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Vierzigstes Kapitel

Die Frühlingstage, die segnend über das Vorland gingen, sahen lachendes Leben – überall. Arbeiter waren geschickt, jede Flut brachte Ewer, mit Steinen beladen – die Einsamkeit der Eilande stand verwundert im überblühten Gras – aber kein Ohr hatte Zeit, hinzuhören, kein Auge hatte Zeit zum Verweilen. Alles war Leben und Tätigkeit. Da floh die Einsamkeit weit hinaus auf das Watt.

An der Südwestecke der Werft von Klähns-Hallig war eine Baracke erbaut, in der die Arbeiter nächtigten. Schienen wurden durch die Inselstille geführt, auf denen kleine Wagen die schwere bindende Kleierde vom Watt hereintrugen.

Mit Schlägel und Keil standen die Arbeiter und sprengten die Steine; andere waren dabei, die zernagten Uferkanten der Insel zu festigen. Berge von Ton und Sand häuften sich auf, und immer gewaltiger wurden die Massen der Felsblöcke, die die Ostsee aus ihren unerschöpflichen Lagern spendete und die die Ewer auf weiten Wasserwegen bis herüber zu den Inseln im Winde schleppten. –

Die Frühlingssonne legte Tafeln aus blankem Gold auf die braunen Dielen in Binne Bonkens Stube.

Das Mädchen saß am Fenster und hatte die braune Pappschachtel auf dem Schoß, in der die roten und blauen Seidenbänder lagen; es waren auch schwarze dabei, die waren von Kei Bonken – aus der Zeit, da Jürgen Bonken nicht mehr heimgekommen war.

Binne wickelte die Bänder sauber über die Finger ... Da ist ja auch –

Ein rosiges Licht flog auf ihre Stirn, denn sie hielt die blauen Leinblüten in der Hand, die sie an jenem Weihnachtsabende getragen hatte, an welchem ihr die blanken Augen Jochen Klähns in den Weg getreten waren. Und Jochen Klähn hatte zu ihr gesagt: »Die blauen Leinblüten müßtest Du wieder in Dein goldenes Haar tun, Binne Bonken! Wenn ich an Dich denke, oder wenn ich von Dir träume, dann trägst Du sie immer und trägst auch den goldenen Gürtel.«

Über diesen Gedanken wurden Binne Bonkens Augen noch stiller, und sie legte den Strauß nun ganz zu unterst in den Kasten, damit ihn die Bänder verdeckten.

Wenn Jens Klähn wiedergekommen ist, dachte sie, dann will ich noch einmal »Christkindchen« sein. Aber früher kommen die blauen Blüten nicht mehr heraus ... Und ins Haar nun gar nicht!

Da gingen draußen auf dem Pflaster, das an der Innenseite der Häuser um den Fething lief, feste schwere Schritte.

Das ist Jochen Klähn!

Und schon sah ihn das Mädchen gegen das Haus schreiten; sein Anzug trug die Spuren der Vermessungsarbeiten im Watt.

Der Kasten, in dem die blauen Blüten lagen, verschwand eilig im Bettschrank.

Inzwischen hatte sich Jochen Klähn draußen an das Fenster gestellt: »Ist Kei Bonken daheim?«

»Sie ist in der Küche. Was willst Du von ihr?«

»Darf ich hineinkommen?« fragte Jochen Klähn.

Nun ging er hinein, und sie rückte ihm einen Stuhl in die Nähe des Fensters. Aber Jochen Klähn sah: Binne Bonkens Augen mieden ihn und glitten hilflos durch das Zimmer.

»Was willst Du denn von Kei Bonken?« fragte sie nochmals und machte sich mit einem Bande zu schaffen, das sie vorhin auf der Fensterbank liegen gelassen hatte.

»Sind in Jürgens Schiffskiste noch andere Karten gewesen, als die eine, die Ihr mir schon hinübergegeben habt?«

»Nein, ich glaube nicht. Wolltest Du noch mehr?« fragte sie.

Da stand Jochen Klähn vom Stuhl auf: »Ich freue mich, daß ich Dich gesehen habe. Warum kommst Du nicht mehr hinüber zu uns, Binne Bonken? Des Abends hättest Du doch Zeit dazu. Ihr seid zu einsam hier, Ihr zwei Frauen.«

Da schaute ihn Binne Bonken lange an: »Wir sind vertraut mit der Stille; und nur die Fremden starren sie mit großen Augen an und denken: wie ist sie arm!«

»Das war ein gutes Wort, Binne Bonken! Aber ich weiß, Du wolltest es gar nicht sagen; Du wolltest unfreundlich zu mir sein.«

Da kam wieder die Angst über das Mädchen; denn sie fühlte, wie seine Augen nach den ihren suchten, und wenn sie jetzt gesprochen hätte, dann hätte sie ihr Herz verraten.

»Du hast Bänder auf dem Fensterbrett liegen,« deutete Jochen Klähn.

»Ach, nur alte, die werden fortgeworfen.«

»Hast Du die blauen Blüten auch fortgeworfen?«

»Nein. Jochen – so frag doch nicht danach!«

Da trat Jochen Klähn vor sie hin: »Warum ist Dir denn nun wieder angst, Binne? Weißt Du nicht, daß sie Dich noch schöner machen?«

»Jochen Klähn!«

»Ach,« scherzte Jochen, »laß Dir das doch sagen! Andere Mädchen hören das gern, und Du wirst böse darüber. Geh, such die Blüten und tu sie Dir ins Haar, jetzt gleich!«

Da wurden Binne Bonkens Augen noch ernster: »Für Dich, Jochen Klähn?«

»Wenn Du willst, ja!«

»Dann will ich nicht!« sagte sie kurz und hart und wandte sich nach dem Fenster.

Jochen Klähn sah sie lange an, er wußte sich diese seltsame Art nicht zu deuten. Dann sagte er: »Binne Bonken, ich habe Dich oft darüber gefunden, daß Du weit draußen suchtest, wie der Schiffer nach einem Segel. Andere Mädchen suchen Blumen und pflücken sich welche, um jemand den Strauß zu bringen ...«

»Das mag sein. Aber ich habe keinen Menschen, dem ich sie bringen möchte.«

»So sag' mir doch nur, warum Du so sehnsüchtig bist? Alles, was Du lieb haben kannst, ist ja so nahe!«

Da versuchte Binne zu lachen: »Sehnsucht sagst Du? Hast Du in meinen Augen Sehnsucht gefunden?« forschte sie und ihre Stimme ward unsicher.

»Ich denke!« entgegnete Jochen Klähn – »oder ich versteh Dich nicht.« – »Binne Bonken,« fuhr er nach einer Weile fort, »Du solltest sorgen, daß Deine Augen die Menschen nicht mehr so fliehen wie bisher. An mir schaust Du wenigstens immer vorbei –« Da lehnte sich Jochen Klähn neben sie an die Fensterbank und legte seine Hand auf ihren Arm: »Bist Du nicht froh darüber, daß sie nun unser Hab und Gut schützen und unser Glück, Binne, das an dieser vergehenden Heimat hing? Ich habe um dieses Glück gekämpft – auch für Dich und mich, Mädchen ...«

Binne Bonkens Augen suchten einen Weg an ihm vorbei; und ihr Herz schrie um Hilfe, denn sie konnte dem stillen suchenden Blick nicht entfliehen.

»Mutter!« rief sie laut, weil sie fühlte: so durfte Jochen Klähn nicht weiter zu ihr reden.

Da klangen auf der Vordiele Kei Bonkens Schritte. Nun trocknete sich die Frau die Hände an der blauen Schürze ab und stand unter der Tür.

»Mutter, ob Karten in der Schiffskiste wären, Seekarten, oder solche von den Inseln, möchte Jochen Klähn wissen.«

Kei Bonken lehnte sinnend am Türpfosten: »Nein, Knudt Klähn hat schon genommen, was da war!«

Da eilte Binne Bonken hinaus, als gehe sie suchen. Sie riß das Fenster in der Küche auf, und der Frühlingstag lachte ihr ins Gesicht, und der Wind fiel ihr um den Hals und streichelte ihr die heiße Stirn.

Da ging auch Jochen Klähn hinaus in das Licht der jungen Sonne. Er wußte die Angst des Mädchens sich nicht zu deuten; denn er hatte gesehen: Binne Bonken litt unter seinen Augen, und sie litt unter jedem Worte seines Mundes. –

Längs der gefährdeten Halligkante gruben die blanken Spaten den Grund, warfen Männer Böschungen auf, über welche schützende Steindecken gelegt werden sollten, an denen die Kraft der See zerschellte. Allenthalben pulste sieghaftes Leben.

An der einen Seite der Hallig, die nach dem Festlande hin lag, sollte ein Damm angesetzt werden. Aber unaufhörlich nagte die Flut, stemmte sich die See gegen die ungewohnte Brüstung.

Auch auf Habel hatten die Bauten begonnen; dort hatte Ketel Klähn mit guten Ratschlägen dienen wollen. Aber er hatte kein Glück damit gehabt – da stellte er sein Licht wieder unter den Scheffel. Frau Sikke behauptete, das hätte sie ihm vorher sagen sönnen. Aber Ketel Klähn grollte ihr nicht; denn er kam sich vor wie einer, der vor der langersehnten Ernte eines mit Fleiß gehegten Baumes steht: nun streckte er die Hand aus nach den goldenen Früchten, deren Wachstum aus der Blüte dieses Frühlings er erwartete.

Wie der Sommer kam, stieß der Einsiedler von Habel den Dengelstock in den Grasgrund und schlug für sich und einen gedungenen Arbeiter den Sensen die Schärfen zu gedeihlicher Mahd. Der Wetzstein fuhr singend über das Blatt, und der Wind sprang zwischen den sausenden Sensen wie ein fürwitziger Gaukler umher.

Frau Silke schritt hinter den Mähenden drein und breitete die Schwaden mit der Harke.

Eines Morgens, es war ein Sonnabend, sah sie den Postschiffer gegen Habel ansegeln; der kam von Klähns-Hallig, und weil er Ketel Klähn weit draußen auf dem Vorlande sah, entledigte er sich seines Auftrages bei Frau Sikke: »Ketel Klähn soll morgen früh oder noch heute nach Klähns-Hallig segeln!«

Da machte Frau Sikke verwunderte Augen. »Und zum Pastor, sagst Du?«

Weil sie im Schutze der Werft standen, bewog sie den Postschiffer, mit in ihr Haus zu gehen. Sie suchte die Kognakflasche, und weil sie Ketel Klähn in sicherer Entfernung wußte, machte sie den Schiffer gesprächig.

Der zwinkerte mit den Augen und sprach leise: »Sikke Klähn, ein Brief ist da – vom Kaiser oder wenigstens im Auftrag des Kaisers!«

Die Kognakflasche zitterte in Frau Sikkes Hand. Sie setzte sich erstaunt auf den Stuhl: »An Ketel Klähn?«

»Natürlich! Du, hat denn Ketel Klähn an den Kaiser geschrieben?«

Da fiel es Frau Sikke wie Schuppen von den Augen ...

»Ketel Klähn kann heut und morgen nicht nach Klähns-Hallig,« sagte sie. »Aber wenn Du morgen früh an Habel vorbeisegeln wolltest – ginge das nicht?« und sie goß das Kelchglas wieder voll.

Der Schiffer pendelte mit dem Kopfe.

Aber Frau Sikke setzte all ihre Beredsamkeit ein und nahm ihm das Versprechen ab, daß er sie morgen früh holen wolle. Dann ging er zu dem Boot und fuhr davon.

Da rückte Sikke Klähn den blauen Zeiger des Wetterglases, mit dem Ketel Klähn seinem Gedächtnis zu Hilfe kam und den er jeden Tag sorgsam auf den Rand des Quecksilbers einstellte, um zwei Zentimeter hinauf. Ihr Plan war fertig; sie nahm die Harke über die Schulter und ging hinaus ins Heu.

Auf dem Wege dachte sie: wenn Ketel Klähn mit dem Pastor über den Brief redet, erfährt sie ihr tag nicht, was Ketel Klähn die Jahre her heimlich vor ihr verborgen hatte. Jetzt war sie dem Geheimnis hart auf der Spur, und diesmal sollte sie nicht darum betrogen werden, dafür wollte sie schon sorgen.

»Klähn,« sagte sie, »das Wetter wird sich ändern. Das Glas fällt!«

Ketel Klähn guckte den Himmel ab und suchte in dem Dunst über der See.

»Klähn, da wirst Du wohl morgen mähen müssen, hörst Du!«

Wenn das Glas fällt, muß Ketel morgen früh wahrhaftig mähen! Ob der Arbeiter auch helfen wolle? fragte er. Ja.

Ganz früh stand Ketel Klähn schon auf dem Vorlande: im Tau ist leichter schneiden. An seiner Stelle machte sich Sikke Klähn für die Kirchfahrt zurecht.

Ferne sah sie den Alten im Grase stehen.

»Was das Glas nur will?« sagte er zu dem Arbeiter. Es war ein Tau, so rein und reich, daß er über den Sensenblättern klang wie feines Glas.

Sikke Klähn trieb im Boote des Postschiffers an Klähns-Hallig an. Aber wie klug sie auch zuwege ging, sie konnte von niemand etwas über den Brief erfahren und kam Ketels Geheimnis nicht näher. Sie wußten augenscheinlich nichts von dem Briefe.

Nun saß sie auf der Bank in der Kirche; aber ihre Gedanken flogen aus dem kleinen Gotteshause hinaus. Da hörte sie den Pastor reden und predigen über Joh. 14, 6: Ich bin die Wahrheit – Christus die Wahrheit!

Frau Sikke schien's, als hätte er die Predigt heute just für sie aufgeschrieben; sie rückte unruhig auf ihrem Kirchensitz hin und her. Ihr war, als suche der Pastor ihre Augen, und sie hörte: »Er hat nicht ein so zerrissenes Wesen wie die andern oder auch wie du! Er wandelt seine Steige ohne verfängliche Nebenwünsche – wie du? Er ist ohne Selbstsucht – wie du?«

Frau Sikke schlug die Augen nieder: dieses »wie du« schlug ihr ans Herz, es leuchtete in sie hinein bis in die Winkel ihrer Seele ...

»Christus ist durchsichtig wie das klare Glas Veneziens, er ist hell wie das strahlende Licht des Frühlings – und du? ...«

So hatte sich Frau Sikke noch nie gequält, und ihr ward angst, wenn sie dachte, sie wolle hernach mit dem Pastor reden.

Endlich war der Gottesdienst zu Ende, und nun saß sie auf dem Sofa im Pastorat und log: Ketel Klähn habe sie geschickt, damit sie ihm die Botschaft hinüberbringe, die er nicht selber holen könne; denn Ketel sei schon seit Tagen nicht wohl. – Nun ist ja die Predigt vorbei – nun kann sie der Pastor nicht mehr fragen »und du«!«

Da erzählte er ihr von dem Briefe, den Ketel an den Kaiser geschrieben habe. Sie wisse davon, sagte Frau Sikke, und so stahl sie sich in Ketel Klähns Geheimnis.

Der Pastor trug eine Menge Papiere heran und nahm einen großen Bogen, der der Länge nach vierfach gebrochen war. Den reichte er Silke Klähn hinüber: »Kennt Sikke Klähn den Brief?«

Die Frau nickte. Und nun las ihr der Pastor vor, was Ketel Klähn geschrieben hatte:

Allerdurchlauchtigster, großmächtigster Kaiser und König, allergnädigster Kaiser, König und Herr!

Indem Eure Kaiserliche und Königliche Majestät in den Tagen nach Empfang dieses Briefes wahrscheinlich Ihren Geburtstag feiern werden, wünsche ich zu diesem Tage viel Gesundheit Segen und Weisheit, desselbigengleichen alles auch Ihrer Majestät, der Frau Kaiserin, und bitte Gott, daß er Kaiserliche Majestäten erhalten wolle zum Segen des deutschen Landes. Und nun wollte ich auch gern etwas haben. Das Meer spült meine kleine Hallig weg, und sie nimmt von Jahr zu Jahr mehr ab. Und wir haben zwölfhundert Mark Schulden und können keinen Dienstboten halten, brauchten aber einen, denn wir sind alt. In der Hauptsache aber wird das kleine Halligland weggespült, weil keine Beamten rübergeschickt werden, die etwas davon verstehen. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so wollte ich das schon fertig bringen. Aber ich bin auch alt und es geht nicht. Und so wollte ich bitten, daß mir Eure Kaiserliche Majestät die kleine Hallig abkaufen, aber nicht zu wenig, indem ich es nötig habe.

Hallig Habel. Ketel Klähn.

»Vortrefflich ist nur die Anrede,« meinte der Pastor und lächelte.

»Ja,« sagte Frau Sikke würdevoll, »die hat Ketel aus einem Buch abgeschrieben. Bei Lehrer Kastens auf Nordmarsch steht das so in einem Briefsteller.«

Das erklärte Frau Sikkes Scharfsinn ihr in einem Augenblick; aber sie wunderte sich, daß der Pastor ein wenig hochmütig dreinschaute und gar nicht mit dem Brief Ketels an den Kaiser einverstanden sei.

Darum sagte sie auch: »Der gerade Weg ist doch immer der beste, Pastor!«

Der zuckte lächelnd die Achseln: »Ich soll nun Bericht erstatten, wie die Sache eigentlich um Ketel Klähn steht. Der Vorschlag Klähns – das soll er nur wissen – ist von Grund aus töricht und einfältig –«

Da fiel Frau Sikke dem Pastor in die Rede: »Es wäre aber das beste.«

»Und Sikke Klähn soll auch wissen,« fuhr der Pastor fort, »daß ich Ketel Klähns Plan gar nicht befürworten kann. Was in meiner Macht liegt, soll aber geschehen: ich will ein gutes Wort um eine Unterstützung für Euch einlegen. Versteht das Sikke Klähn?«

»Woll, woll, Pastor ...«

Sie bewegte die Lippen ...

»Na,« fragte der Pastor lächelnd, »was will denn Sikke Klähn noch?«

»Dann aber ein bißchen große Zahlen schreiben, Pastor!«


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