert fand. Im übrigen Deutschland verstand man gleichwohl früher unter Heimatsrechten und Heimatsgesetzgebung genau das nämliche (natürlich abgesehen von dem materiellen Inhalt), was jetzt als Recht des Unterstützungswohnsitzes oder als »Gesetz den Unterstützungswohnsitz betreffend« bezeichnet wird. Eine Armut der deutschen Sprache ist es, daß sie selten durch Endsilben aus einem Hauptbegriffe eine Reihe von Verhältnisbegriffen zu entfalten vermag und dann zu dem plumperen Mittel der Umschreibung oder der Zusammensetzung greifen muß. (Man vergleiche Weltweisheit mit Philosophie, philosophisch, philosophieren, Staatsklugheit mit Politik, politisch, politisieren, Steuerpolitik, kirchenpolitisch u. s. w.) Auch dies ist ein Umstand, den die Sprachreiniger zu wenig beachten. Umso auffallender ist es, wenn sie das Mittel, wo es sich zwanglos darbietet, zurückweisen. Wenn ich nicht irre, war es Dr. Sanders, der dem Reichspostmeister vorschlug, Examinandus wiederzugeben durch Prüfling. Das ist gewiß besser als »der zu Prüfende«. Hier hat man einmal ausnahmsweise eine Wortbildung, die der romanischen an Gelenkigkeit gleichkommt. Dr. Stephan hat sich nicht entschließen können, sie auf Männer anzuwenden; sie macht ihm den Eindruck der Geringschätzung, weil sie ihn an Weichling, Mietling, Hämmling, Sträfling, Sonderling erinnert. Dagegen ist nicht zu streiten; das Gefühl läßt sich nicht widerlegen. Mir macht »Prüfling« diesen Eindruck nicht. An sich liegt in der Silbe ling nichts Verkleinerndes oder Verächtliches. Kämmerling war im Mittelalter ein angesehener Titel, wie das spanische camarlengo jetzt noch. Jüngling ist entschieden ein vornehmes Wort, ohne Diminutivbedeutung. Man kann sagen Riesenjüngling, Heldenjüngling. Wittekinds Kriegsmänner waren, als sie von den fränkischen Priestern in der Weser untergetaucht wurden, Täuflinge. Kein deutscher Feldherr wird es übelnehmen, wenn man ihn einen Zögling Moltkes nennt. Übrigens wird das Wort Prüfling auf Seeleute unbedenklich angewandt.

Ein anderer Vorschlag des Dr. Sanders ging dahin, für Halbfolioformat das ganz deutsche »Halbbogengröße« zu setzen, und dies, glaube ich, ist genehmigt worden. Dies Beispiel ist lehrreich. Halbbogengröße ist gewiß ganz deutsch, aber ist es ganz dasselbe wie Halbfolioformat? Ich habe immer geglaubt, Folio sei ein halber Bogen und Halbfolio die Hälfte des Halben, und zwar die Hälfte in einer bestimmten Richtung. Indes dem sei, wie ihm wolle, jedenfalls ist Größe nicht Format. Man spricht sehr richtig von Querfolioformat; Querfoliogröße wäre Unsinn. Denn die Größe bleibt die nämliche, ob man das Folio quer oder nicht quer legt. Format umschließt beide Begriffe, Form und Größe bleibt zwar mit dem Ton auf Form. Durch die Verdeutschung wird also ein scharfer Begriff verwischt. Was Folioformat ist, weiß jedermann; Bogengröße erweckt nur eine schwankende Vorstellung.

Statt Juwelen und Pretiosen, sagt man jetzt im Postdienste Kostbarkeiten, und im Postdienste reicht man damit wahrscheinlich völlig aus, ohne noch »Kleinodien« und »Geschmeide«, die Dr. Sanders in Erinnerung brachte, zu brauchen. Aber außerhalb des Postverkehrs müssen wir doch sehr bitten, uns die Juwelen zu lassen und in einzelnen Fällen uns selbst den Gebrauch von Pretiosen nachzusehen. Die Sprache dient nicht bloß, um Inventare aufzunehmen und Begleitzettel zu schreiben, sondern nebenher auch, um die Welt, mit allem, was darinnen ist, mit ihrer Pracht und ihrer Elendigkeit, ihrer Weisheit und ihrer Narrheit, künstlerisch darzustellen, mit feinen Strichen zu zeichnen, mit zarten Farbentönen zu malen, und gar vieles, was fürs Geschäft überflüssig ist, erscheint dem Dichter, dem Redner, dem Philosophen als willkommenste Hilfe, um seinem Gedanken genau die Form zu geben, die ihn am deutlichsten verkörpert. Warum sollte man in der Auswahl beschränken, an dieser Stelle Juwelen, an jener Geschmeide, an einer dritten Kleinode und an einer vierten Pretiosen zu setzen, wenn durch jedes dieser Worte der Gedanke eine verschiedene, gerade die gewollte Färbung erhält? Die Begriffe decken einander schon an sich nicht ganz, aber davon abgesehen, wie verschieden wirkt es stilistisch, ob ich sage: die Braut trug wertvolle Juwelen, oder: sie prangte in köstlichem Geschmeide, oder: sie hatte sich mit allerlei Pretiosen behängt? Kleinod ist ein altedles Wort, aber eben deshalb nicht immer an der Stelle, wo Juwel sich schicklich darbietet, abgesehen davon, daß man aus einem Kleinod Juwelen verlieren kann, z. B. aus einer Krone Steine und Perlen, und daß es falsche oder nachgeahmte Juwelen gibt, aber keine falschen Kleinode, wenigstens nicht in dem nämlichen Sinne. Von einem geistreichelnden Schriftsteller könnte man sagen, man finde bei ihm wohl Pretiosen, aber kein einziges Kleinod. Beiläufig gesagt liefert »Kleinod« einen eigentümlichen Beleg für die Macht des bloßen sinnlichen Klanges in der Sprache. Obwohl es echtdeutsch ist, bilden wir seinen Plural gewöhnlich nach dem mittelalterlich lateinischen clenodium, als ob es daher stammte, wahrscheinlich doch nur deshalb, weil es dadurch einen feierlicheren, über Alltagswörter es vornehm hinaushebenden Ton gewinnt. Man fühlt sich versucht, selbst einen feinen Begriffsunterschied zwischen »Kleinode« und »Kleinodien« zu finden: die letztere Form mahnt uns eher an die heiligen Insignien des Reichs, welche vorzugsweise so hießen. Man könnte sagen: die Kleinodien der königlichen Schatzkammer sind Kleinode der Goldschmiedekunst. Natürlich beruht das teilweise auf zufälliger, durch den Gebrauch gegründeter Ideenverbindung, teilweise aber auch auf der fremdartigen, altfränkischem Pomp angemessenen Form. Die Ideenverbindung selbst knüpft sich leichter an den ungewöhnlichen Klang, der die ursprünglich ganz nüchterne Bedeutung des Wortes (parvula res, Kleinigkeit) übertönt, so daß wir an letztere gar nicht mehr denken, sondern an kaiserlichen Krönungsschmuck oder durch Würde ihm ähnliche Kostbarkeiten. Aus so zarten Fäden entspinnt sich die Magie der Worte. Kaum können wir uns denken, daß »Kleinod« vormals, als man noch den eigentlichen Sinn des Wortes verstand, die mindest wertvollen Stücke, namentlich Eingeweide, des geschlachteten Viehs, die der Metzger zuwog, bedeutet hat und daß »Gänseklein« oder »Gansekleind« nichts anderes ist als ein abgeschliffenes »Gänsekleinod«. Hier sehen wir deutlich, wie die Wirkung des Worts auf seiner Undurchsichtigkeit, seinem Klange und den Zufälligkeiten des Gebrauchs beruhen kann. Der Schluß unseres Artikels wird noch einige merkwürdige Beispiele beibringen.

IV.

In jeder Kunst ist es ratsam, sich an die Muster und die Meister zu halten und vor den Systemen sich zu hüten. Das gilt auch von der Kunst, die Sprache zu gebrauchen. Wie haben denn unsere großen Schriftsteller, sie, denen wir es verdanken, daß wir auf »unser geliebtes Deutsch« stolz sein dürfen, wie haben sie es im Punkte der Sprachreinheit gehalten? Gehörten sie zu den Puristen? Befolgten sie die Vorschriften des wackeren Campe? Betrachteten sie die fremden Ausdrücke als Eindringlinge, die auszutreiben des Schweißes der Edlen wert sei? Wenn irgendwo Autoritäten gelten, so gelten sie auf diesem Gebiete. Denn aus der Übereinstimmung der guten Schriftsteller entsteht erst die Regel. Es ist ebenso töricht wie aussichtslos, für einen sprachlichen Mißbrauch erklären zu wollen, was bei den Schöpfern und Gesetzgebern der Sprache Gebrauch ist. Lessing und Lichtenberg, Kant und Herder, Goethe und Schiller, Schelling und Humboldt, Gentz und Heine, Schopenhauer und Strauß zeugen durch ihr Beispiel mächtiger, als hundert Abhandlungen vermöchten, zu Gunsten der Grundsätze, denen ich, einseitiger theoretischer Neuerungslust gegenüber, ihr gutes Recht zu wahren wünsche. Einen dieser Grundsätze hat von den eben genannten Philosophen derjenige, der am meisten auf Stil und Sprache achtete und dessen hervorragende schriftstellerische Bedeutung auch seine Gegner preisen, bündig so ausgesprochen, wie die übrigen Meister ihn allezeit befolgt haben:

»Für einige Begriffe findet sich bloß in einer Sprache ein Wort, welches alsdann in die anderen übergeht: so das lateinische Affekt, das französische naiv, das englische comfortable, disappointment, gentleman und viele andere. Bisweilen auch drückt eine fremde Sprache einen Begriff mit einer Nuance aus, welche unsere eigene ihm nicht gibt und mit der wir ihn gerade jetzt denken. Dann wird jeder, dem es um einen genauen Ausdruck seiner Gedanken zu tun ist, das Fremdwort gebrauchen, ohne sich an das Gebelle pedantischer Puristen zu kehren.« (Schopenhauer, Parerga II, 602.)

Hier sind zwei Fälle unterschieden: das gänzliche Fehlen des Begriffs in der deutschen Sprache und das Fehlen einer bestimmten Nuance des auch im Deutschen vorhandenen Begriffs. Die Fälle gehen aber so sehr ineinander über, daß man sie schwer sondern kann. Eine neue Nuance gibt eigentlich einen neuen Begriff. Da, wo wirklich der ganze Begriff uns mangelt, wie bei Natur und Person, pflegen auch strenge Puristen sich in das Unvermeidliche zu fügen. Aber schon bei Wörtern wie Affekt, naiv, Gentleman erheben sie Anstände. Sie finden oder erfinden deutsche Wörter, die ungefähr etwas Ähnliches besagen, und meinen nun, das fremde sei entbehrlich. Dies beruht auf Stumpfheit. Sie fühlen den Unterschied nicht und haben also auch nicht das Bedürfnis, ihn zu bezeichnen. Das ist kein Vorwurf; ihr Unrecht fängt erst an, wenn sie dem feineren Organismus Gesetze vorschreiben wollen. Ich denke nicht schlecht von Leuten, welche keinen Abstand merken zwischen kokett und gefallsüchtig, bigott und scheinheilig, devot und untertänig, genial und geistvoll, frivol und leichtfertig, galant und höflich, modern und neu, antik und alt, klassisch und mustergültig, Eleganz und Zierlichkeit, Grazie und Anmut, Esprit und Witz u. s. w. Ich denke nicht schlecht von ihnen, aber ich frage nicht bei ihnen an, wenn ich erfahren will, was sich – im Punkte des guten Stils – wohl geziemt. In den Beispielen, die ich eben angeführt habe, handelt es sich noch um klafter- und ellenweite Abstände; es gibt aber auch solche, die nur nach Zoll und Linie gemessen werden und die gleichwohl nicht verwischt werden dürfen, wenn dem Sprachmaterial seine Biegsamkeit und Schmiegsamkeit unverkümmert bleiben soll.

Es ist, glaube ich, der deutschen Sprache eigentümlich, daß sie in niederen und mittleren Begriffskreisen dem fremden, in höheren dem vaterländischen Worte den Vorrang des Adels verleiht. Diner und Souper ist vornehmer als Mittagessen und Abendbrot, aber es klingt uns wie Entweihung, wenn wir das christliche Sakrament das »heilige Souper« nennen hören, während der Engländer unbefangen the Lord's supper sagt. Die Fauteuils schmücken den irdischen Salon, aber im Göttersaale thronen die Unsterblichen auf goldenen Stühlen. Nicht Damen, sondern edle Frauen sind die Hüterinnen der guten Sitte. Ein kluger Mann respektiert vielleicht die Vorurteile der ungebildeten Menge, aber er kann sie nicht achten. Der Polizeipräsident ist ein Chef, der Kaiser ist unser Oberhaupt. Aus dieser Eigentümlichkeit des Sprachgebrauchs erwächst uns ein Vorteil, den ich hoch anschlage. Um dem Begriffe, den man bezeichnen will, etwas von der Hoheit oder Feierlichkeit oder Lieblichkeit, die der deutsche Ausdruck ihm gibt, zu entziehen, setzt man an Stelle des letzteren das fremde (gewöhnlich das französische) Wort, gleichsam als genüge der ausländische Klang allein, den Begriff um eine Stufe herabzusetzen. Es ist, als ob der Adelstolz der Ursprache, den eleganten, aber unebenbürtigen Bastardsprachen gegenüber, unbewußt sich geltend mache. Nehmen wir das Wort Adel und adlig selbst. Man findet dafür Noblesse und nobel, ohne jegliche tadelnde Nebenbedeutung, aber stets mit geringerer Würde des Inhalts. »Die Noblesse der ganzen Erscheinung« wird man sagen, wenn man im besten Sinne aristokratisches Gepräge – »Adel der Erscheinung«, wenn man das Gepräge sittlicher Hoheit bezeichnen will. Eine noble Gesinnung rühmt man schon demjenigen nach, der sich von Verachtung krämerhafter Berechnung beseelt zeigt; edle Gesinnung äußert sich in Taten hoher Tugend. So wird man finden, daß der deutsche Sprachgebrauch »chevaleresk« von »ritterlich«, »generös« von »großmütig« durch einen gewissen sittlichen Rangunterschied trennt. Generös kann schon der Spender reichlicher Trinkgelder heißen, großmütig zu sein kostet höhere Opfer. Der Engländer hat ein bezeichnendes familiäres Wort für die untergeordnete Gattung des Mutes, die auf Temperament und Nerven beruht. Er nennt sie pluck. Wir würden außer stande sein, den Begriff wiederzugeben, wenn wir das Wort Courage verschmähen wollten. Courage ist für uns, durchaus nicht im Französischen, der animalische Mut, wie ihn tüchtige Jungen und gute Dachshunde zeigen. Bravour ist zwar Tapferkeit, aber eine ganz bestimmte Sorte und nicht die allerhöchste. Man rühmt die Bravour, mit welcher bei Balaclava, bei Wörth, bei Vionville englische, französische, deutsche Reiter auf den Feind einstürmten; für Leonidas und seine Dreihundert, für Winkelried genügt uns nur der Preis der Tapferkeit. Die Soldaten an Bord der »Birkenhead«, die in Reih und Glied stehen blieben, währenddem unter ihnen das Schiff in die Tiefe sank, waren gewiß tapfere Männer, aber Bravour zeigten sie nicht. Poet ist ein schöner Ehrentitel, aber nicht leicht werden wir Goethe und Schiller »unsere großen Poeten« nennen. Um das Höchste auszudrücken, sagen wir »Dichter«, unbekümmert natürlich darum, daß auch Dichter ursprünglich ein Fremdwort ist. Um Viktor Hugos Art nachzuahmen, könnte man sagen: »Hugo war ein sublimer Poet, Dante ein erhabener Dichter.«

Hiermit hängt auch wohl zusammen, daß, so viele fremdzungige Titulaturen wir auch haben, die Geburtsaristokratie vom Könige bis zum Freiherrn ihre deutschen Prädikate behalten hat. Die beiden Ausnahmen Baron und Komtesse bestätigen nur meine Theorie. Denn gewiß klingt Freiherr distinguierter als Baron, und Komtesse ist in Deutschland eine Gräfin zweiten Ranges. Ein Markgraf ist, fürs Ohr wenigstens, ein ganz anderer Mann als ein Marquis. Die Inhaber der hohen Ämter hatten ein Interesse daran, die einheimischen Namen zu behaupten: je verständlicher, desto ehrenvoller. Nur für die unteren Stufen konnte die Eitelkeit das Bedürfnis empfinden, die Art des Dienstes durch einen ausländischen Titel zu verhüllen, den Schreiber zum Sekretär, den Aufseher zum Inspektor und den Diener zum Minister zu machen. Was auf diesem Felde die Eitelkeit, das hat auf einem anderen die Schamhaftigkeit (oder, wenn man will, die Prüderie), demselben Prinzipe folgend, geleistet. Die verhüllenden Fremdwörter dienen ihr, sich das Erröten zu ersparen, wenn sie es nicht vermeiden kann, anstößige Dinge auszusprechen oder anzuhören. Es gibt Fälle, wo, bei völlig gleichem Inhalt, das deutsche Wort, in anständiger Gesellschaft ausgesprochen, wie eine Bombe wirken würde, das fremdländische, obwohl allen verständlich, keinen stört.

Wie der Deutsche den welschen Wortklang benutzt, um dem Begriffe eine welsche Würze beizumischen, das hat Goethe einmal, ohne doch an eine allgemeine Regel zu denken, sehr deutlich veranschaulicht. Er bemerkt, was doch alles in dem Worte perfide für unser Gefühl enthalten sei, wovon man in den deutschen Synonymen, treulos, tückisch, verräterisch, nichts finde. Geradezu ehrlich und gutmütig klinge unser »treulos« neben diesem glatten, kalten, giftigen »perfide«. Den Eindruck kann die ursprüngliche Bedeutung des Wortes nicht erklären; perfidus sagt so ziemlich dasselbe wie ungetreu. Aber der feine welsche Klang erweckt dem deutschen Ohre die Vorstellung einer besonders raffinierten, weltmännischen, herzlosen Heimtücke; demgemäß wird das Wort gern für spezifische Fälle, welche dieser Vorstellung entsprechen, gebraucht, und der Gebrauch wieder befestigt den Eindruck, von dem Goethe spricht. Ich wage es, dazu ein Beispiel aus einem durchaus verschiedenen Begriffskreise zu stellen. Die Honoratioren sind die »höhergeehrten« Einwohner; in den sechs Silben liegt nichts, was darüber hinauswiese: honoratus geehrt, honoratior mehr geehrt. Uns bezeichnet aber das Wort einen besonderen Begriff, den wir ohnedies nur umschreiben könnten: die angesehensten Einwohner einer kleineren Stadt, und auch diese nur innerhalb eines gewissen bescheidenen Lebenskreises, mit dem Nebenbegriffe des Zopfigen, Altfränkischen. Der Herr Pfarrer, der Herr Apotheker, der Herr Rentmeister, der wohlhabende Bäcker, die würdige Gesellschaft der »Ressource«, der einzigen des Orts, die Tonangeber in Schilda, die Aristokratie von Krähwinkel – solche sind es, die an unserem inneren Auge vorüberziehen, wenn wir das Wort Honoratioren hören. Wir denken nicht an das Geehrtsein, weil das fremde Wort uns nicht unmittelbar daran erinnert; die Ideenverbindung allein und der gravitätische Silbenfall entscheiden über die Bedeutung, und zwar so unfehlbar, daß niemand Goethe zu den Honoratioren Weimars oder gar Moltke zu den Honoratioren Berlins zählen würde. In Berlin gibt es gar keine Honoratioren.

Wer alle die mannigfaltigen, in Betracht kommenden Gesichtspunkte zusammenfassen und dann sich die Mühe geben wollte, die in den Gebrauch übergegangenen Fremdwörter auf ihre Entbehrlichkeit zu prüfen, der würde, glaub' ich, erstaunen, wie gering die Zahl derjenigen ist, die ohne Bedenken zu opfern wären. Dabei ist aber eines wohl zu beachten. Wenn man ein Fremdwort unter Umständen zuläßt, gibt man ihm noch keineswegs allgemeine Berechtigung. Immer und überall soll man es abweisen, wenn es sich da, wohin es nicht gehört, eindrängen will. Und in diesem Punkte könnte allerdings der gute Geschmack unter uns strenger sein. Im literarischen Vortrage fangen wir an, auf Reinheit des Ausdrucks mehr zu achten; Schriftsteller, die noch Etage für Stockwerk, Hotel für Gasthof, Bouteille für Flasche und Fourchette für Gabel schreiben, gehören nicht mehr zur guten Gesellschaft. Wörter, wie Dejeuner, Fauteuil, Cousin, Neveu, superb, magnifique, charmant, ziehen sich mehr und mehr aus der schriftlichen in die Umgangssprache zurück, und auch in dieser sagen die Gebildeten kaum noch bougie für Kerze, es sei denn im Affekte, unter dem Eindruck der Gasthofsrechnung. Ein Fortschritt zum Besseren scheint mir unverkennbar, und was die Hauptsache ist, dieser Fortschritt ist spontan, eine Frucht des empfindlicher gewordenen Geschmackes, nicht eines deutschtümelnden Terrorismus. Wäre der Fortschritt von außen her angelehrt und angepredigt, so würde ich ihm kein langes Leben zutrauen.

Übertreibung schadet jeder, auch der guten Sache. Wer in allen Dingen die letzten Konsequenzen ziehen will, verfällt dem Absurden und gibt dem Gegner die Waffe des Spottes in die Hände. Deutschlands Ehre und Würde, ins Feld geführt gegen französische »Menüs« und französische Pappschachtel-Etiketten, ist ein Beispiel solcher schädlicher Übertreibung. Andere Nationen sehen keine Erniedrigung darin, wenn ihre Sportsmänner englisch, ihre Frauenschneider und Köche französisch, ihre Konzertmeister italienisch sagen, was in der Landessprache unsagbar ist. Es erscheint ihnen nicht als Verfall und Verderbnis, wenn Wohlgerüche, Haarwässer, Zahnpulver und Seifen mit unverständlichen exotischen Namen in die Welt geschickt werden. Es ist wahr, ich beuge mich unter die Überlegenheit des britischen »Turf«, indem ich auf deutscher Rennbahn von »Start« und »Handicap« rede; ich erkenne die universale Bedeutung des Pariser Chef und des Pariser Modisten an, wenn ich für seine französischen Mysterien auch an der deutschen Tafel und im deutschen Laden nur französische Laute finde; aber fühle ich mich dadurch in meinem nationalen Selbstbewußtsein gedemütigt? Im Gegenteil, hätte ich beinahe gesagt. Denn unwillkürlich erinnere ich mich einer berühmten Stelle im Virgil, die den Römern vorhält, daß sie nicht nötig haben, die Griechen um ihren Vorrang in den Künsten des Luxus zu beneiden. Und ich habe das Gefühl, als ob unser ehrbares Deutsch sich eher lächerlich mache, als an Würde gewinne, wenn es sich abquält, für Ruche, Plissee, Volant und Chignon oder für Timbale, Salmi, Ragout und Mayonnaise vaterländische Namen zu stammeln. Auch habe ich immer gefunden, daß Gesellschaften, denen man eine verdeutschte Speisekarte vorlegte, die Sache als einen Spaß behandelten.

Einen Punkt gibt es, wo ich mit dem unerbittlichsten Puristen übereinstimme. Durchaus verwerflich, ja geradezu scheußlich ist es, wenn das Fremdwort in die lediglich konstruktiven Teile des Satzbaues eindringt. In einem ganz ernsthaft gemeinten Geschichtswerke lese ich: »Eine Politik à la Bismarck« und »ein kecker Streich à la Blücher.« »Eine Batterie lag oberhalb Ehrenbreitstein, fast vis-à-vis von Mainz.« »Die Festung hatte noch einen Zentner Mehl per Mann.« »Der Aufwand belief sich auf eine Million per Woche.« Solche Geschmacksroheiten, Versündigungen an der inneren Textur der Sprache, sind in der Literatur nur dann zulässig, wenn der Schriftsteller einen Musterreiter oder einen Oberkellner oder einen Feldwebel redend einführt.

Alles Kokettieren ist verwerflich, ob man nun mit fremden Brocken oder mit deutschtümelnden Flicken kokettiert. Was aber die »Würde« der Muttersprache betrifft, so leidet sie nach meinem Gefühl bei weitem nicht so sehr durch gelegentliches Aufheften ausländischen Flitters wie durch Mißachtung ihrer eigenen organischen Gesetze, ihrer Syntax, ihrer Grammatik, ihres naturgemäßen Periodenbaues. Ein übel gewähltes Fremdwort ist wie ein geschmackloser Putz; er kann leicht abgetan werden und schadet weiter nicht der Gesundheit. Undeutschheit in Syntax und Grammatik sind wie Knochenverrenkung, die den Wuchs des Körpers entstellt und fortzeugend Böses gebiert. Jedermann wird zugeben, daß es die Rede mehr entstellt, wenn einer den Dativ und den Akkusativ verwechselt, als wenn er Adieu statt Lebewohl sagt. Gleichwohl wird die größere Sünde weniger verfolgt als die geringere. Ich behaupte nicht, daß man bei uns schon gegen den Unterschied zwischen mir und mich gleichgültig geworden ist, aber es gibt eine ganze Reihe von Verstößen wider die deutsche Sprache, die sich allmählich in der Literatur selbst festsetzen, weil niemand sich die Mühe nimmt, sie an den Pranger zu stellen. Fortwährend finden wir als und wie, das und was, starke und schwache Deklination vertauscht und unmögliche Konstruktionen angewandt. Wie würde es einem französischen Schriftsteller ergehen, der den Gebrauch von comme und que, von que und qui nicht zu unterscheiden wüßte? Kein Provinzialblatt würde einen Artikel von ihm annehmen. In Deutschland schreiben die angesehensten Tagesblätter, selbst in ihren Leitartikeln, selbst mit Vorliebe, daß es im Winter kälter ist wie im Sommer. Unter zehn Malen liest man neunmal: »ein Mann von gutem, natürlichen Verstande,« statt »natürlichem«. Oder es heißt: »Der Redner sprach zu leise, um seinem Gedankengange folgen zu können.« »Das gute Verhältnis, was zwischen Rußland und Deutschland bestand.« »Der Kaiser, gefolgt von den königlichen Prinzen, betrat den weißen Saal.« »Unter allen bereits stattgefundenen Aufführungen war die gestrige die beste.«

Die ärgsten Sünder sind die Zeitungsschreiber, und es wird wohl als mildernder Umstand betont, daß diese Herren keine Muße hätten, um immer einen ganz tadellosen Stil zu schreiben. Du lieber Himmel! Von Stil ist hier überhaupt keine Rede, geschweige von tadellosem, sondern ganz einfach von Schnitzern. Um Schnitzer zu entschuldigen, kann man nicht Mangel an Zeit geltend machen. Ein gebildeter Mann soll nicht einmal, wenn er im Schlafe spricht, grammatische Fehler machen. Und warum ist es nur die deutsche Tagespresse, die sich solche Verstöße gegen die Sprache ihrer Nation erlaubt? Warum finden die Zeitungsschreiber in Frankreich und in England Muße genug, um den sprachlichen Anstand zu wahren? Sollte es nicht ein wenig daran liegen, daß wir allzu stumpfsinnig uns Ungebührlichkeiten gefallen lassen, die in anderen Ländern einem Schriftsteller, einer Zeitung den Hals brechen würden? Das eigentliche Übel besteht darin, daß wir die Sprachverschändung dulden, uns an sie gewöhnen und schließlich mitmachen.

An sich wäre ja wenig daran gelegen, daß schlechte Schriftsteller schlecht schreiben. Aber sie stecken die besseren und sogar die guten an, und das Publikum, das fast nur Zeitungen liest, verliert nach und nach das Gefühl, welches zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem unterscheidet. Aus der Zeitungssprache geht die Barbarei in die Büchersprache und in die Bühnensprache über, und niemand ist, der sie auspfiffe. Ich habe auf einem deutschen Theater den zürnenden Vater der Tochter zurufen hören: »Ich will gehorcht sein!« und das Publikum fand dies Verlangen ganz in der Ordnung. Ich habe in einer großen deutschen Zeitung gelesen: »Würde der Sieg der Engländer von einem Rückzuge gefolgt werden, so wäre das schlimmer wie eine Niederlage,« – und die Zeitung existiert unversehrt weiter!

In diesem Mustersatze findet sich neben anderen ein Konstruktionsfehler, der seit etwa einem Menschenalter wie ein Unkraut wuchert, der Fehler, daß die Bedingung, unter welcher etwas geschehen soll, mit dem Verbum »würde« angegeben wird. Man schreibt heute unter hundert Fällen fünfzigmal: »Würde Niemann singen, so ginge ich in die Oper,« während es in gutem Deutsch heißen muß: »Sänge Niemann, so würde ich in die Oper gehen, oder, so ginge ich in die Oper.« »Würde dies bekannt sein, so fiele das Urteil vielleicht anders aus,« statt »Wäre dies bekannt, u. s. w.« Bereits Schopenhauer klagt über diesen (wie er sagt) »jetzt allgemein beliebten Schnitzer«; seit seiner Zeit hat er sich aber verhundertfacht, obwohl ihm kein Entschuldigungsgrund, weder größere Bequemlichkeit, noch Deutlichkeit, noch Wohlklang, noch irgend etwas zur Seite steht. Er beruht einzig und allein auf einer, noch dazu mißverständlichen Nachahmung französischer Syntax, wobei gänzlich außer acht gelassen wird, daß die Konjugation der französischen Verba durchaus von der unserigen verschieden ist und deshalb dem Satzbau andere Wege anweist.

Die Nachsicht gegen Gallizismen der Satzbildung ist nur eine Seite des Übels. Nicht bloß von außen, auch von innen heraus lassen wir gleichgültig die Formen der Muttersprache verunstalten. Die Bequemlichkeitssünden und die Handwerksmißbräuche der Kanzleien, der Zeitungsbureaus und der zahllosen Komiteeredaktionen dringen ungestraft in die Büchersprache ein. Die Vorzüge des Deutschen selbst müssen der Verschlechterung dienen; die wertvolle Fähigkeit, Zusammensetzungen zu bilden, führt, wie wir schon bei der Betrachtung der Fremdwörterverdeutschung gesehen haben, zum Gebrauch widerwärtiger Zusammenballungen, unter deren Last der Gang der Rede alle natürliche Behendigkeit verliert. Unglücklicherweise macht unsere Sprache es möglich, Wörter wie »Außerachtlassung«, »Inaussichtnahme«, »Wiederinstandsetzung«, »Übervorteilung« zu bilden, und diese Möglichkeit wird möglichst ausgebeutet. Wo der natürliche Mensch sagen würde: »Man fängt morgen an, die Bahn wieder in Stand zu setzen,« schreibt der neudeutsche Stilist: »Die Inangriffnahme der Wiederinstandsetzung der Bahn findet morgen statt.« Es wird nicht lange währen – denn das Ohr gewöhnt sich schnell an das Schlechte –, so wird man lesen: die Außerhauseanfertigung, die Zupferdesteigung, die Überfeldwanderung – warum nicht? Das eine ist ebenso möglich und ebenso deutsch wie das andere. »Nuraufgottbezogenheit« ist wirklich vorgekommen in einem Roman von Gutzkow.

Es ließe sich über dies Thema eine eigene Abhandlung schreiben, aber das Angeführte genügt, um zu zeigen, daß unter den Übeln, die unsere Sprache bedrängen, die Fremdwörterseuche nicht das größte ist. Nun kann man freilich sagen, sie sei, wenn auch nicht das größeste, doch immerhin ein Übel und deshalb zu bekämpfen. Dagegen hätte ich, unter den angegebenen Vorbehalten, an sich nichts einzuwenden. Nur ist zu besorgen, daß der Kampfeifer, wie er sich in Vereinen und patriotischen Kränzchen entfaltet, die Aufmerksamkeit von den ärgeren, tiefer sitzenden und eben deshalb nicht so in die Augen springenden Schäden ablenken und einer gewissen dogmatischen, ich hätte fast gesagt, schulmeisterlichen Sprachbehandlung, die mir gefährlicher erscheint, als alle Sünden der Verwilderung, mehr Vorschub leisten möchte, als gut ist.


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