Adolf Gelber
Negermärchen
Adolf Gelber

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Das Milchvöglein

Es war einmal ein Ehepaar, das wollte ein Stück Grasland zu Ackerland umarbeiten. Es arbeitete gleich am ersten Tage tüchtig und war froh, weil schon abends ein großes Stück Land aufgehackt und gelockert war. »Wirst sehen,« sagte der Mann zur Frau, »die Sache wird ganz gut.« Am andern Morgen waren sie frühzeitig wieder zur Stelle; aber was war das? Das Land war wieder knochenhart und mit Gras bedeckt, wie zuvor. Sie fingen von neuem an und nahmen alle Kräfte zusammen, um womöglich noch ein Stück weiter zu kommen, als am vorigen Tage. Am andern Morgen waren sie wieder frühzeitig zur Stelle. Aber was sahen sie? Alle ihre Arbeit war spurlos verschwunden. So ging's mehrere Tage lang.

Sie waren sehr bekümmert und der Mann sagte: »Ich will mich die Nacht über hier versteckt halten, um zu sehen, wer uns so plagt.« So blieb er in einem Haufen Heu versteckt die Nacht über auf dem Felde, und nachdem er lange Zeit vergeblich gelauert hatte, sah er, wie endlich ein kleines Vöglein kam. Zwitschernd flog es über den Acker kreuz und quer und wurde nicht müde zu zwitschern und zu singen; und wie es so kreuz und quer flog, begannen sich die Erdschollen umzuwenden und das Land wurde fest wie zuvor. Wie es dann mit seiner Vernichtungsarbeit fertig war, setzte es sich auf den Heuhaufen, unter dem der Mann steckte. Da faßte er es, kam aus dem Heu hervor und wollte es umbringen.

In diesem Augenblicke kam seine Frau mit ihrem kleinen Mädchen, das jetzt acht Jahre alt war, und das Kind sagte: »Lieber Vater, töte es nicht.« Da flehte ihn auch das Vöglein an und sagte: »Lieber Mann, folge deinem Kinde und verschone mich.« »Du hast uns aber soviel Schaden gestiftet,« sprach der Mann; doch das Vöglein sagte: »Alles was ich dir verdorben habe, will ich wieder gut machen, wenn du mich am Leben lässest. Stets will ich bei dir bleiben, und dann soll es dir an Milch nimmer fehlen. Täglich will ich dir schöne dicke Milch geben, soviel du nur begehrst.« Der Mann fragte: »Woher willst du denn die Milch holen?« Das Vöglein sagte: »Ich selbst will sie dir geben, ich bin ein Wundervöglein und kann sie hervorbringen; halte deine Hand auf, so sollst du sehen, daß ich wahr rede.« Da hielt der Mann seine Hand auf und das Vöglein füllte sie mit Milch. Die Frau sagte: »Sie ist gut« und das Kind sagte: »Mich freut es am meisten, daß ihr es nicht getötet habt.« Darauf gingen sie nach Hause, und das Vöglein füllte den größten Topf bis oben und fragte: »Habt ihr vielleicht noch einen Topf?« Sie hatten einen und alle konnten sich satt essen; und am folgenden Morgen, ehe sie aufs Feld hinaus gingen, gab es wieder Milch. So ging es eine Zeit lang, bis die Mutter einmal sagte: »Brav war es bis jetzt, aber vielleicht fliegt es davon.« »O nein, das wird es nicht tun,« sagte das Kind, »es ist treu und wird bei uns bleiben,« aber die Mutter sagte: »Was verstehst du, du bist ein Kind.« Darauf verschlossen sie, wenn sie weggingen, das Vöglein im Hause und verboten dem Kind, wenn es mit dem Jüngsten daheim blieb, in das Haus zu gehen, da das Vöglein sonst entschlüpfen würde; und wenn es bat: »Öffne doch, öffne,« sagte die Kleine: »Ich darf ja nicht, weil der Vater und die Mutter mich sonst schlagen.«

Aber eines Tages, als die Gespielinnen kamen sagten sie: »Zeig uns doch das Vöglein« und baten und baten – da öffnete sie die Tür und ging ins Haus, während die andern beim Ausgang standen, damit es nicht davonflöge. Aber es versuchte gar nicht zu entfliehen, sondern begann wunderschön zu tanzen, zu hüpfen und zu springen, und die Kinder sagten: »Nein, das ist zu schön.« Darauf sagte das Vöglein: »Ach, Kinder, könntet ihr denn recht sehen, wie ich tanze? Hier im Hause ist's dunkel. Ließet ihr mich auf den Hof hinaus; da würde ich euch was zeigen. Und ihr brauchet auch nicht zu fürchten, daß ich entfliehen will.« So ließen sie das Vöglein hinaus und vor dem Hause tanzte es noch drolliger, sprang kreuz und quer und drehte sich und begann zu singen. Dabei stieß es an den Zaun des engen Hofes und sagte: »Ach, ließet ihr mich nach dem Viehkraal gehen, der ist größer und stößt sich nicht an den Zaun; da würdet ihr euch wundern.« So gingen sie und wirklich, wie es da im Viehkraal tanzte, das hatten sie noch nie gesehen.

Alle jauchzten und waren außer sich, nur das Vöglein war mit sich nicht zufrieden. »Nein, ich muß mich vor euch schämen,« sagte es. »Seht doch, wie uneben der Boden ist, die Rinder haben ihn zertreten, und mit meinen kleinen Füßen komme ich nicht vom Fleck. Und schmutzig ist's . . . Kommt, laßt uns hinausgehen auf den breiten Weg vor dem Dorf, da sollt ihr sehen, wie ich tanze.« Und richtig stimmten die Kinder zu: sie waren bezaubert, und draußen vor dem Dorfe kam alt und jung herbei und freute sich am Tanze. Kreuz und quer, auf und ab ging der Tanz, und die Leute fielen vor Lachen schier um; sie konnten sich nicht mehr halten. Da aber husch, erhob es sich in die Luft und rief: »War das der Dank, daß ihr mich soviele Tage lang im Hause eingeschlossen habet?« So rief es und flog höhnisch über ihren Köpfen umher, und hast du es nicht gesehen, flog es auf und davon.

Das kleine Mädchen meinte. »Was werden die Eltern sagen,« klagte sie, »wenn sie heimkehren und das Vöglein nicht finden; wie wird's mir ergehen?« Dann lief es, was es konnte dem Vöglein nach und die Gespielinnen mit ihm, die es aber nicht lange aushielten; eines nach dem andern kehrten sie wieder um. Das kleine Mädchen aber lief in seiner Angst immer weiter und sah weder rechts noch links, sondern immer nur dem Vöglein nach. Endlich blieb es erschöpft stehen. Die Sonne war eben untergegangen, und wie es sich umsah, wo es eigentlich wäre, kam ihm alles stockfremd vor. Noch nie war es in diese Gegend gekommen und wußte nicht, wohin es sich wenden sollte. Es sah keinen Menschen, keinen Weg und Steg. Da wurde ihm schauerlich zu Mute und es rief: »Vöglein, um dein Leben habe ich gebeten und ist das der Dank?«

Es begann zu regnen, und wie ein Blitz den Himmel zerschnitt, erblickte sie in der Nähe eine Felsgrotte und flüchtete weinend hinein. Da hörte sie plötzlich Schritte und erschrak, als sie einen bösen, großen, schwarzen Mann hereinkommen sah. Es war der Menschenfresser. Er machte ein Feuer an und sie erkannte, daß er auf seinen Schultern einen Sack trug. Da er auf sie zukam und sie nicht mehr entfliehen konnte, sank sie auf die Knie und sagte: »Ach, lieber Mann, ich habe mich hierher verirrt, weil ich dem treulosen Milchvöglein nachgelaufen bin. Kannst du mir nicht den Weg nach Hause zeigen?« Da lachte der Mann und sagte: »Ja, mein Kind, dem Vogel soll man nicht glauben, und du sollst mit mir kommen und wohl nach Hause gelangen. Aber zu mir nach Hause, und wenn wir dort angelangt sind, werde ich dich schön braten und rasch verzehren.« Damit packte er sie, schob sie in seinen Sack und verließ, da es wieder zu regnen aufgehört hatte, die Höhle. Das Kind fing in seiner Angst an, ihn zu bitten, er möge es verschonen und es zu seiner Mutter bringen; aber kein Bitten half, sondern er erwiderte: »Du sollst schon sehen, was ich tue, weil du dem Milchvöglein vertraut hast.« Und da wiederholte die Kleine: »Milchvöglein, ist das der Dank?«

Inzwischen waren die Eltern nach Hause zurückgekehrt, und die Leute erzählten ihnen, was geschehen war, und daß das Milchvöglein gerufen hatte: »Ist das der Dank, daß ihr mich im Hause eingeschlossen habt?« Da machten sie sich eiligst auf, um das Kind zu suchen, der Vater dahin, die Mutter dorthin, und keines wußte, wohin es sich wenden sollte. Da hörte die Mutter von einem Baum herab plötzlich eine Stimme, die sang:

»Mutter, Mutter, Mütterlein,
Schlossest mich im Hause ein.«

Sie erkannte, daß es das Milchvöglein war und bat:

»Rette mein Kind und hab' mit ihm Mitleid.«

Darauf sagte die Stimme wieder:

»Sieh den Mann dort mit dem Sack,
Er trägt dein Kindchen huckepack.«

Gleich erblickte sie den Mann, der eben mit dem Sack auf dem Rücken aus dem Walde daherkam, und in demselben Augenblicke hörte das Kind das Vöglein, das flüsterte:

»Sei ganz still, mein Mägdelein,
Nah ist schon das Mütterlein.«

Und gleichzeitig begann ein Honigvogel zu rufen und zu singen:

»Summ – summ – summ – summ,
Bienen schwärmen da herum;
Sing – sang – sung – ser,
Bienenhonig lieb ich sehr.«

Und da sagte der Menschenfresser, als er dies hörte: »Ach, mein lieber Honigvogel, das ist ja gut, daß ich so nahe deinen Gesang höre; da wird ja auch gleich in der Nähe der Bienenstock sein, und ich kann mich mit dem Honig anfressen, den ich so liebe; und es ist doch gut, daß niemand da ist, der mir den Sack davontragen wird.« Damit stellte er den Sack auf den Boden und eilte in den Wald, dem rufenden Vogel nach. Aber jedesmal, wenn er bei dem Bienenschwarm angekommen zu sein glaubte, sah er sich getäuscht und hörte auf einer anderen Stelle den zwitschernden Honigvogel, der aber natürlich das Milchvöglein war. Während er so umherirrte, war aber die Mutter aus ihrem Versteck hervorgetreten, hatte ihr Töchterchen befreit und zeigte ihm die Richtung, nach der es laufen sollte und sagte: »Geh, sei aber mäuschenstill, ich komme bald nach.« Denn sie war doch sehr klug, die Mutter, und als das Kind leise davongeschlichen war, ging sie zu einem Strauche, auf dem jetzt auf einmal ein Bienenschwarm saß, hielt den Sack unter und schüttelte die Bienen hinein. Dann band sie den Sack zu und lief ebenfalls eiligst davon. Und als dann der Menschenfresser zornig zurückkam, weil er doch vergeblich nach Honig gesucht hatte, wunderte er sich, daß er den Sack auf einmal so leicht fand und öffnete ihn, um nachzusehen. Da kamen die Bienen herausgeflogen und zerstachen ihn, daß er vor Schmerzen brüllte wie ein Ochse. Er lief davon, aber die Bienen ihm nach, während die Honigvögel alle sangen:

»Summ – summ – summ – summ,
Gehst du mit dem Sack herum,
Tust die kleinen Kinder stehlen,
Braten und zu Tode quälen?
Summ – summ – summ – summ,
Das kleine Vöglein bringt dich um.«

Als nun die Mutter mit ihrem Töchterchen, und dann auch der Vater nach Hause zurückkehrte, freuten sie sich alle, daß das Kind gerettet worden war. Aber denkt euch, wie sie früh aufmachten, war auf einmal auch das Milchvöglein wieder da und niemals mehr fehlte bei ihnen die Milch im Hause.


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