Otto Gildemeister
Essays - Erster Band
Otto Gildemeister

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Moralisches Kapitel

(1893)

Die Frage, ob die Menschheit im Laufe der Zeiten moralisch besser wird, ist darum so schwer zu beantworten, weil die nämliche Wirkung, die nämliche Abnahme unsittlicher Handlungen, die nämliche Verbesserung in der Fürsorge für Schwache, Arme und Leidende, sowohl aus moralischen Motiven wie aus egoistischen hervorgerufen und ebensowohl einer besseren Erkenntnis wie einer veredelten Gesinnung ihren Ursprung verdanken kann. Und in sehr vielen, wenn nicht in den meisten Fällen, wo man einen wirklichen Fortschritt des sittlichen Zustandes in einer Gesellschaft mit einiger Sicherheit konstatieren kann, zum Beispiel in dem Falle der Abschaffung der Sklaverei innerhalb der zivilisierten Welt, findet man, daß sittliche Motive, bessere Erkenntnis und Berechnung zusammenwirken mußten, um den gewohnten schlechteren Zustand zu überwinden. Zu dem Erbarmen des Menschenfreundes mußte sich die erst allmählich dämmernde Einsicht gesellen, daß die Sklaverei nicht eine natürliche, sondern eine auf Gewalt sich gründende, des freien Bürgers unwürdige Institution sei, und nachdem sie auf solche Weise den guten Herzen und den guten Köpfen unsympathisch geworden war, mußte schließlich die Erfahrung, daß die Institution gefährlich und daß sie unwirtschaftlich sei, den letzten Schlag tun, der der Sache ein Ende machte.

Das unterliegt ja keinem Zweifel, daß die heutige Moral in vielen Stücken eine ganz andere ist als in der Vorzeit, nicht bloß der weit zurückliegenden, sondern auch uns naheliegender Perioden. Vieles, was heute von der öffentlichen Meinung strenge verdammt wird, galt noch im achtzehnten Jahrhundert für erlaubt oder wurde von ihr wenigstens mit stumpfer Gelassenheit als etwas in der Natur der Verhältnisse nun einmal Gegebenes hingenommen. Ein Schriftsteller wie Fielding, ein Mann von gesundester Komplexion in moralischer Beziehung, läßt seinen Lieblingshelden Tom Jones, für den er unsere Sympathie ganz unbefangen in Anspruch nimmt, in lasterhafte Tiefen versinken, vor denen Guy Maupassant sich bekreuzen und segnen würde. Noch vor einigen Wochen erregte die Londoner »Times« einen Sturm der Entrüstung, weil sie angedeutet hatte, daß die Bewilligung von Diäten an die Mitglieder des Unterhauses Herrn Gladstone eine Truppe irischer »Söldlinge« zur Verfügung stellen könnte. Im vorigen Jahrhundert war es ein öffentliches Geheimnis, daß die Majoritäten im Hause der Gemeinen mit barem Gelde oder mit geldwerten Begünstigungen gekauft wurden. Ich will nicht behaupten, daß niemand Anstoß daran genommen hätte, aber das Publikum ließ sich doch den Mißbrauch gefallen, und die Gesellschaft stieß kein »ehrenwertes« Mitglied deshalb aus, weil sie von ihm wußte, daß er sein Votum kommerziell verwerte. Selbst über eine Sünde, die heute den Ertappten unrettbar ins Verderben stürzt, über falsches Spiel, dachte man noch zu Zeiten Ludwigs XV. ziemlich nachsichtig. Der Panamaskandal, so arg er ist, spricht doch in gewisser Beziehung zu Gunsten der Gegenwart, insofern nämlich als der Lärm, den er erregt, die Wirkung dieser Enthüllungen auf das Land und die Politik, soviel davon auch auf Rechnung der planmäßigen Hetzerei geschrieben werden mag, eine weit stärkere Reaktion gegen die Verderbnis anzeigt, als sie ehemals, unter dem alten Regime, bei ähnlichen Anlässen zu Tage zu treten pflegte. Was Beaumarchais in seinen Prozeßmemoiren von den korrupten Praktiken der französischen Zivilgerichte erzählte, Praktiken, die in ihrer Art schlimmer waren als die Gaunereien der Cornelius Herz und Arton, machte allerdings auf ganz Europa einen sensationellen Eindruck, aber im ganzen doch mehr amüsierend als empörend.

Um noch einmal auf das Kapitel der Sklaverei zurückzukommen – an diesen groben Realitäten läßt sich, wenn überhaupt, am ehesten das Steigen und Fallen der unsichtbaren Fluida messen –, ist es nicht merkwürdig, daß in dem einen Zeitalter es für sündhaft gilt, Gold und Silber als Ware zu behandeln, während man sich kein Gewissen daraus macht, Menschen zu kaufen und zu verkaufen, wie man Pferde und Rinder kauft und verkauft, daß dagegen einige Jahrhunderte später der Menschenhandel bei Zuchthausstrafe verpönt, der Handel mit edlen Metallen eine erlaubte Beschäftigung ist? Das erstere war der Fall in der Blüte der mittelalterlichen Kultur, zu einer Zeit, wo Abälard, der heilige Bernhard, Franz von Assisi und Thomas von Aquino schrieben und predigten, wo Dante dichtete und eiferte. Es ist richtig, daß die Kirche es mißbilligte, Christenmenschen auf den Sklavenmarkt zu bringen, aber trotzdem geschah es doch allgemein, mit voller Sanktion der Gerichte und ohne Schaden für Ehre und Ansehen. Man hat oft gemeint, daß die Leibeigenen vor solchem Handel geschützt und nur mit der Scholle übertragbar gewesen seien; das ist aber keineswegs richtig; das Studium der Urkunden hat ergeben, daß ein recht lebhafter Umsatz in solchen weißen und getauften Sklaven in vielen der römischen Kirche angehörigen Staaten und viele Jahrhunderte hindurch stattgefunden hat und daß die geistlichen Gutsherrschaften sich durchaus nicht von diesem Geschäfte ausschlossen. In diesen selben Ländern aber fand man es schmählich und sündhaft, Geld auf Zinsen auszuleihen, und man erschöpfte sich in Kunstgriffen, um das, was in der Tat ein Leihgeschäft war, in verhüllende Rechtsformen zu verkleiden, auf die das Anathema der Kirche und die Strafandrohung des Königs keine Anwendung finde. Man tat das Unvermeidliche, aber man schämte sich. Wohlgemerkt, es ist nicht die Rede von dem, was wir Wucher nennen, die gewissenlose Ausbeutung der Not und der Unerfahrenheit, sondern von dem ganz gewöhnlichen Zinsennehmen für nutzenbringende Darlehen von kundigen und dispositionsfähigen Personen. Das erschien nicht etwa bloß als eine zwar von den Staatsgesetzen verbotene, übrigens aber untadelhafte Konterbande, wie etwa der Schmuggelhandel nach einem fremden Lande, sondern als eine Todsünde. In Dantes Hölle gibt es keinen Strafort für Menschenhändler, aber im siebenten Kreise werden die Geldverleiher von Florenz und Bologna, adlige Herren zum Teil, nicht etwa Juden, mit den Flammen gepeinigt, die den Frevlern wider Gott und Natur verhängt sind. In Rom und Hellas sind die Geldverleiher auch verhaßt genug gewesen und, wie es scheint, mit gutem Grunde, aber man hat, glaub' ich, die Sache selbst nicht so tragisch genommen, wie die Kirche und mit ihr die Volksmeinung des Mittelalters es taten. Wurde die wucherische Ausbeutung der kleinen Leute zu arg, so gab es wohl Mord und Totschlag, und der Staat fuhr revolutionär mit einem Schwamm über die Schuldbriefe, aber man sprach nicht von einer Sünde gegen die Natur. Erst die Christen des Mittelalters haben den natürlichen egoistischen Haß des Schuldners gegen den Gläubiger gewissermaßen zu einer Tugend erhoben; die scholastische Theorie fand leicht Eingang, da sie mit der Neigung des Volks so gut zusammenstimmte und sie selbst für den rohen Verstand etwas Einleuchtendes hatte.

Wir haben hier ein durchsichtiges Beispiel von der Entstehung einer Moral, einer bestimmten moralischen Gefühlsweise, die jahrhundertelang die Welt beherrscht hat und die damals ebensosehr wie irgend eine andere an- und eingeboren zu sein schien. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Menschen jener Zeit die Empfindung hatten, daß das Gewerbe des Geldverleihers ein verfluchtes sei, ungefähr so, wie man es heute vom Menschenhandel empfindet. Gold und Silber bringt keine Frucht, es vermehrt sich nicht aus sich selbst; es ist nicht klar, mit welchem Rechte der Inhaber dieser unfruchtbaren Metalle durch bloße Herleihung und bloßen Zeitverlauf, ohne eigene Arbeit, sich einen Zuwachs zu seinem toten Schatze verschafft. Bereichert er sich nicht lediglich durch die Arbeit des Schuldners und verstößt er nicht gegen das göttliche Gebot, das den Menschen anweist, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu essen und dies Brot sich zu verschaffen entweder durch die Gaben der Natur oder den ihm von Gott verliehenen Kunstfleiß? Man versteht es leicht, daß die Frage bejaht wurde in einer Zeit von geringer wirtschaftlicher Einsicht und mangelhafter Entwicklung des Kreditwesens, und man begreift auch, wie die moralische Empfindung allmählich sich danach modelte und so einwurzelte.

Wir erleben sogar heute eine zweite Auflage jener mittelalterlichen Anschauungsweise, wennschon vorerst nur noch innerhalb gewisser Sekten. Nicht zwar mit theologischen Gründen, aber mit mathematischen Formeln und ökonomischen Argumenten sucht eine neue Scholastik den Beweis zu führen, daß alles Einkommen aus Geldkapital Raub und Usurpation, und daß die Arbeit die alleinige legitime Quelle alles Reichtums sei. Und schon kann man deutlich bemerken, wie den mittelalterlichen Lehrsätzen mittelalterliche Gesinnungen folgen, eine innerliche Empörung vieler Gemüter wider alle diejenigen, die durch Geldgeschäfte einen, wie man sagt, arbeitslosen Gewinn machen. Bei den Lehrern und den Jüngern unserer neuesten ökonomischen Schulen finden wir denselben Ton sittlicher Entrüstung, der vor sechshundert Jahren sich gegen die Geldverleiher erhob, gegen »die Couponabschneider«, die »faulen Rentner« gerichtet, und von den hypothekarischen Gläubigern des Immobiliarbesitzes hört man häufig genug in einer Weise sprechen, als ob sie Vampire wären, die sich heimtückisch an den Hals des ahnungslosen Bauern und Rittergutsbesitzers gehängt hätten. Mit dem Fehlen der Intelligenz steht der Irrtum des moralischen Empfindens in engem Zusammenhange, und umgekehrt wird daher, so sollte man meinen, die bessere Einsicht auch ein besseres moralisches Empfinden und mit diesem, wenn auch nur piano piano, ein moralischeres Verhalten herbeiführen. Freilich lehrt gerade unser Beispiel, daß uralte Irrtümer immer wieder im Felde erscheinen, mit aufpolierten alten und klug ersonnenen neuen Waffen, und das verlorene Reich zurückzuerobern trachten, und daß man nie allzusehr auf die Macht der Vernunft vertrauen darf. Indes der einmal durchgedrungene Fortschritt besitzt doch eine Widerstandskraft, die viel größer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Der Angriff auf die Grundlagen der modernen Geldwirtschaft, auf ihre Berechtigung und ihre moralische Zulässigkeit, ist geräuschvoller als die Verteidigung und kann auf den oberflächlichen Beobachter den Eindruck größerer Kraft machen. Aber die Welt bewegt sich trotz allem Lärm ruhig weiter in den Gleisen, die ihr die Entwicklung des Verkehrs angewiesen hat; keine große und keine kleinere geschäftliche Unternehmung stellt sich auf den Boden der alten Theorien von der Unfruchtbarkeit der edlen Metalle, oder wenn es einmal geschieht, so folgt unfehlbar der Schiffbruch; und das moralische Verdammungsurteil, das die modernen Scholastiker über den Kapitalzins fällen, wird nirgend ernsthaft genommen, hat nirgend einen lebendigen Widerhall in den Gemütern gefunden. Millionen Menschen legen alljährlich ihre Ersparnisse in zinstragenden Papieren, Schuldverschreibungen, Hypotheken, Sparkassenbüchern und Banken an, und keiner von ihnen hat dabei jenes Mißgefühl, das bei dem Durchschnittsmenschen sich einstellt, wenn er sich im Widerspruch mit den Schicklichkeits- und Ehrbegriffen seiner Standesgenossen weiß. Und ebenso finden die Nichtkapitalisten im Grunde es ganz in der Ordnung, daß der Kapitalist nicht sein Geld vergräbt, sondern gegen Vergütung nutzbar macht, und die communis opinio urteilt, daß der Schuldner, der seine Zinsen nicht zahlt, abgesehen von Fällen des Unvermögens, unrecht tut. Von dieser Anschauung ist heutzutage die ganze Gesetzgebung und die Rechtspflege durchdrungen, und die Kirche selbst hat sich in diesem Punkte der modernen Moral stillschweigend anbequemt. Diejenigen, die sich gern dagegen aufbäumen möchten, finden es weit schwieriger, ihren Theorien praktische Geltung zu verschaffen, als ihre Vorgänger im Altertum und im Mittelalter es gefunden haben.

Ob die Summe der Bosheit, Ungerechtigkeit, Selbstsucht in dem einen Geschlechte größer oder geringer sei als in dem andern, läßt sich nicht ermitteln. Herzen und Nieren zu prüfen vermag kein Forscher. Wohl aber läßt sich ermessen, ob nicht die schlechten Triebe in dem einen Zeitalter von den Gesinnungen der Mehrheit, die sich in Sitte und Rechtsordnung verkörpern, mehr gehemmt und gebändigt werden als in einem anderen Zeitalter, mit anderen Worten, ob sich ein Fortschritt der Völkermoral, ein Wachstum der Macht sittlicher Ideen im öffentlichen Leben erkennen läßt, ganz abgesehen von der Frage, ob der sittliche Wert der Individuen sich ändere. Das ist zweierlei. Man kann zum Beispiel zugeben, daß der Junker des neunzehnten Jahrhunderts ein ebenso arger Räuber sein würde wie der Junker des vierzehnten und fünfzehnten, wenn er ungestraft und ungescheut die Straßen unsicher machen dürfte. Der alte Stegreifritter braucht nicht ein schlechterer Mensch gewesen zu sein, als sein zivilisierter Nachkomme es ist, aber er konnte dem räuberischen Gelüste die Zügel schießen lassen, ungestraft, weil die Polizei schwach war, ungescheut, weil seine Zeitgenossen das Wegelagern, wenn sie nicht persönlich darunter litten, mit großer Nachsicht beurteilten. Die Zeit liegt noch nicht sehr weit hinter uns, wo die wackersten und ehrenwertesten Kaufleute den Handel mit schwarzem Menschenfleisch als ein durchaus legitimes Gewerbe betrachteten und christliche Regierungen beim Abschluß von Handelsverträgen sich bemühten, ihrer Landesflagge einen möglichst ausgedehnten Anteil an der Negereinfuhr in die fremden Kolonien zu sichern. Ich möchte nicht dafür einstehen, daß unsere heutigen Kaufleute und Minister, wenn sie vor hundertundfünfzig Jahren gelebt hätten, durch ihre individuelle Moral vor solchem Tun gesichert gewesen wären. Der Eigennutz ist wohl ziemlich derselbe geblieben, der er war, aber die Schranken, die ihm die öffentliche Moral zieht, sind höher geworden; er hat lernen müssen sich selbst zu beherrschen.

Ähnliches läßt sich auf vielen anderen Gebieten erkennen. Im Zaume gehalten von der stärker gewordenen Autorität humaner Ideen, hat der Glaubenshaß auf seine Scheiterhaufen, der Amtseifer der Richter auf die Folterwerkzeuge verzichtet; auch die rohe Gleichgültigkeit sieht sich genötigt, die Armen, die Gefangenen, die Irren und die Kranken, sogar die Tiere mit einer Milde zu behandeln, die man in alten Zeiten als das Merkmal seltener Frömmigkeit pries. In unseren Kasernen, an Bord unserer Schiffe kommen zwar immer noch verdammenswerte Praktiken vor, aber welche allgemeine Entrüstung erregen sie, sobald sie einmal ans Tageslicht kommen, und wie fern liegt heute den vorgesetzten Behörden der Gedanke, derartige Dinge zu entschuldigen oder gar als notwendige Stützen der Disziplin rechtfertigen zu wollen! Spießrutenlaufen, Matrosenpressen, Rekrutenwerbungen alten Stils, wie unerträglich würden uns diese einst so alltäglichen und von niemand getadelten Vorkommnisse erscheinen! Enthüllungen wie die der verschiedenen Panamaprozesse töten heute sicher den Mann, dessen Blöße sie aufdecken, wenn nicht physisch, doch bürgerlich und gesellschaftlich; wenn man sich drei oder vier Generationen zurückversetzt, findet man, daß die Bereicherung durch politische Mittel den Leuten ganz natürlich vorkam und den Bereicherten in der öffentlichen Meinung nicht sonderlich schadete. Die Minister des ancien Régime, zu denen man noch Talleyrand rechnen darf, sammelten während ihrer Amtszeit Schätze, deren Ursprung niemand zweifelhaft sein konnte; das englische Parlament war unter den ersten Königen des Hauses Hannover offenkundig ein Markt, auf dem Vota gegen Guineen verkauft wurden; noch vor einigen Tagen bemerkte die »Times«, daß der Verdacht, englische Volksvertreter seien bestechlich, eigentlich erst in unserem Jahrhundert erloschen sei. Gleichwohl nannte man diese Herren auch im vorigen Jahrhundert ohne Ironie honorable gentlemen, – »alle, alle ehrenwert.« Und dem jüngeren Pitt wurde es auch im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts als ein besonderer Ruhm angerechnet, daß er arm starb: »Er ruinierte England gratis,« meinte Lord Byron, ein mildernder Umstand, der auf unsere Zeit keinen Eindruck mehr machen würde.

Fast noch merkwürdiger als diese Wandlungen des moralischen Urteils ist eine Verfeinerung des Ehrbegriffes, der in der höheren Gesellschaft Europas die Stelle der Moral vertrat und zum Teil noch vertritt. Heute und seit mindestens hundert Jahren gibt es für einen Kavalier keinen Makel, der, neben dem der Feigheit, so rettungslos vernichtend wäre wie der des falschen Spiels. Wer sich in der Memoirenliteratur der Zeit von Ludwig XIII. bis etwa zum Tode des Regenten Herzogs von Orleans umgesehen hat, wird sich erinnern, daß nicht selten vornehmer Herren und Damen Erwähnung geschieht, die am Kartentisch ihren Lebensunterhalt gewannen, mit denen zu spielen für gefährlich galt, die aber trotzdem unangefochten am Hofe und in den Salons verkehrten. Ein Nachklang jener Duldsamkeit gegen die Kunst, das Glück zu korrigieren, findet sich noch in der Naivetät, mit der der französische Abenteurer in »Minna von Barnhelm« sich seiner Gaunereien berühmt. Heute würde Lessing die Szene nicht so geschrieben haben; unsere Hochstapler würden sich wohl hüten, solche Geständnisse zu machen. Ich bin nicht der Meinung, daß die Edelleute im siebzehnten und im ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts das Falschspielen für etwas Schönes und Ritterliches gehalten hätten; aber sie hegten gegenüber den Missetätern dieser Kategorie eine Nachsicht, die uns unbegreiflich vorkommt, die man etwa mit der schonenden Beurteilung vergleichen kann, deren gegenwärtig sich ein Mann erfreut, wenn er ein fehlerbehaftetes Pferd zu gutem Preise los zu werden versteht. In der Regel waren die Ritter Fortunens geübte Fechter, und der Glaube, daß ein Mann seine Ehrenhaftigkeit mit der blanken Klinge zu beweisen im stande sei, kam ihnen lange Zeit zu statten: an sich galten sie keineswegs für satisfaktionsunfähig. Auf das weitschichtige Thema des Duells will ich bei diesem Anlasse nicht eingehen, obwohl es für meinen Zweck sich wohl verwerten ließe, da auch die »Moral« des Zweikampfes, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Spuren eines gewissen Fortschrittes aufzuweisen hat. Ich will nur kurz daran erinnern, daß eine der vier oder fünf leitenden Nationen, die englische, das Duell gänzlich aus ihren Sitten ausgetilgt hat, nicht mittels scharfer Strafgesetze, sondern lediglich durch die Umstimmung der Ansichten und der Empfindungsweise, die mir zu beweisen scheint, daß moralischer Mut (bei den ersten Führern der Reform) und common sense in England wirksamer sind als auf dem Kontinent.


Ich bin weit entfernt, die Fülle von Zweifeln und Einwendungen zu übersehen, die sich gegen die Hypothese von der moralischen Evolution erheben lassen, und noch weiter entfernt bin ich davon, den gegenwärtig erreichten Zustand für bereits sehr befriedigend zu halten. Man braucht ja nur summarisch die vergangenen Zeitalter Musterung passieren zu lassen, um sich von der Unsicherheit der Erziehungsresultate zu überzeugen, die man in aufsteigenden Perioden zu erkennen glaubt. Man braucht nur ins volle Menschenleben der Gegenwart hineinzugreifen, um zu finden, daß es, wo man es auch packt, zwar interessant, aber voll schrecklicher und widerwärtiger Erscheinungen ist. Was ich aus den Tatsachen, die sich erkennen lassen, herauslese, ist dies, daß doch Summa Summarum in diesen Dingen eine Bewegung, freilich in höchst komplizierten krummen Linien, aber im wesentlichen aufwärts sich wenigstens vermuten läßt und daß diese Bewegung stark genug erscheint, um, immerhin nur in langen Zeiträumen, zu Veränderungen zu führen, die man, wenn auch nicht im strengsten Sinne des Wortes, so doch der Praxis gegenüber mit Recht als moralische Veredelung unserer menschlichen Natur bezeichnen dürfte.

Von ihrem Ausgangspunkte, der Roscherschen vergleichenden Naturlehre der Staatsformen, haben diese Betrachtungen scheinbar mich weit abgeführt. Aber es waltet in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen dem Inhalte des preiswürdigen gelehrten Werkes und dem Thema meines anspruchslosen Artikels. Öffentliche Moral und Staatsleben stehen in dem Verhältnis zueinander, das man Wechselwirkung zu nennen pflegt, und je deutlicher das Wesen der Staatsformen uns von der Hand des Meisters dargelegt wird, umso lebhafter regt sich der Wunsch, auch die andere und tiefere Seite der menschlichen Zivilisation mit gleicher Fülle wissenschaftlichen Lichtes beleuchtet zu sehen.


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