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Fünfundvierzigstes Kapitel

Den Hornung hindurch lag die Reifkälte über den Inseln; die legte den Rauchfrost faustdick an Giebel und Dächer. Und zu Anfang des Märzenmonats rann der Regen, rann ganz leise, rann unaufhörlich und spannte graue Fäden durch die Luft wie ein grämliches Novemberwetter.

Da ward die See offen, und das Segel des Postschiffers tauchte endlich aus dem Grau eines Tages – acht Wochen hatte keiner eine Nachricht von draußen erhalten.

Der Postschiffer legte an. »Ein Brief von Jens Klähn?« fragten sie. Sie fragten's durch alle Häuser; aber ihr heimliches Hoffen wandelte sich in wehmütige Trauer: ein Brief von Jens Klähn?

Keiner!

Ocke Frerksen steuerte in dieser Zeit, in der der Postschiffer gegen Habel segelte, nach der Hintertür zu Kei Bonkens Haus und sprach mit ihr über den Gonger. Sie redeten mit geheimnisvollen Augen und deutsamen Gesichtern, und Kei Bonken blieb dabei: sie hätte den Gonger gesehen. Er hatte graue müde Augen; es war ein traurig Bild.

Wie Ocke Frerksen mit nachdenklichem Gesicht aus dem Hause trat, sah er Jochen Klähn drüben über die See schauen.

»Der Postschiffer kommt ja zurück!« rief ihm Klähn entgegen.

Frerksen sah prüfend in den grauen Tag. »Wahrhaftig! Da ist auf Habel nicht alles in Ordnung, Du!« sagte er, faßte Jochen Klähn am Ärmel, und die beiden liefen die Werftböschung hinab.

Der Postschiffer winkte ihnen schon von ferne: Frau Sikke hat ihn mit der Nachricht geschickt, und er erzählt, wie sie acht Wochen bei dem Toten gewacht hat, wie der salzige Seewind über ihn wehte ... Aber nun ist kein Säumen mehr; der Südwind geht warm durch die offenen Fenster, und Ketel Klähn muß in die Erde. Frau Sikke bittet: helft mir den Toten begraben!

Und sie machten das Boot seefertig; am anderen Tage brachte das Postschiff den Arzt mit, der den Totenschein ausstellte, und am dritten Tage haben sie Ketel Klähn in die tauige Frühlingserde gelegt. Sie haben die Tür zugeschlossen am Hause Ketels und Frau Sikke mit hinübergenommen nach Klähns-Hallig.

Wie sich die Abenddämmerung schwer in die Nebel dieses Tages legte, wachte der Sturm auf und keuchte bald wie einer, der lange hastig gelaufen ist. Er tutete die lange Nacht in seine Muschel – hu – hu! Und wie das Licht des Morgens langsam heraufkroch, stieg Knudt Klähn von seinem Lager, zu sehen, ob das Vorland noch unter Wasser sei. Aber er sah nicht lange die Werftböschung hinab und nicht mehr über die Fennen; er hatte seine Augen weit hinausgerichtet.

»Eine Brigg in Not!« murmelte er und schlug an die Tür, hinter der Jochen Klähn schlief. Dann warf er sich die Kleidung über und fuhr in die Seestiefel.

»Heraus!« rief er weckend über die Werft, und der Schall seiner Stimme flog in die Häuser. Da ward es drinnen lebendig. Der heiße Tee dampfte aus den Tassen. Die Männer aßen und tranken im Stehen, und ihre Augen suchten in dem bleiernen mürrischen Grau des Morgens nach der Brigg. Die Wogen zischten gegen die Kante, und Ocke Frerksen stand schon unten auf dem Gras, neben ihm Ipke Tamen. Der Alte suchte das Schiff in Not in sein Glas zu kriegen. Da kamen die Klähns, die Kalkstummel zwischen den Zähnen, die Augen draußen in See. Der Wind riß ihnen den Tabakrauch von den Lippen, zerblies die glimmende Glut der Pfeifen und warf die Funken herum.

Da rollte es heran – wie ein Heer von Rossen über eine Brücke stampft: Märzgewitter!

In Stößen flog der Wind.

In kurzen Pausen rollte der Donner.

Der Westhimmel stand schwarz auf der See.

»Sie laufen unter gerefften Sturmsegeln!« sagte der Kapitän und brachte das Glas nicht von den Augen. Er lief dabei wenige Schritte seitwärts und wieder zurück, als wär' er an Deck. Und als müßten die ihn drüben hören, begann er zu kommandieren: »Loten! Loten!«

Er sah alle Mann an Deck. Und die Frauen kamen von der Werft herab.

Der Wind schlug Schaum aus der See. Die brüllte heran und brüllte um die Brigg.

»Drei Mann an Steuer!« rief Ocke Frerksen. »Anker los! Stüerbordanker! Backbordanker los!«

Immer noch jagte die Brigg durch die rasende See.

Da – ein Ruck –

»Fest!« rief Frerksen. »Knudt Klähn, sie haben lange Ketten gegeben, nun reiten sie das Wetter vor Anker ab.«

Überdem war Jochen Klähn in dem Boote, das er seefertig gemacht hatte, herangetrieben.

»Was willst Du damit?« fragte der Kapitän und zog Jochen heraus ans Land. »Willst Du etwa hinaus – und jetzt?«

Da schrien die Frauen laut auf. Der Kapitän rief in den Sturm.

»Die Ketten gerissen!« sagte Jochen Klähn.

Und drüben richtete sich das Vorschiff hoch auf; der Sturm nahm's in die Hände und warf's breitseits vor sich hin. Die See stürzte sich wie ein Ungeheuer darauf und begann ihr fürchterliches Spiel damit.

Bald schoß das Schiff hinunter in die See, bald hinauf auf die weißen Kämme der Wogen wie ein windiges Papierfahrzeug.

Nun kam von drüben ein Knallen und Krachen: das Schiff saß auf, der Fockmast ging prasselnd über Bord, der Wind heulte hinter ihm drein.

Nun der Großmast fort! Da!

Und dröhnend legte der sich um und riß die ganze Takelage hinunter in die See. Die Boote zerschmetterten –

Da sprang Jochen Klähn in sein Schiff: »Jetzt ist kein Zögern mehr! Ahoi, Ipke Tamen! Uwe Nomsen, helft!«

Knudt Klähn legte mit Hand an. Aber die Frauen schrien durcheinander.

Da sprang Binne Bonken in das Boot und legte ihre Hände Jochen Klähn auf die Achseln, und Goede Klähn kam heran: »Du darfst nicht, Jochen!«

Da ertönte von draußen ein gewaltiger Krach, vor dem die Herzen der Frauen den Schlag vergaßen. Das ganze Vorschiff lag zerschmettert, die See sprang in den Laderaum, wühlte mit gierigen Händen Kisten, Säcke und Fässer heraus, Blanken und Bretter richtete sie auf; die treibenden Masten stachen aus den Wogen. Die nahmen sie und führten sie als Waffen gegen das Wrack.

Da machte Jochen Klähn das Boot los, und unter den Wehrufen der Frauen trieb es hinaus. Ipke Tamen, die Klähns und Uwe Nomsen bildeten seine Bemannung. Binne Bonken hatte ihre Arme um Goede Klähns Hals geschlungen: der Frau vergingen die Sinne.

Das Boot trieb in die Schiffstrümmer hinein. Die See spie Schaum über die Männer, die Flut schlug zischend darüber.

»Da kann keiner wiederkommen, keiner!« brummte Frerksen.

Und Goede Klähn sank in das nasse Gras, und Binne Bonken deckte ihr die Augen mit ihren Händen.

Und doch rangen sie sich von drüben herüber: ihrer zehn waren nun in dem Boote. Das trieb an Land, triefend von salziger Flut und erstarrt von der Kälte und Qual, trugen sie die Männer heraus.

Sechs waren gerettet, zwei waren über Bord gespült – ein einziger muß noch drüben sein auf dem verlorenen Fahrzeug und mit dem Tode ringen!

Da eilte Jochen Klähn dem Boote wieder zu, aber Frerksen stürzte ihm nach und faßte ihn hart an: »Bist Du toll, Jochen Klähn?«

Und Binne Bonken und Goede Klähn drängten sich zu ihm. Die Mutter stand mit ringenden Händen vor ihm und warf ihre Arme um den tapferen Sohn.

Der machte sich los. »Mutter,« rief er, »weißt Du, ob der drüben nicht auch von einer Mutter ersehnt wird, die in ihm ihr einziges Kind verliert? Weißt Du, Binne Bonken, ob der drüben nicht Vater weinender Kinder ist, die um ihn im Elend verzagen?«

Und Jochen Klähn rang sich los und sprang wieder ins Boot. Da zog sich Uwe Nomsen den Südwester fest auf die Stirn und schritt ihm nach. Es ging sonst keiner mit ihm. Aber das unbegrenzte Vertrauen in Jochen Klähns starke Kraft machte sein Herz mutig.

»Ahoi!« schrie Jochen Klähn.

Da flog das Boot hinaus. Die See warf's im Schwunge weit von der Kante.

»Das geht über Menschenkraft! Das heißt Gott versuchen!« schalt Ocke Frerksen hinterdrein.

An der Kante wälzte die See eine Leiche herauf. Für einen Augenblick vergaßen sie die zwei, die drüben das rettende Boot an dem Tode vorbeizwangen.

»Dat's ons Bootsmann,« sagte der Schiffsjunge. »Dat is he ...«

Er stand neben der Leiche, und seine warmen Tränen rollten dem Toten auf die Stirn.

Aber ihre suchenden Augen flogen wieder hinaus.

»Jetzt,« rief Frerksen, »jetzt erklettert er das Wrack! Jetzt – – Er schleppt ja einen Toten herunter! Was wollen sie denn mit einem Toten?« Und Frerksen schrie mit der ganzen Kraft seiner Stimme hinaus: »Herunter, Jochen Klähn, das Deck birst!«

Es war ihm, als müsse sein gewaltiger Ruf die drüben erreichen. Aber der Wind warf ihn zurück. Da brach das Wrack in sich zusammen. Die Blanken starrten in wirrem Durcheinander um das Boot, und nun sahen sie, wie Uwe Nomsen einem Versinkenden das Tau entgegenwarf.

Und schon flog das Schiff durch Nebel und Sturm heran. Uwe Nomsen stand am Steuer – der Sturm ward müde, aber die See kochte. Ipke Tamen stand bis an die Hüften draußen auf dem Watt und warf ihnen ein Tau zu. Nun zog er das Boot heran – nun drehte es bei. Jochen Klähn kniete darin, und sie sahen, daß er einen schier leblosen Leib in seine Arme nahm, den er vorhin über das berstende Hinterdeck der Brigg geschleift hatte. Dem, den er mit seinen starken Armen umfaßte, klebten die nassen Haare auf der Stirn, seine Augen waren geschlossen –

»Nehmt den da!« sagte Jochen Klähn, als ihn die am Ufer umdrängten.

»Dat's de Fremde!« rief der Schiffsjunge.

Die Kleider Klähns und des Geretteten troffen von Wasser, die Schiffsjacke, die er trug, war über der Brust geöffnet, das Hemd war zerrissen, und um den entblößten Hals hing ihm ein goldener Reif an blauseidener Schnur.

» Jens Klähn!!« schrie Ipke Tamen, wie er dem Leblosen ins Gesicht starrte.

Der Ruf schlug in die Herren und begegnete dem Angstschrei der Frauen. Die breiteten ihre Tücher aus, und Jochen Klähn legte den Bewußtlosen darauf. Er atmet!

Und Binne Bonken und Goede Klähn warfen sich weinend über den Geretteten.

Dann trugen sie ihn auf die Werft. Es war ein stiller Zug. Hinterdrein, die letzten, gingen Binne Bonken und Jochen Klähn.

Und alle hatten es gesehen: Binne Bonken hatte ihm in den Armen gelegen und hatte sein Gesicht und seine Hände mit heißen Küssen des Dankes bedeckt.


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